Warum sich Menschen gerade jetzt in Verschwörungen flüchten – und wie wir sie da wieder rausholen
5G, Zwangsimpfungen und Mikrochips von Bill Gates: Die Politikwissenschaftlerin Katharina Nocun erklärt, woher Verschwörungstheorien kommen und wie wir mit Menschen umgehen, die ihnen zum Opfer gefallen sind.
Wenige Wochen bevor der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch des neuartigen Coronavirus zur Pandemie erklärt, bereits vor einer anderen, ebenso rasanten wie gefährlichen Ausbreitung: Wir hätten es mit einer »Infodemie« zu tun.
Wenige Wochen später gehen in Deutschland Zehntausende Menschen auf die Straße, um gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu demonstrieren. Längst sind unzählige Gerüchte im Umlauf: über eine vermeintlich bevorstehende Zwangsimpfung, über ein in Laboren gezüchtetes Virus und über einen Mikrochip, den Bill und Melinda Gates, als Financiers der WHO, den Menschen einpflanzen wollen, um die totale Kontrolle zu erlangen. Und das sind nur einige Beispiele.
Wir neigen dazu, bei großen Ereignissen davon auszugehen, dass eine große Ursache dahinterstecke, sagt die Politikwissenschaftlerin und Netzaktivistin Katharina Nocun. Gemeinsam mit der Psychologin Pia Lamberty hat sie gerade das Buch Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen veröffentlicht. Im Interview erklärt Katharina Nocun, warum die Verbreitung von Verschwörungstheorien so gefährlich ist und wie wir solchen Erzählungen am besten begegnen können.
Über das Coronavirus kursieren viele Verschwörungstheorien. Eine davon ist, Zählt man schon zu den Verschwörungsgläubigen, wenn man eine solche Erklärung plausibel findet?
Katharina Nocun:
Der Begriff der Verschwörungserzählung sagt erst einmal nichts über den Wahrheitsbegriff aus. Er bezieht sich nur auf eine bestimmte Struktur einer Erzählung: Da ist eine Annahme, dass als mächtig wahrgenommene Menschen oder Gruppen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen, um der Bevölkerung gezielt zu schaden. Und das im Geheimen. Ob die Annahme jetzt wahr ist oder nicht, darüber trifft man keine Aussage, indem man etwas als Verschwörungserzählung bezeichnet. Wobei man sagen muss, dass das, was wir in der Regel darunter verstehen, meistens nicht wahr sein kann.
Damit sprechen Sie bereits Gemeinsamkeiten solcher Erzählungen an: Es gebe Gruppen, die im Geheimen wichtige Ereignisse lenken und der Bevölkerung schaden wollen. Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien?
Katharina Nocun:
Es gab schon immer Berührungspunkte zwischen einzelnen Gruppen und einzelnen Erzählungen. Man muss sich das so wie einen großen Lego-Baukasten vorstellen, und gewisse Steine sind eben gleich. Bestimmte Erzählungen teilen sich das Fundament mit anderen. Man kann da ebenso flexibel Steine andocken oder wegnehmen.
Haben Sie ein Beispiel?
Katharina Nocun:
Nehmen wir einmal das Beispiel der Da glauben Menschen, dass man durch 5G-Strahlung krank oder sogar gesteuert wird. Aber was impliziert so ein Glaube? Eine Voraussetzung wäre, dass die Wissenschaft Teil der angeblichen Verschwörung sein muss, ebenso die Politik. Wahrscheinlich ebenso die Medien, weil man ja nichts darüber liest. Das heißt, es gibt angeblich eine Verschwörung, die weite Teile der Gesellschaft kontrolliert. Diese Grundannahme, dass mächtige Institutionen Teil einer Verschwörung sind, wird von unterschiedlichen Erzählungen geteilt. Auch wenn die einzelnen Gruppen daraus jeweils andere Schlüsse ableiten.
Lassen sich diese gemeinsamen Bauteile bei den Verschwörungserzählungen rund um die Coronapandemie wiederfinden?
Katharina Nocun:
Ja. Man kann allerdings sehen, wie die Behauptung einer angeblichen Coronaverschwörung an sehr unterschiedliche bestehende Verschwörungserzählungen angedockt wurde. Da gibt es Menschen, die Angst vor Strahlung haben und glauben, die Krankheit Covid-19 würde durch Strahlung verursacht. Andere behaupten, die Krankheit gebe es nicht und die genesenen Menschen, die im Fernsehen zu sehen sind, seien alles bezahlte Schauspieler. Die Krankenhäuser seien eigentlich leer, heißt es da. Trotzdem – und das ist das Interessante – finden diese unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlichen Erzählungen zusammen und vereinen sich,
Wie ist das möglich?
Katharina Nocun:
Das ist möglich, weil sie gemeinsame Feindbilder haben. Der gemeinsame Feind ist die Politik, die als korrupt, als Teil einer Verschwörung dargestellt wird. Die Wirtschaft und die Medien sehen sie als Handlanger der Verschwörer an. Viele stellen sich auch gegen die Wissenschaft als solche, indem sie jegliche Forschung in diesem Bereich nicht anerkennen. Da ist die Annahme eben: »Die stecken alle unter einer Decke«. Das erklärt auch, warum es so schwer ist, Menschen, die da hineingeraten sind, mit wissenschaftlichen Studien oder mit Faktenchecks aus seriösen Zeitungen zu überzeugen. Oft geht der Glaube so weit, dass diese Stellen nicht mehr als vertrauenswürdig angesehen werden. Das heißt, man hat gar kein gemeinsames Fundament mehr, um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Warum ist das gefährlich? Wenn diese Leute kaum mehr für einen Austausch offen sind, könnte man sie dann nicht einfach ignorieren?
Katharina Nocun:
Wir sehen Verschwörungserzählungen und -mythen ganz klar als Radikalisierungsbeschleuniger. Einzelne Gruppen verwenden diese Struktur von Narrativen dazu, um sich von Kritik abzuschotten und ihre Mitglieder auf Linie zu halten. Ich mache das mal plastisch an einem Beispiel. Ich kann meinen Mitgliedern erzählen: »Alle Medien sind Teil der sogenannten Systempresse, glaubt ihnen nicht, egal was sie über uns schreiben«. Auf diese Weise ist es sehr einfach, Kritik von außen abzubügeln, weil man seinen Mitgliedern ja sagen kann: »Glaubt nicht, was andere über uns schreiben, denn alle anderen sind Teil der Verschwörung«. Das schafft auch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Man ist Teil einer Gruppe, die sich als erleuchtet ansieht und alle anderen sind entweder »Schlafschafe« oder Teil der Verschwörung.
Welche Konsequenzen hat ein solches Bild von sich und von anderen?
Katharina Nocun:
Wenn man sagt, dass das politische System sowieso korrupt sei, folgt daraus, dass man seinen Mitgliedern kommuniziert: »Dann brauchst du auch nicht wählen zu gehen, weil Wahlen eh immer manipuliert sind.« Dann wird keine Option mehr gesehen, innerhalb des demokratischen Systems Veränderungen anzustoßen. Und das kann im Extremfall dazu führen, dass Gruppen sich irgendwann so weit radikalisieren, dass sie mithilfe dieses Narrativs Gewalt als vermeintlich letztes Mittel legitimieren.
Die rechtsextremen Attentäter der vergangenen Jahre, die wir in Europa, aber auch in den USA und haben zu weiten Teilen an Verschwörungserzählungen über eine angebliche Umvolkung oder an eine angebliche jüdische Weltverschwörung geglaubt und dies als Rechtfertigung für ihre Morde angeführt.
Es gibt aber sehr verschiedene Ausdrucksformen von Verschwörungsdenken. Gibt es eine Art Hierarchie von Verschwörungstheorien, in der es möglicherweise eine Einstiegsverschwörung gibt, bei der man die Leute noch mit Fakten erreichen kann?
Katharina Nocun:
In der Wissenschaft gibt es so eine Skala meines Wissens nicht. Man kann aber schon sagen, dass es eine Art Einstiegsdroge gibt: Im Gesundheitsbereich ist es oft so, dass Eltern, die sich beispielsweise über Impfungen informieren, dabei vielleicht auf Seiten stoßen, auf denen behauptet wird, es gebe große Risiken, die öffentlich nicht bekannt werden würden. Aber nicht jeder, der sich nicht impfen lassen will oder Impfungen grundsätzlich ablehnt, ist ein Verschwörungsgläubiger. Es gibt also Abstufungen.
Aber es gibt eben auch einen großen Anteil von Gruppen in dieser Szene, die Verschwörungsnarrative als Erklärungsmuster verwenden: Warum sind denn diese angeblichen Gefahren nicht in der Bevölkerung bekannt? Da ist man dann schnell bei einer großen Medienverschwörung, einer großen Wissenschaftsverschwörung oder bei einer Das ist dieser schmale Grat, der oftmals unmerklich überschritten wird.
Diese Narrative werden häufig in rechtsextremen Kreisen verwendet. Sind Verschwörungstheorien
Katharina Nocun:
Eine Abgrenzung zu rechtsextremen Milieus ist in diesen Gruppen nur in Ausnahmefällen zu beobachten. Viele sagen: »Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links. Wir sind einfach Freidenker«. Das kann aber dazu führen, dass rechtsextreme und rassistische Einstellungen in diesen Gruppen nicht nur toleriert, sondern auch weitergetragen werden. Oder dass rechtsextreme Gruppen in diesen Milieus ungestört für ihre menschenfeindliche Ideologie werben können.
Das heißt, wenn bei den Coronademonstrationen offen bekennende Rechtsextreme neben Menschen herumlaufen, die sich als ganz normale Bürger:innen bezeichnen, darf das nicht verwundern?
Katharina Nocun:
Uns hat es leider nicht verwundert, weil es schon immer Berührungspunkte zwischen den einzelnen Gruppen und Milieus gab. Die Gefahr ist, dass Menschen, die sich für eine bestimmte Verschwörungserzählung interessieren, dabei auf Seiten stoßen, die sich überhaupt nicht nach rechts abgrenzen, die sogar Rechtsextremisten eine Plattform bieten. Dadurch findet eine gewisse Normalisierung statt. Verschwörungserzählungen waren auch schon immer ein konstituierendes Element rechtsextremer Gruppen, das wichtig für ihr Selbstbild ist.
»Wir haben eine gewisse Neigung, an Verschwörungstheorien zu glauben«
Wenn wir einmal von der Seite der Verschwörungserzähler:innen auf die Seite der Verschwörungsgläubigen wechseln: Gibt es dort bestimmte Eigenschaften oder äußere Umstände, die ein solches Denken begünstigen können?
Katharina Nocun:
In der Wissenschaft lässt sich die sogenannte Verschwörungsmentalität messen. Mithilfe standardisierter Fragen wird dabei erfasst, wie hoch die individuelle Neigung ist, an Verschwörungstheorien zu glauben oder nicht. Das Interessante ist: Wir alle haben eine gewisse Neigung dazu. Wir wissen mittlerweile aus Studien, dass dieser Hang, ob wir entsprechende Erklärungsmuster glauben oder nicht, stark mit unserer Umgebung zusammenhängt. So wurde ermittelt, dass Menschen, die ein Gefühl von Kontrollverlust erleben, eher dazu neigen, an Verschwörungserzählungen zu glauben.
Was meinen Sie mit »Kontrollverlust«?
Katharina Nocun:
Ein Gefühl von Kontrollverlust kann beispielsweise durch den Verlust des Arbeitsplatzes, Krieg, einen Terroranschlag, schwierige wirtschaftliche Umstände oder auch eine Trennung ausgelöst werden. Gemeint sein kann aber auch eine Pandemie. Derzeit befinden wir uns in einer Situation, in der wir alle eine Art kollektiven Kontrollverlust erleben. Das führt dazu, dass viele Menschen sich unsicher fühlen. Der Glaube an Verschwörungserzählungen kann als Mechanismus verstanden werden, als Versuch, damit irgendwie umzugehen. Die meisten Verschwörungserzählungen transportieren ja nicht unbedingt ein rosiges Bild von der Welt. Trotz allem zeichnen sie aber ein klareres Bild. Es gibt eindeutige Schuldige. Es gibt eine packende Geschichte, wie Dinge zusammenhängen. Für einige Leute erscheint es erträglicher, an so etwas zu glauben, als sich mit Zufall und Chaos konfrontiert zu sehen.
Das heißt, eine gewisse Neigung, an Verschwörungserzählungen zu glauben, haben wir alle. Diese Verschwörungsmentalität ist aber bei manchen nur schwach und bei anderen besonders stark ausgeprägt. Welche Rolle spielen dabei Persönlichkeitsmerkmale?
Katharina Nocun:
In einigen Studien konnte festgestellt werden, dass manche Menschen ein instrumentelles Verhältnis zu Verschwörungserzählungen haben. Durch den Glauben an solche Geschichten fühlt man sich besonders. Sprich: Man selbst kennt die Wahrheit und der Rest der Menschen lässt sich belügen oder ist Teil der Verschwörung. Für einige Menschen ist es attraktiv, an eine solche Heldengeschichte zu glauben. Wenn alles andere im Leben nicht so läuft, wie man es möchte, dann ist man wenigstens noch Teil einer kleinen, auserwählten Gruppe, die den Durchblick hat. Das spielt zumindest bei einigen Menschen eine Rolle.
Gibt es noch andere Unterschiede?
Katharina Nocun:
Menschen, die einen starken Hang haben, an Verschwörungserzählungen zu glauben, sehen sich häufig als jemand, der grundsätzlich gegen den Mainstream schwimmt. Wenn Verschwörungsgläubigen gesagt wird, dass die Mehrheit an etwas Bestimmtes glaubt, dann erscheint ihnen das weniger plausibel – einfach weil die Mehrheit diese Ansicht vertritt.
Hinzu kommt ein weiteres Phänomen: Die meisten Menschen weisen eine Verzerrung auf, die man »Expertenbias« nennt. Verschwörungsgläubige haben dies oft nicht oder der Effekt ist weniger stark ausgeprägt. Wenn Verschwörungsgläubigen 2 unterschiedliche Informationsquellen vorgelegt werden, eine Studie von einem Experten und ein Youtube-Video von jemandem, der keine erkennbare Kompetenz im jeweiligen Thema hat, dann halten sie den Nichtexperten oft für genauso glaubwürdig.
»Lasst diese Menschen nicht los!«
setzen verschwörungstheoretisches Denken gezielt ein. Warum nützt ihnen das?
Katharina Nocun:
Das Narrativ einer Verschwörung ist für politische Wahlkämpfe unglaublich attraktiv. Man zeichnet den politischen Gegner als Gruppe mit bösen Absichten, die sich gegen die Bevölkerung verschworen hat. Man selbst ist dann Teil der Gruppe, die sich dagegenstellt, gegen das Establishment.
Das Interessante ist, dass Donald Trump ja selbst, obwohl er jetzt an höchster Stelle steht, permanent das Narrativ einer großen Medienverschwörung bemüht, etwa indem er Journalisten in der Pressekonferenz des Weißen Hauses als »Fake News« beschimpft. Er kann sich dadurch sicher sein, dass die Faktenchecks entsprechender Zeitungen von seinen Anhängern nicht gelesen oder nicht geglaubt werden. Es ist für eine Demokratie sehr gefährlich, wenn ein Politiker seinen Wählern sagt: »Lest nur noch die Zeitungen, in denen unsere Partei gut wegkommt«. Das ist ein erschreckendes Phänomen.
Wenn Faktenchecks und andere Aufklärungsarbeit aber gar nicht die Richtigen erreichen,
Katharina Nocun:
Natürlich ist die Frage, wie Menschen auf solche Inhalte stoßen. Ich würde allerdings davor warnen, das Bild zu bemühen, dass das Internet die Quelle aller modernen Verschwörungserzählungen sei. Denn das ist nicht so. In der Geschichte finden sich unzählige Beispiele dafür, dass große Teile der Bevölkerung und sogar Regierende von Verschwörungserzählungen überzeugt waren. Dazu braucht es nicht das Internet. Das Internet ist aber natürlich ein neuer attraktiver Kanal für diese Akteure, insbesondere für Magazine und Influencer, die sich darauf spezialisiert haben, solche Narrative zu bedienen.
Sind die Menschen, die für diese Aufklärungsarbeit nicht mehr empfänglich sind, in ihrem Verschwörungsdenken verloren? Sind alle Bemühungen, sie daraus zu befreien, zum Scheitern verurteilt?
Katharina Nocun:
Das ist eine sehr deterministische Einschätzung von Menschen, die ich grundsätzlich nicht teilen würde. Ich würde jedem raten, der die Erfahrung in seinem Freundeskreis oder in seiner Familie macht, dass eine Person, die man schätzt, die man liebt, in diesen Bereich abdriftet: Lasst diese Menschen nicht los!
Wir wissen aus Gesprächen mit Sektenberatungsstellen, dass der enge Kreis der Angehörigen und der engen Freunde oft der letzte ist, der in extremen Fällen überhaupt noch durchdringen kann. Es ist utopisch, zu glauben, dass irgendein Faktencheck im Internet jemanden überzeugen wird, wenn ich es als engster persönlicher Kontakt nicht schaffe. Das ist schwierig, das ist viel Verantwortung. Ich respektiere es, wenn Leute sagen, dass ihnen die Kraft dafür fehlt. Aber man sollte den Kontakt insgesamt nicht abbrechen lassen, selbst wenn man sich mal eine Atempause gönnen muss.
Wie geht man am besten vor?
Katharina Nocun:
Man sollte sich Verbündete suchen. Wenn ich in meinem Familienkreis jemanden habe, der in ganz komische Ecken abdriftet, dann wäre es mal eine Idee, sich mit anderen Verwandten oder Freunden zusammenzusetzen und zu überlegen: Was können wir jetzt gemeinsam tun? Können wir das auch auf mehrere Schultern verteilen, weil wir diese Person nicht verlieren wollen? Im Gespräch mit den Beratungsstellen haben wir ganz oft gehört, dass Menschen, die in radikale Gruppen abdriften, nach und nach den Kontakt zur Außenwelt abbrechen. An ihre Stelle treten oft neue Leute aus der gleichdenkenden Gruppe. Und je länger man diesen Prozess ohne Eingriff so weiterlaufen lässt, desto schwieriger wird es, die Menschen zurückzuholen.
Warum wird das so schwierig?
Katharina Nocun:
Je mehr Menschen in einen Glauben investiert haben, desto schwerer fällt es ihnen, eine Wendung zu vollziehen. Das ist menschlich total nachvollziehbar. Niemand möchte sich eingestehen, die letzten Jahre verschwendet zu haben, indem er an etwas geglaubt hat, was sich als Lüge herausstellt. Überzeugungsarbeit ist schwer und es ist ein langer und mühsamer Prozess. Gleichwohl sollte man aber auch bei rassistischen und antisemitischen Haltungen eine klare rote Linie ziehen und kommunizieren: Das geht gar nicht!
Was konkret würden Sie Angehörigen raten, wenn es sich tatsächlich um einen so langen Prozess handelt?
Katharina Nocun:
Wenn man merkt, man schafft es nicht allein, würde ich jedem empfehlen, sich an Beratungsstellen zu wenden. In Fällen von Rechtsextremismus und Reichsbürgern kann man sich an die wenden, ansonsten sind die Sektenberatungsstellen ein guter erster Anlaufpunkt. Die haben viel Erfahrung, weil die Gruppenstruktur oft vergleichbar mit Sekten ist.
»Es ist besser, statt 1.000 Argumenten nur eins zu bringen«
Oft ist es gar nicht so leicht, Verschwörungstheorien auf Anhieb etwas entgegenzusetzen. Wie kann ich in so einer Situation vorgehen?
Katharina Nocun:
Wichtig ist vor allem, den Mut aufzubringen, überhaupt etwas zu sagen. Oft ist es so, dass gerade in Gruppenkonstellationen alle Anwesenden das Gefühl haben, jemand anderes müsste mal was sagen. Und dann sagt am Ende keiner was. Da ist Zivilcourage und Eigenverantwortung wichtig. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass Auseinandersetzungen auf inhaltlicher Ebene sehr anstrengend sein können. Das sind teilweise sehr intelligente Menschen, die viel gelesen haben und ehrlich und aufrichtig davon überzeugt sind, dass sie auf die Wahrheit gestoßen sind. Viele entwickeln dann auch einen gewissen Missionierungsdrang, der das Umfeld überfordert.
Diese Menschen sind uns in Gesprächen dann häufig voraus, weil sie viele Details bei bestimmten Ereignissen kennen, obwohl das Gesamtbild nicht stimmt. Wie kann ich damit umgehen?
Katharina Nocun:
Da würde ich empfehlen, auf der Metaebene zu bleiben und einfach mal zu fragen: »Was ist denn die Quelle, von der du das hast? Ist die vertrauenswürdig? Ist die schon mal mit Falschmeldungen aufgefallen?« Also Fragen stellen, dabei sachlich bleiben und sein Gegenüber nicht herablassend behandeln. Es ist in der Regel zudem besser, statt 1.000 Argumenten nur ein richtig gutes zu bringen.
Statt sich zum Beispiel auf die Details zu konzentrieren, etwa, was das Robert Koch-Institut zum Coronavirus gesagt haben soll und was angeblich verschwiegen wird, sollte man einen Schritt höher ansetzen und sagen: »Na ja, das, was du jetzt hier erzählst, läuft ja auf eine globale Wissenschaftsverschwörung hinaus. Und wissenschaftliche Institute gibt es weltweit ziemlich viele. Da müssten eine Million Menschen oder mehr daran beteiligt sein. Für wie plausibel hältst du das, dass sich alle Wissenschaftler weltweit abgesprochen haben und dass da auch keiner auspackt?« Da also wirklich noch mal auf logische Fehler hinweisen.
Man begibt sich also gar nicht in die Position, dass man sich inhaltlich für die eigene Sichtweise rechtfertigen muss?
Katharina Nocun:
Auf inhaltlicher Ebene zu diskutieren ist schwierig. Nicht jeder ist eben Virologe oder Experte für Baukonstruktionen für Gebäude wie das World Trade Center. Das Problem sind die Grundannahmen. Oft ist es so, dass Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, tatsächlich kluge Fragen stellen. Die Sache ist nur: Welche Schlussfolgerungen zieht man daraus? Und was sind die Erklärungsmuster, die daraus folgen? Oft bemerkt man in solchen Diskussionen zudem, dass Verallgemeinerungen getroffen werden: die Medien, die Wissenschaft, die Politik. Da lohnt es sich, nachzuhaken, einen differenzierteren Blick auf die Dinge anzuregen. Die Welt ist eben nicht schwarz-weiß.
Die Wissenschaft gerät während der Coronapandemie in bestimmten Gruppen besonders in die Kritik.
Katharina Nocun:
Es macht mich wirklich traurig, dass Wissenschaftler von Verschwörungsideologen zu Hassfiguren erklärt werden und es zu regelrechten Hetzkampagnen kommt. Die Wissenschaft ist aus meiner Sicht einer der transparentesten Bereiche in unserer Gesellschaft überhaupt. Es ist eine sehr gefährliche Entwicklung, wenn Forscher ins Fadenkreuz geraten. Das sollten wir nicht einfach so hinnehmen. Jeder von uns sollte in seinem Umfeld aktiv werden und Menschen davon abbringen, in den Strudel vermeintlich einfacher Erklärungsmuster zu geraten. Aber gleichzeitig sollte man auch nicht vergessen, solidarisch mit den Opfern zu sein, die jetzt schon unter der Hetze von Verschwörungsideologen leiden.
Mit Illustrationen von
Mirella Kahnert
für Perspective Daily
Kennst du auch das Gefühl, 1.000 Dinge tun zu wollen – oder zu müssen? Wie nutzt du die Zeit, die du hast? Stefan geht aus soziologischer Perspektive der Frage nach, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann – und wie wir Zeit gestalten können, ohne immer nur hinterherzurennen. Dazu gehört auch die Frage, wie die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Privatleben gelingen kann.
von
Dirk Walbrühl
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.