Macht uns die Krise zu besseren Menschen?
Bei Katastrophen können wir zeigen, was wirklich in uns steckt. Wie retten wir das Gute in den Alltag danach?
Fühlst du dich gerade manchmal wie im Film? Überprüfen wir diese Aussage einmal. Katastrophenfilme folgen meist einer simplen Dramaturgie: Das Unheil entfaltet sich vor aller Augen – ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch, eine Pandemie. Unsicherheit und Angst machen sich breit. Menschen gönnen einander nichts mehr. Und am Ende heißt es meist: Die Starken und Guten überleben, während alle anderen panisch in ihren Untergang rennen.
In diesem Film leben wir heute zum Glück nicht. Denn statt mit Panik und Rücksichtslosigkeit reagieren die meisten Menschen auf die aktuelle weltweite Krise mit Solidarität und Hilfsbereitschaft. Egal wo wir hinschauen, sehen wir ähnliche Bilder:
Dass Hilfsbereitschaft und
Macht uns die Krise zu besseren Menschen? Und wenn ja: Was bleibt davon übrig, wenn wir wieder zum Alltag übergehen?
Die Katastrophe als Hintertür
Die Britin Jamie Aldridge ist 13 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und der Tante Weihnachten auf Sri Lanka verbringt. Am Morgen fährt die Familie mit einem Fischer zum Schnorcheln hinaus aufs Meer. So entkommen sie der ersten meterhohen Welle des Tsunamis, der am 26. Dezember 2004 mit voller Wucht auf die Küsten des Indischen Ozeans prallt und Hunderttausende Menschenleben kosten wird.
Leblose Körper im Wasser
Als das Boot nach ein paar Stunden in den Hafen zurückkehrt, treiben Fernseher, Tische und andere Haushaltsgegenstände vorbei – Jamie Aldridge entdeckt auch leblose Körper im Wasser. Als sie anlegen, rennt die Familie auf die Hauptstraße – Jamie mit nackten Füßen. Ein Mann stoppt sie und gibt ihr seine Schuhe. Andere Einheimische bitten die verstörte Familie in ihr Haus. Doch gerade als sie sich hinsetzen und ausruhen wollen, schiebt sich die nächste Welle an Land. Die Helfer:innen handeln schnell und weisen der Familie den Weg in die Berge – und in Sicherheit.
Das gewaltige Unterwasserbeben, das den Tsunami am zweiten Weihnachtstag vor 16 Jahren auslöste, gehört zu den größten Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts. Und es finden sich viele
So schrecklich ein Desaster auch ist, manchmal öffnet sich dadurch eine Hintertür zum Paradies. In dem wir die sind, die wir schon immer sein wollten, die Arbeit leisten, die wir schon immer leisten wollten, und für unsere Schwestern und Brüder da sind.
Bei Katastrophen tendieren wir dazu, erst einmal nur das Grausame, das Verheeren zu sehen. Aber wir stehen auch an einem Scheideweg: Hinter uns liegt die vermeintliche Normalität. Vor uns schlängeln sich
Rebecca Solnit begreift das als Chance: Denn bei und nach Katastrophen können wir erleben, wer wir wirklich sein möchten. Wann immer wir helfen wollten – jetzt können wir helfen. Wenn wir schon immer mutiger sein wollten, können wir jetzt Stärke beweisen, die nicht nur uns selbst voranbringt.
Nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean erreichte die staatliche Hilfe nicht sofort alle Orte. Deshalb nahmen es Überlebende in den ersten Tagen selbst in die Hand, anderen zu helfen. Wenige Stunden nach der Katastrophe, so berichteten Tourist:innen auf Sri Lanka, wurde in buddhistischen Tempeln Essen ausgeteilt.
Gesellschaften scheinen bei Desastern solidarischer zu funktionieren
Ähnliche Formen der Solidarität sieht Solnit nach Naturkatastrophen in der Industrienation USA, auf die sie sich in ihrem Buch konzentriert. Doch egal ob dort oder woanders, Gesellschaften scheinen bei Desastern solidarischer zu funktionieren. Das spüren wir auch jetzt in der Coronakrise. Um andere zu schützen, bleiben wir zu Hause, halten Abstand und bieten Unterstützung an. Nicht nur weil es verordnet ist, sondern weil wir ernsthaft helfen wollen.
Es sind Zeiten wie diese, in denen wir merken, wie vernetzt wir Menschen eigentlich sind. Dass das Überleben längst nicht nur von einem selbst abhängt. Wir erfahren eine neue Dimension des einander Brauchens.
Vor allem in Ländern wie Deutschland, in denen viele Menschen in Wohlstand leben, scheint es, als könnten wir uns an der aktuellen Hilfsbereitschaft gar nicht sattsehen. Weil sie für uns so fremd geworden ist?
Solnit schreibt dazu: »Die positiven Emotionen, die in solch aussichtslosen Situationen zum Vorschein kommen, zeigen, dass wir uns nach sozialen Verbindungen und sinnvoller Arbeit sehnen. […] Das System unserer Wirtschaft und Gesellschaft verhindert es jedoch, dieses Ziel zu erreichen.«
Was die Philosophin in der Krise beobachtet, ist die ungeahnte Fähigkeit von Gesellschaften, Hilfen dezentral zu organisieren. Es braucht Essen, also werden Suppenküchen eingerichtet wie nach dem Erdbeben in San Francisco im Jahr 1906. Es braucht Unterkünfte, also öffnen Menschen ihre Häuser oder bauen Lager, um anderen ein Dach über den Kopf zu geben.
Mit Blick auf diese Beispiele lehrt uns diese Krise 2 wichtige Dinge:
- Eine andere Gesellschaft ist möglich.
- Menschen sind nicht das Problem.
Das wahre Problem sieht Rebecca Solnit in etablierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen, die Egoismus sowie Individualismus bestärken und mehr noch, auf dem Prinzip der persönlichen Bereicherung aufbauen. Damit beschreibt sie die Welt, in der wir leben.
Es war kein Zufall, dass in den ersten Wochen des Kontaktverbots in Europa ausgerechnet
Der Film zeigt nicht, dass der Mensch im Grunde schlecht ist – er zeigt, dass ein System ihn dazu erzieht.
»Krise nach der Krise«
Wenn das so ist – was ist mit den Berichten über Hamsterkäufe und von Personen, die andere anhusten und behaupten, mit Corona infiziert zu sein? Solnit nennt diese Wahrnehmung des Schlechten die »Krise nach der Krise«.
Manchmal können Schreckensmeldungen sogar Menschenleben kosten. Solnit beschreibt in ihrem Buch, wie Gerüchte über Morde nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans die Runde machten – viele davon waren nicht wahr.
Was bleibt
Macht uns die Krise also zu besseren Menschen oder nicht?
Vielleicht ist die geeignetere Frage an dieser Stelle: Wie gestalten wir solidarischere Systeme, die das Beste im Menschen zum Vorschein bringen – auch über die Krisensolidarität hinaus?
Die im Jahr 2012 verstorbene Politologin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat ihr berufliches Leben der Suche nach einer Antwort gewidmet.
Wir müssen alle umdenken und aktiv werden, wenn wir eine starke solidarische Gesellschaft schaffen wollen. Denn Hilfsbereitschaft überlassen wir sonst dem Staat. Dann darf sich aber auch niemand wundern, wenn dieser die Bedingungen – und die Grenzen – festlegt. Wo diese Hilfsbereitschaft an ihre Grenzen stößt, zeigt sich aktuell im Streit über die Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager sowie in der Entscheidung, Tausende Erntehelfer:innen trotz Infektionsgefahr nach Deutschland einzufliegen.
Eines ist aber vielleicht doch sicher – die Krise hat uns bereits viele Lektionen erteilt. Eine der simpelsten, aber effektivsten ist: Je mehr wir an das Wohl der anderen denken, umso mehr helfen wir uns allen.