Wie aus einer radikalen Idee die einflussreichste Ideologie unserer Zeit wurde
Der Neoliberalismus hat unser aller Leben verändert. Dieser Mann wollte es so.
Klimakrise, Polarisierung und die massive Spaltung zwischen Arm und Reich. Wer jung ist, mag diese »Großen 3« der globalen Probleme für Naturgesetze halten. Doch die Welt war nicht immer so.
Der große Widerspruch unserer Zeit scheint darin zu bestehen, dass es
Wie konnte es dazu kommen?
Wer über brennende Regenwälder, Ausbeutung und elitäre Machtstrukturen diskutiert, wird früher oder später auf ein Wort stoßen, das – häufig schwammig verwendet – zum Kampfbegriff geworden ist: Neoliberalismus.
Die einen sind sich sicher, dass dieses »System« die Menschheit zu einmaligem Wohlstand geführt hat. Für die anderen ist er die Ideologie, die uns an den Rand der Katastrophe gebracht hat.
Aber was macht ihn eigentlich genau aus, diesen Neoliberalismus? Wo kommt er her? Und, falls wir ihn wieder loswerden können – wie?
Wie viele große Ideen entstand auch der Neoliberalismus nicht im luftleeren Raum. Vielmehr flossen viele kleine Gedankenbäche im Laufe der Jahre zu einem großen Strom zusammen, der unsere jüngere Vergangenheit mitgerissen hat und uns nun verunsichert umhertreiben lässt.
Um den Neoliberalismus zu verstehen und Antworten auf unsere Fragen zu finden, schwimmen wir den Strom der Geschichte flussaufwärts.
Prolog: Die Krise, die dem Neoliberalismus den Weg bereitete
Es ist ein Donnerstag im September des Jahres 1929, der zu einem Wendepunkt der Weltgeschichte werden sollte. An diesem Tag begannen die Kurse an der New Yorker Börse in der Wall Street zu fallen – und sie würden die nächsten 3 Jahre weiter sinken.
Die Zeiten des Booms, die die Vereinigten Staaten in nur wenigen Jahrzehnten zur größten Volkswirtschaft der Welt hatten wachsen lassen, waren gezählt. Innerhalb kürzester Zeit weitete sich die »Große Depression« der USA wie ein Lauffeuer über den Globus aus und riss die gesamte Weltwirtschaft in eine Krise, die Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit zurückließ.
Ein idealer Nährboden für politischen Extremismus, der vor allem in
Parallel zur Machtergreifung der Nationalsozialist:innen in Deutschland bot die von den Demokraten geführte Regierung um den Präsidenten Franklin D. Roosevelt den Menschen in den USA ein anderes Narrativ an: umfassende Wirtschafts- und Sozialreformen statt Nationalismus und politischem Totalitarismus.
Der gedankliche Vater dieser Neuverteilung der Karten zwischen Arm und Reich war der einflussreiche
In diesem Video werden die Kernelemente des Keynesianismus anschaulich erklärt:
Der Keynesianismus mit der starken Rolle des Staates ist in den USA das Ding der Zeit – und funktionierte für
Doch eine kleine Gruppe vermögens- und einflussreicher Männer sah die Sache grundlegend anders …
Erster Akt: Die Ursprünge einer Ideologie
Während die maßgeblich von Keynes erdachten innovativen Maßnahmen des »New Deals« helfen, die Vereinigten Staaten nach und nach aus der Negativspirale der Großen Depression zu befreien, arbeitet ein junger Mann Anfang 30 auf der anderen Seite des Atlantiks in London an einem gegensätzlichen Modell. Sein Name: Friedrich August von Hayek.
Der 1899 im Kaiserreich Österreich-Ungarn geborene Hayek besuchte bereits während seiner Studienzeit in Wien lieber Seminare zu Volkswirtschaft und Psychologie als zu den Fächern Staats- und Rechtswissenschaft, in denen er promovierte. Im Jahr 1931, nur 2 Jahre bevor die Nazis erst in Deutschland und wenig später auch in Österreich die Macht übernehmen, wird er an die renommierte London School of Economics berufen.
Dort macht er sich bis Ende der 30er-Jahre mit Thesen zu Konjunktur und politischer Ökonomie einen Namen, bis die Universität aufgrund der wochenlang anhaltenden Bombardierung der Nazis (»The Blitz«) evakuiert werden muss. 100 Kilometer weiter nördlich, im beschaulichen Cambridge, setzt er seine Arbeit fort – an der Universität, an der auch ein gewisser John Maynard Keynes seit 1920 lebt und lehrt.
Hayek trifft auf ein grundlegend anderes Verständnis von Politik und Ökonomie, an dem er sich künftig abarbeiten wird und dem er seine eigenen Thesen entgegenstellt. Sie blicken beide auf dieselben Probleme der Zeit – und kommen doch zu völlig gegensätzlichen Interpretationen des Geschehens.
Die zu dieser Zeit vorherrschende Sichtweise wird maßgeblich vom ebenfalls einflussreichen Ökonomen William Beveridge vertreten. Kurz gefasst lautet sie so: Der Faschismus in Deutschland, Italien und Spanien ist eine Reaktion auf die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die die unregulierte, kapitalistische Wirtschaftspolitik verursacht hat. Steigt die Unzufriedenheit der Menschen, unterstützen die Reichen und Einflussreichen im Zweifel eher den Faschismus als den Sozialismus, um ihren Stand und ihr Vermögen zu bewahren.
So hatten etwa viele vermögende Großindustrielle bereits früh Hitler unterstützt und später in Nazideutschland
Hayek bestreitet das nicht explizit, sieht im Sozialismus jedoch auch keine Alternative zur Organisation von Gesellschaft und Wirtschaft. Ganz im Gegenteil: Hayek ist sich sicher, dass der Sozialismus, den er mit der staatlichen Planwirtschaft gleichsetzt, alle Errungenschaften der westlichen Welt zerstören würde.
Zweiter Akt: Der Neoliberalismus als Rebellion
In den 40er-Jahren wird Hayek mehr und mehr zum Rebellen: Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenoss:innen sieht er die Wurzel der beispiellosen Verwüstungen durch Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg nicht in der Ungerechtigkeit, die durch den ungezügelten Kapitalismus hervorgerufen worden war und so den Aufstieg der Faschist:innen ermöglicht hatte.
Für ihn haben Faschismus und Sozialismus sogar denselben üblen Keim: eine zu große Macht des Staates gegenüber seinen Bürger:innen, die sich in erster Linie durch staatliche Eingriffe in den freien Markt zeige. So würde der freie wirtschaftliche Wettbewerb zerstört, in dem Hayek das einzig effiziente Organisationsprinzip einer komplexen Welt sieht.
Mit dieser Grundthese, die er in seinem wichtigsten Werk mit dem bezeichnenden Titel The Road to Serfdom (Der Weg zur Knechtschaft) vertritt, sollte Hayek den Grundstein für den Neoliberalismus legen. Als das Buch 1944 veröffentlicht wird, steht Nazideutschland kurz vor der totalen Niederlage.
Doch wo die Anhänger:innen von Keynes’ Modell des starken Staates nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 die Chancen für den gut geplanten Wiederaufbau sehen, sieht Hayek nur die Gefahr neuer totalitärer Regime.
Dass der Keynesianismus zu diesem Zeitpunkt mit dem »New Deal« bereits seit 12 Jahren erfolgreich die Geschicke der USA bestimmt, ändert wenig an seiner Meinung.
Dritter Akt: Ideologen mit langem Atem – die »Mont-Pèlerin-Gesellschaft«
Hayek muss erleben, wie Keynes’ Modell nach den positiven Erfahrungen in den USA auch im Nachkriegseuropa enorm an Popularität gewinnt. Grund genug für ihn, eine koordinierte Rebellion zu planen – die ihren Anfang im Schatten eines Berges in der Schweiz nehmen sollte: dem Mont Pèlerin.
Stabilität, soziale Sicherung – und vor allen Dingen: Frieden. Diese Ziele stehen für die meisten Menschen Ende der 40er-Jahre nach fast 2 Jahrzehnten globaler Wirtschaftskrisen und Kriege an oberster Stelle. Und mit Keynes’ »New Deal« liegt die Schablone parat, mit der das gelingen kann.
So die Theorie.
Denn ungeachtet des Geschehenen findet auch Hayek durch den Erfolg von The Road to Serfdom Anhänger:innen auf der ganzen Welt. Besonders in den USA findet sein Buch reißenden Absatz – und Hayek einflussreiche (und finanzstarke) Gleichgesinnte.
Im Jahr 1947 lädt er schließlich die
Die Gruppe von Gleichgesinnten gründet in der Schweiz die nach der nahe gelegenen Bergkette benannte Mont-Pèlerin-Gesellschaft (MPG). Ihr Ziel: die Welt für immer zu verändern. Und zwar indem sie den Neoliberalismus, wie sie ihn fortan nennen,
Eine gigantische Aufgabe also für einen kleinen
Es braucht in der Regel eine Generation oder sogar mehr[, bis sich neue Ideen etablieren]. Das ist der Grund, warum unser heutiges Denken als so machtlos erscheint, um die Ereignisse zu beeinflussen.
Diese Feststellung ist aber noch lange kein Grund für Hayek und seine Mitstreiter, nichts zu unternehmen. Im Gegenteil: Die Mitglieder der MPG wissen genau, dass sie strategisch und ausdauernd vorgehen müssen, um ihre Ziele zu erreichen. So notiert Hayek, dass »viel gut gemeinter Aufwand für politische Bildung und Propaganda reine Verschwendung [sei],
Vergebene Mühen also, mit denen Hayek und seine Mitstreiter sich nicht lange aufhalten wollen. Sie haben etwas anderes im Sinn.
Vierter Akt: Eine Ideologie von null an aufbauen
Alle 2 Jahre sollten sich die Mitglieder der wachsenden Mont-Pèlerin-Gesellschaft fortan treffen, an wechselnden Orten, überall auf der Welt.
In den 50er- und 60er-Jahren wächst im Schatten des dominanten Keynesianismus in der MPG unter Hayeks Vorsitz nach und nach der Neoliberalismus heran.
Die Gesellschaft will den Begriff »Freiheit« in ihrem Sinne umdeuten. Dabei geht es ihnen weniger um die Freiheit der Menschen als um die Freiheit der Märkte. Und zwar um die
Die Strategie, um dieses Ziel zu erreichen und noch mehr Einfluss zu gewinnen,
Wir müssen in der Lage sein, ein neues liberales Konzept anzubieten, das die Fantasie anregt. Was uns fehlt, ist eine liberale Utopie, […] ein wahrhaft liberaler Radikalismus. Wir brauchen intellektuelle Führer, die bereit sind, für ein Ideal zu kämpfen. […] Es müssen Menschen sein, die bereit sind, an Prinzipien festzuhalten und für deren volle Verwirklichung zu kämpfen, so fern diese auch sein mag.
Sein Problem: Hayek und die Mitglieder der MPG sind gnadenlos in der Unterzahl. Die intellektuellen Anführer:innen, die sich für einen »radikalen Liberalismus« begeistern, gibt es bis auf wenige Ausnahmen zu dieser Zeit schlicht nicht. Zu schlecht waren die Erfahrungen mit dem »alten«, klassischen Liberalismus, der zur Weltwirtschaftskrise geführt hatte.
Doch auch davon lassen er und seine Mitstreiter sich nicht entmutigen. Sie wollen sich ihre intellektuellen Anführer:innen einfach selbst schaffen.
Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass bestimmte Annahmen allgemein akzeptiert werden, sobald die aktiveren Intellektuellen von diesen überzeugt worden sind. Der Prozess, in dem diese dann allgemeinhin akzeptiert werden, geschieht nahezu automatisch und unwiderruflich. […] [E]s sind ihre Überzeugungen und Meinungen [der Intellektuellen], die als Sieb fungieren, das alle neuen Konzepte passieren müssen, bevor sie die Massen erreichen können.
Doch eben diese wissenschaftliche Rückendeckung fehlt Hayek.
Hier kommt der englische Geschäftsmann und MPG-Mitgründer Antony Fisher ins Spiel. Fisher, der Millionen mit Börsenspekulationen und der Einführung der
Was das Institut ab 1955 hervorbringen sollte, hat jedoch nur begrenzt mit unabhängiger Wissenschaft zu tun, wie aus einem Brief eines weiteren Geldgebers an Fisher hervorgeht. Es sei »geboten, dass wir keinen Hinweis in unserer Literatur dahingehend zulassen, dass wir uns um die Aufklärung der Öffentlichkeit in ganz bestimmte Richtungen bemühen. Um den Eindruck der politischen Voreingenommenheit zu vermeiden, ist der Entwurf der Ziele [des IEA] in eher
Das IEA stellte damit einen neuen Typ von Thinktank dar: eine pseudowissenschaftliche Denkfabrik mit akademischem Anstrich, die den Boden für eine neoliberale Revolution bereiten sollte – ohne Krach, ohne Kanonen, ohne blutigen
Diesem Vorbild sollten in den kommenden Jahrzehnten Dutzende weitere folgen, auf der ganzen Welt.
John Maynard Keynes jedenfalls konnte nicht mehr dagegenhalten: Der bis dahin einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts war bereits 1946 im Alter von 63 Jahren gestorben.
In der nächsten Woche liest du:
Wie genau werden Hayek und die Mont-Pèlerin-Gesellschaft ihren ideologischen Einfluss erweitern? Welche Figuren werden die Weltbühne noch betreten?
Und welche Lehren können wir aus den Geschehnissen für unser Heute und Morgen ziehen?
All das erfährst du hier in Teil 2 der Reihe!
In Teil 3 erfährst du dann:
Wie entwickelte sich der neoliberale Hegemonieapparat in den Folgejahren weiter? Wann bekam er erste Risse?
Und wo stehen wir heute, im Jahr 2020?
Titelbild: Doğu Kaya | Wikimedia Commons - copyright