Was ein gesundes Immunsystem wirklich ausmacht
Die Werbeindustrie will uns weismachen, wir müssten unser Immunsystem vor allem »stark« machen. Doch tatsächlich kommt es auf etwas ganz anderes an.
Es ist das Jahr 1971, als David Philipp Vetter mit einer seltenen genetischen Veränderung geboren wird. Ein schwerer erblicher Immundefekt, der seinen Körper jeglicher Abwehrkräfte beraubt. Um sein Leben zu retten, entscheiden sich die Mediziner:innen dafür, David der Außenwelt mit all ihren Viren und Bakterien
Die ersten Jahre seines Lebens verbringt der schwarzhaarige Junge deshalb in einer sterilen Isolationsblase aus Plastik, gerade mal 7 Quadratmeter groß. Nichts darf hinein, ohne vorher sterilisiert worden zu sein. Jedes noch so harmlose Bakterium, jedes Virus – sein Körper hätte ohne Immunsystem nichts dagegen auszurichten. Am Ende ist es David Vetters einziger Kontakt zur Außenwelt, der ihn das Leben kostet. Während einer Stammzelltransplantation, die ihn eigentlich retten soll, gelangt ein Virus in seinen Körper. Im Jahr 1984 stirbt der »Bubble-Boy«, wie er in den Medien genannt wird, in einem sterilen Zimmer –
Das Beispiel von David Vetter macht auf dramatische Weise deutlich, wie essenziell unser Immunsystem für unser Überleben ist. Es hält jene Bedrohungen von uns Menschen fern, die so winzig klein sind, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Rund um die Uhr ist unser Körper damit beschäftigt, mikroskopisch kleine Krankheitserreger in Form von Viren, Bakterien und Pilzen auszuschalten, bevor sie uns schaden.
Es ist also nicht unberechtigt, dass unserem Immunsystem dieser Tage ungewohnte Aufmerksamkeit zuteilwird – in den letzten Monaten verzeichnete etwa Google ein enormes Interesse an der Suchanfrage »Immunsystem stärken«.
Das wachsende Interesse am starken Immunsystem dürfte besonders Anbieter von Vitaminpräparaten und
Höchste Zeit, darüber zu sprechen, was uns wirklich hilft, gesund zu bleiben! Denn gut auf unser Immunsystem zu achten ist nicht nur vor dem Hintergrund einer Pandemie hilfreich.
Bevor es darum geht,
Ein großes Missverständnis: Das angeblich »starke« Immunsystem
Das Bild vom »starken Immunsystem« wird von der Werbeindustrie gern genutzt. Da werden Eindringlinge bekämpft und die Abwehrkräfte gestärkt. »Das ist ein Konzept, das sich leicht einprägt: Ich muss kämpfen, um mein Immunsystem zu stärken. Aber das stimmt nicht ganz«, sagt Eva Peters.
Zunächst einmal ist ein Immunsystem vor allem gesund oder krank. Wenn es wie bei David Vetter durch einen Gendefekt außer Funktion gesetzt ist oder eine andere Krankheit unsere körpereigene Abwehr lahmlegt, können wir kaum selbst dafür sorgen, dass unsere Abwehr wieder funktioniert.
Das Immunsystem ist nicht generell »stark« oder »schwach«
Aber auch abseits schwerer Krankheiten ist unser Immunsystem nicht generell »stark« oder »schwach«, sondern passt sich der Umwelt an, in der wir leben. Weil diese Umwelt anders aussieht, je nach Umfeld, in dem wir uns bewegen, ist auch jedes Immunsystem höchst individuell.
Doch was entscheidet nun, wie zuverlässig uns dieses System vor Krankheiten schützt?
Tatsächlich haben Forscher unser Immunsystem noch immer nicht bis ins kleinste Detail verstanden. Über die Jahre haben sie jedoch herausgefunden: Wie gut uns unser Immunsystem schützt, hängt maßgeblich von einem Gleichgewicht innerhalb dieses Systems ab. Im Grunde gibt es das »eine Immunsystem« nämlich ebenso wenig wie das »starke Immunsystem«. Stattdessen setzt es sich aus 2 Teilen zusammen, die uns in enger Zusammenarbeit vor Krankheiten schützen – dem »angeborenen« und dem »erworbenen Immunsystem«:
- Das »angeborene Immunsystem« begleitet uns, wie der Name verrät, schon seit unserer Geburt. Es ist darauf eingestellt, schädliche Bakterien und Viren schnell zu erkennen und unschädlich zu machen. Dieses Immunsystem wird auch »unspezifisches« Immunsystem genannt, weil es mit allen Erregern in etwa auf die gleiche Weise verfährt. Zu diesem angeborenen Immunsystem zählt zunächst einmal der physische Schutz durch Haut und Schleimhäute – es ist die erste Barriere, die Krankheitserreger aufhält. Treffen Erreger, Keime oder Mikroben auf einen dieser Schutzwälle – etwa durch ein Händeschütteln, beim Einatmen oder über die Nahrung –, verhindern Säuren, Enzyme oder Schleim, dass Erreger weiter in den Körper vordringen können. Gelingt es einem Erreger doch irgendwie, diese erste Barriere zu überwinden, kommen Abwehrzellen und Eiweiße zum Einsatz.
- Das »erworbene Immunsystem« kommt dann ins Spiel, wenn das angeborene Immunsystem mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, nichts gegen den Eindringling ausrichten kann. Es wird im Laufe unseres Lebens immer weiter ausgebildet, je nach Erregern, denen wir begegnen, und geht gezielter gegen diese vor als das angeborene Immunsystem. Für dieses gezielte Vorgehen muss es zunächst erkennen, um welche Art von Erreger es sich handelt – das dauert länger als die generelle Antwort des angeborenen Immunsystems. Der Vorteil: Dieses Immunsystem hat eine Art Gedächtnis, mit dessen Hilfe es sich an Viren und Bakterien erinnert, die unser Körper in der Vergangenheit schon bekämpft hat. Trifft unser Körper erneut auf diese Erreger, hat das erworbene Immunsystem die Antwort schnell parat. Dieses Immunsystem ist auch dafür verantwortlich,
Damit unser Immunsystem sowohl auf neue als auch auf altbekannte Erreger vorbereitet ist, müssen diese beiden Teile des Immunsystems im Gleichgewicht sein, sagt Peters. »Bei älteren Menschen verschiebt sich das Gleichgewicht oft etwas in Richtung erworbenes Immunsystem«, sagt die Immunologin. Für den Körper ist dieses Vorgehen effizient, denn er passt sich so an die ihm bekannte Umgebung an. Auf unbekannte Erreger – wie das neue Coronavirus – ist das etwas aus dem Gleichgewicht geratene Immunsystem dadurch allerdings weniger gut vorbereitet. Hier können wir ansetzen, um unser Immunsystem etwas zu unterstützen.
Wir müssen unser Immunsystem nicht »aktiver« machen
Wäre unser Immunsystem zu aktiv, wäre das übrigens auch nicht gut: Ein überaktives Immunsystem kann etwa ein Auslöser für
Woran es liegt, dass das Immunsystem manchmal übermäßig aktiv ist, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden. Wahrscheinlich ist ein komplexes Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren schuld daran.
Verabschieden wir uns also von der Frage, wie wir unser Immunsystem »stärker« und »aktiver« machen können, und kommen der Frage näher, die wir wirklich stellen sollten: Was hilft unserem Immunsystem dabei, gesund zu bleiben?
Forscher:innen wissen mittlerweile ziemlich gut, was unserem Immunsystem schadet. Sie sind sicher, dass die beste Strategie, es in seiner Funktion zu unterstützen, darauf beruht, das zu vermeiden, was es krank macht. Hilfreich ist demnach Folgendes:
Ausreichend Schlaf: Dass Schlafentzug Krankheiten begünstigen kann, sind sich Wissenschaftler:innen einig. Gezeigt wurde das unter anderem in einer Studie, in der Forscher:innen untersuchten, wie leicht sich 164 Freiwillige mit Erkältungsviren infizierten.
Andere Experimente zeigten zudem, dass Schlafmangel die Funktion der
Doch wie viel Schlaf ist gesund?
Du willst mehr darüber wissen, wie du lernst, endlich wieder gut zu schlafen? Dann hilft dir dieser Text von Dirk Walbrühl und Katharina Lüth:
Die richtige Ernährung: Ernährung beeinflusst unsere Gesundheit maßgeblich, denn sie entscheidet unter anderem darüber, wie es dem Mikrobiom unseres Darms geht – mit 400–500 Quadratmetern Oberfläche ist er das größte Immunorgan unseres Körpers.
Wie genau das Mikrobiom die Funktion unseres Immunsystems beeinflusst, ist zwar noch nicht geklärt, allerdings gibt es Hinweise darauf, dass eine
Laut Peters gibt es zudem die Hypothese, dass Ernährung und unser Immunsystem auf eine weitere Weise verbunden sind: »Unsere Immunantwort hängt auch von den Jahreszeiten ab: Früher waren Menschen im Sommer viel unterwegs, trafen dementsprechend auf viele neue Reize – die angeborene Immunantwort wurde stärker«, erklärt die Immunologin. Im Winter seien die Menschen dagegen eher wenig draußen unterwegs gewesen und hielten sich eher in der gewohnten Umgebung auf: Hier sei die erlernte Immunantwort wichtiger für den Körper gewesen.
Frisches Obst und Gemüse seien ein Zeichen dafür, dass Sommer sei und unser Körper stärker auf das angeborene Immunsystem angewiesen sei. Viele Kohlenhydrate, etwa in Form von Kartoffeln, deuteten auf Lebensmittel hin, die sich gut lagern lassen: ein Zeichen für Winter. In dieser Jahreszeit stelle sich das Immunsystem eher auf Bekanntes ein.
Heute können wir unsere Ernährung unabhängig von Jahreszeiten ausgewogen gestalten. Und die meisten Wissenschaftler:innen sind sich mittlerweile darin einig, dass für eine gesunde Ernährung
Ein einzelnes Mittel ist nie die Lösung aller Probleme
Nahrungsergänzungsmittel sind übrigens meist nicht nötig, um ausgewogen mit Nährstoffen versorgt zu sein. Wer Zweifel hat, ob ihm etwas fehlt, kann ausgebildete Ernährungsberater:innen oder Ärzt:innen um Rat fragen – die können dann gegebenenfalls auch das Blut untersuchen lassen, um Mangelerscheinungen festzustellen. »Skeptisch sollte man immer dann werden, wenn ein einzelnes Mittel verspricht, alle Probleme zu lösen«, rät Peters.
Stress abbauen: Als Psychoneuroimmunologin beschäftigt sich Peters vor allem mit dem Zusammenhang von Psyche und Immunreaktion – und dieser ist auf den ersten Blick etwas paradox. Denn mittlerweile wissen Forscher:innen, dass akuter Stress unsere Immunantwort sogar stimulieren kann. Auch das liegt wahrscheinlich in der Evolution begründet: Bedroht uns ein Raubtier, ist es für unseren Körper sinnvoll, sich auf neue Keime vorzubereiten, die beispielsweise bei einem Biss in den Körper gelangen können. Hier spielt die angeborene Immunität eine wichtige Rolle.
Dauerstress überlastet das Immunsystem
Hält der Stress dagegen lang an, überlastet das unser Immunsystem irgendwann – und es funktioniert nicht mehr richtig. Deshalb hängen Stress und chronische Krankheiten auch eng zusammen. »Es gibt verschiedene Dinge, die uns dabei helfen können, zu entspannen«, sagt Peters. Helfen kann es beispielsweise, gemeinsam mit Freunden zu spielen oder Sport zu treiben.
Klar ist aber auch, dass die Selbstwirksamkeit ihre Grenzen hat. Um manche Stressauslöser zu bekämpfen, muss sich beispielsweise das Arbeitsumfeld ändern.
Wer die Schuld allein bei sich sucht und dabei nicht weiterkommt, kann damit zusätzlichen Stress erzeugen – ein Teufelskreis, mit dem unserem Körper sicher nicht geholfen ist. Wer allein nicht weiterkommt, kann sich deshalb auch professionelle Hilfe suchen, der Hausarzt oder die Hausärztin kann hier eine erste Ansprechperson sein.
Du willst mehr zu dem Thema erfahren? Dann lies hier weiter, was gegen Stress hilft, der krank macht:
Rausgehen, schmutzig machen! Gerade wenn es um die Abwehr von Krankheitserregern geht, die unser Körper noch nicht kennt, kommt unserem angeborenen Immunsystem eine wichtige Rolle zu. Je älter wir werden, desto schlechter kann unser Immunsystem auf solche neuen Reize reagieren. »Wir halten uns in der Regel in der gleichen Umgebung auf, die Keime bleiben gleich, die Umwelt bleibt gleich«, sagt die Immunologin Peters. Dementsprechend sei es für unseren Körper effizient, sich auf diese Umgebung einzustellen.
Je weniger neue äußere Reize auf uns einprasseln, desto mehr verschiebt sich unser Immunsystem in Richtung »erworbene Immunantwort«. Indem wir unseren Körper neuen Reizen aussetzen, etwa beim Spazierengehen, desto mehr aktivieren wir auch unser angeborenes Immunsystem.
Und auch wenn während der Pandemie regelmäßiges Händewaschen und sogar Desinfektionsmittel angeraten werden, ist es nicht gesund, es mit dem Waschen zu übertreiben. Denn neben den schädlichen Krankheitserregern bevölkern auch Milliarden »gute« Mikroorganismen unsere Haut, denen Seife und Desinfektion schaden können.
Sie helfen dabei, das leicht saure Milieu unserer Haut aufrechtzuerhalten – ein elementarer Teil des körpereigenen Infektionsschutzes. Mikroben spielen außerdem eine Rolle bei der Ausbildung des Immunsystems, deshalb sind Keime gerade für Kinder wichtig.
In Bewegung bleiben!
Vorsicht ist bei intensiverer Belastung geboten: Es gibt Hinweise darauf, dass manche Infektionskrankheiten Leistungssportler häufiger treffen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Immunsystem während der Belastung aktiver ist, dafür aber nach der Anstrengung unter die Ausgangsaktivität sinkt. Krankheitserreger haben es deshalb direkt nach dem Sport leichter.
Und wie schafft man es, das alles umzusetzen?
»Wichtig ist es, klein anzufangen«, sagt Peters. Sie rät,
Würdest du gern mehr darüber lesen, wie du dein Verhalten ändern kannst? Dann klicke hier, um etwas über die Idee des »Self-Nudging« zu erfahren!
Eine weitere Möglichkeit, sein Verhalten bewusst zu verändern, haben kürzlich Forscher:innen des »Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung« in den Fokus gerückt – das sogenannte »Self-Nudging«.
Um das Prinzip anzuwenden, müssen wir zunächst verstehen, wie unsere Umgebung unsere Entscheidungen beeinflusst – dass uns zum Beispiel Push-Nachrichten auf dem Handy dazu bringen, eine App zu öffnen, obwohl wir das nicht wollen, oder dass der momentane zu süße oder zu fette Inhalt des eigenen Kühlschranks uns die gesunde Ernährung schwermacht. Haben wir das erkannt, können wir unsere Umgebung so ändern, dass es uns leichter fällt, unser Verhalten zu ändern. Dabei haben die Forscher:innen 4 zentrale Strategien identifiziert:
- Erinnerungen und Hinweise für sich selbst platzieren: zum Beispiel Jogging-Schuhe vor das Bett stellen.
- Entscheidungen einen anderen Rahmen geben, sie anders »framen«: Beispielsweise können wir die Entscheidung zwischen Spazierengehen oder Nicht-Spazierengehen nicht bloß als notwendiges Übel, sondern als eine Entscheidung bewerten, bewusst etwas für unser Immunsystem zu tun – oder eben nicht.
- Das schwer machen, was wir vermeiden wollen: zum Beispiel die Voreinstellungen in elektronischen Geräten ändern und Benachrichtigungen von Social-Media-Apps ausschalten, um uns nicht unnötig stressen zu lassen.
- Druck und Selbstverpflichtung mittels sozialer Verträge aufbauen, indem man sich zum Beispiel mit Freund:innen auf einen »Wetteinsatz« einigt, für den Fall, dass man sich nicht an seine guten Vorsätze hält.
Zusätzlich können wir uns in Erinnerung rufen, dass schon kleine Verhaltensänderungen dem System etwas Gutes tun können, das es uns ermöglicht, unser Leben in einer Umwelt zu verbringen, die alles andere als eine sterile Plastikblase ist.
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily