Baue dir deine Zukunft selbst – mit diesen 4 Schritten!
Unsere Autorin hat den Lockdown in Italien erlebt. Hier ist ihre Anleitung zur Do-it-yourself-Utopie aus der Quarantäne.
Am Mittwoch, dem 11. März 2020, verkündet der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte den Lockdown für das ganze Land: die Sperrung aller Bars und Restaurants, die Schließung von Fabriken und Büros, die Ausgangssperre. Kurz: die Aussetzung des gesamten öffentlichen Lebens. Contes letzter Satz zur Notwendigkeit der Maßnahmen klingt noch lange in mir nach:
Der Kampf um die Zukunft
Die Zukunft ist ein stark umkämpftes Feld – oder vielmehr die Vorstellung von der Zukunft. Sie beeinflusst, welchen Lauf die Geschichte dann tatsächlich nimmt. So fanden Erfindungen aus Science-Fiction-Filmen schon ihren Weg in die
Der Kampf um die Vormacht der Zukunftsdeutung für die Zeit nach der Coronakrise ist längst in vollem Gange. Das Netz ist gefüllt mit Prophezeiungen und Voraussagen, wie es mit der Welt nach der Pandemie weitergeht.
Nur eine Krise – wirklich oder wahrgenommen – produziert echten Wandel. Wenn die Krise eintritt, hängen die Reaktionen darauf von den Ideen ab, die verfügbar sind.
Ich will
Du auch? Dann findest du im Folgenden eine Anleitung zur
In welcher Zukunft willst du leben? Eine Anleitung zur Do-it-yourself-Utopie
Ausprobiert habe ich das Ganze mit einer Gruppe von Freund:innen aus ganz Italien, von Mailand bis Palermo. Über die letzten 6 Wochen haben wir in mehrstündigen Skype-Gesprächen bei einem Glas Wein Utopien jongliert.
Und das war unser Fahrplan.
1. Los geht es: Im Hier und Jetzt
Wer Zukunft gestalten möchte, sollte mit der Gegenwart anfangen. Zuerst haben wir diskutiert, welche konkreten Veränderungen wir während der Quarantäne ausmachen.
Dazu eignen sich die folgenden Fragen, über die du nachdenken kannst, wenn du dich auch auf dem Weg in die Do-it-yourself-Utopie machen möchtest:
Ein Hilfsmittel, um den Blick auf die Gegenwart zu schärfen, ist das auf den Harvard-Professor Francis Aguilar zurückgehende STEEP- oder PESTEL-Modell. Die Buchstaben der Akronyme stehen für Social, Technological, Economic, Environmental, Political und Legal (auf Deutsch: sozial, technologisch, ökonomisch, auf die Umwelt bezogen, politisch und juristisch).
Knöpfe dir nun also eine der Veränderungen vor, die dir aus deiner Quarantänewarte aufgefallen ist, und betrachte sie nacheinander aus diesen verschiedenen Blickwinkeln.
In unserem Skype-Experiment haben wir uns über die Stille der italienischen
Als ich mit Freund:innen gesprochen habe, waren wir alle ziemlich besorgt, wie es mit den Populisten weitergeht. In Bezug […] darauf, wie diese Leute die Situation ausnutzen würden. Aber eigentlich passiert überhaupt nichts, zumindest noch nicht. Das überrascht mich.
Ökonomisch – aber auch in Bezug auf die Umwelt – hat sich in unserem Alltag vor allem das Einkaufen verändert. Wir entdecken die
Was ich auch bei anderen Freund:innen sehe […] ist, dass die Menschen heimeliger werden. Man fängt an, eine andere Beziehung zum Essen zu haben. Alle backen und kochen und kaufen nicht die Fertiggerichte, an die man sonst so gewöhnt ist, wenn man nur schnell im Supermarkt was holt. Jetzt gibt es hausgemachte Ravioli, alle backen Kuchen, ich habe gestern Muffins gemacht. Ich habe Brot gebacken. Ich habe noch nie Brot gebacken!
Ungläubig schauen wir dem Ölpreis beim Fallen zu und betroffen blicken wir auf gesellschaftliche Ungleichheiten, die jetzt brutal zum Ausdruck kommen: im Schulwesen, im Pflegesystem und den
Wohin führt uns all das? Das erforschen wir im nächsten Schritt auf dem Weg zur Do-it-yourself-Utopie.
2. Ab in die Zukunft: Utopien und Dystopien »extrapolieren«
Jetzt werden die beobachteten Veränderungen »extrapoliert«, das heißt über das momentane Faktenwissen hinaus weitergesponnen.
Die entscheidende Frage in diesem Schritt lautet: Was wäre, wenn die Zukunft so wird, wie du sie dir vorstellst?
Vielleicht hilft dir hier zunächst ein Abstecher in die Dystopie und du möchtest dich zuerst fragen: Was, wenn nur das Schlechteste bleibt – und nach der Krise vor der Krise ist?
Doch nun ab in die Utopie.
Beim Extrapolieren kannst du darüber nachdenken, wie genau die Welt aussehen könnte, in der die Probleme tatsächlich gelöst werden, die durch Corona ans Tageslicht kamen: zum Beispiel die
Was wäre also, wenn die positiven Veränderungen überdauern: der Gesang der Vögel in den autoberuhigten Städten, die Renaissance des Naherholungsurlaubs ohne Flugreisen, die Wertschätzung tiefer sozialer Beziehungen?
Hier sind noch mehr Fragen, die du in deinem Workshop für Do-it-yourself-Utopien diskutieren kannst:
In einem unserer Workshops hat sich unsere Skype-Gruppe das Thema »Konsum der Zukunft« vorgenommen.
Und das ist unsere Post-Corona-Utopie: An die Stelle des schnellen Konsums ist das Selbermachen getreten. Gemeinsam Kleidung nähen, Seife machen oder auch Programmieren bleiben soziale Ereignisse, die das Zusammenleben prägen. Komplexe Produkte, die wir nicht ohne Weiteres selbst herstellen können, werden nicht mehr in langen Produktions- und Lieferketten quer über den Erdball manövriert, sondern regional, aber dezentral und modular. Manchmal dauert dann vielleicht eine Lieferung länger, aber unsere so organisierten
Wie überzeugen wir die anderen von unserer Vision?
3. Genug geträumt: Utopien greifbar machen
Utopien reißen erst dann jemanden mit, wenn sie greifbar und erfahrbar werden. Das geht auf unterschiedliche Art und Weise. Du kannst sie entweder mit detailliertem Storytelling zum Leben erwecken oder in Form von
Oder du knüpfst einen Faden zwischen Utopie und Gegenwart, mithilfe des sogenannten
Wie machst du aus deiner Utopie eine Einladung für andere, dir dorthin zu folgen?
Dabei helfen dir vielleicht die folgenden Beispielfragen:
Eine gute Übung ist das Schreiben von Postkarten. Postkarten sind Kurzberichte von persönlichen Erfahrungen, die Freund:innen, Familie, Liebhaber:innen oder Bekannte an anderen Orten gemacht haben. Du kannst ihnen schreiben, was auf der Postkarte zu sehen ist, welche Sehenswürdigkeiten du schon besichtigt hast – und was dein persönliches Highlight war.
Doch das war es noch nicht. Der letzte Schritt auf dem Weg in die Do-it-yourself-Utopie ist besonders wichtig.
4. Die Dystopie liegt im Detail
Denn vielleicht gehst du davon aus, dass doch eigentlich Einigkeit über die groben Züge einer utopischen Zukunft herrschen sollte: eine gesunde Umwelt, niemand muss mehr hungern, jeder hat ein Recht auf sein persönliches Glück.
Sobald du aber beginnst, die Details deiner neuen Welt auszumalen, wirst du feststellen, dass es sehr wohl Gegenstimmen und andere Meinungen dazu gibt, was eigentlich wünschenswert ist und was nicht. Die Utopien der einen sind die Dystopien der anderen. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Zukunftswünsche formulieren.
Eine weitere Sache, die mir bei unseren Workshops gefallen hat, war, dass ich sehen konnte, wie wir unter verschiedenen Gesichtspunkten den gleichen Dingen Bedeutung beimessen. So hat jeder von uns ein Thema zur Sprache gebracht, das auch mir vorschwebte, aber aus einer anderen Perspektive. Und es wurden einige Wörter verwendet, um Dystopie zu definieren, die für mich manchmal gar nicht so dystopisch sind, und ich vermute mal, auch umgekehrt.
Selbst in dem kleinen Kreis aus Freund:innen beim Schmieden der Zukunft über Skype beschreibt der eine mit glänzenden Augen die neue spirituelle Community in selbstgenähten Hosen, während sich beim anderen ein Knoten im Magen bildet beim Gedanken an den New-Age-Hippie-Muff und ständige soziale Eingebundenheit.
Gut ist, dass wir uns nicht auf eine große Utopie einigen müssen. Dass die eine große Idee gefährlich werden kann, zeigen die totalitären Regime der Vergangenheit.
Um eine gute Zukunft für möglichst viele zu kreieren, sind 2 Eigenschaften wesentlich:
Deshalb brauchen wir viele Post-Pandemie-Zukünfte, viele Do-it-yourself-Utopien.
Wie sieht deine aus?
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily