So wirkt sich die Flüchtlingspolitik von 2015 noch heute aus
5 Jahre nach überfüllten Turnhallen, überforderten Kommunen und »Wir schaffen das« zieht ein Entscheider Bilanz – und spricht über vermeidbare Fehler im Asylverfahren. »Es gab Tage, da sagte ich: Es reicht mir!«
Wenn in Deutschland Krisenstimmung herrscht, dann wird meist akut reagiert. Das gilt nicht nur für Corona, sondern war auch schon vor 5 Jahren so, als sich die Bundesrepublik selbst eine
Wenige wissen über die langwierigen Folgen des behördlichen Chaos von 2015 Bescheid, als
Die Konsequenz: Mit fehlerhaften Entscheidungen des BAMF hatten später vor allem die Verwaltungsgerichte zu kämpfen, die sich deutschlandweit durch Asylklagen überlastet sahen. Gegen rund 2/3 der
Eine erhebliche Mehrbelastung, die viel Geld kostet und vermeidbar wäre. Aber wie?
Ich will direkt bei denen, die im BAMF entschieden haben, nachfragen, wie sich Fehler im Asylverfahren vermeiden ließen. Doch das BAMF und verschiedene Entscheider:innen lehnten direkte Interviewanfragen ab. Nach Monaten der Suche konnte ich den Kontakt zu Marcus
Der persönliche Eindruck ist wichtig
Turnschuhe, Camouflage-Hose, Batik-T-Shirt, lange Haare und Vollbart. So hatte ich mir einen Entscheider aus dem BAMF nun wirklich nicht vorgestellt. Der freundliche, aufgeschlossene Blick unter den buschigen Augenbrauen entspricht nicht meinen Erwartungen eines knallharten Entscheiders, er passt aber zu jemandem, der Menschen in schwierigen Situationen in die Augen schauen muss.
Marcus Becker hat Jura studiert und sich anschließend beim BAMF beworben. Bis zu seiner Pensionierung im Mai 2019 hat er fast die Hälfte seines Lebens, 33 Jahre lang, als Entscheider für das Bundesamt gearbeitet. Was wird von Menschen wie ihm erwartet? Die Idealvorstellung des Arbeitgebers sei laut Becker, dass Entscheider:innen wie Automaten funktionieren. Oben werden sie mit der Fluchtgeschichte befüllt, dann gleichen sie diese mit den Kenntnissen über das Herkunftsland ab und zum Schluss steht eine valide Entscheidung über das Bleiberecht einer Person. Ein Trugschluss, wie Becker aus seiner jahrzehntelangen Arbeit weiß: »Das klappt nicht, denn es geht um eine individuelle Geschichte und die kann ich nicht in den Automaten stecken.«

Wie wird in Deutschland überhaupt entschieden, ob jemand bleiben darf oder nicht? Das Verfahren hat mehrere Schritte. Der wichtigste davon ist die Anhörung: Hier tragen Asylsuchende ihre Fluchtgeschichte vor. Da die meisten ohne materielle Beweise in Form von Dokumenten in Deutschland ankommen, sind Entscheider:innen
Mit den 2015 und 2016 verabschiedeten Gesetzen zur Verfahrensbeschleunigung wurden Anhörung und Entscheidung
Dieses Anhörungsprotokoll bestimmt maßgeblich, ob ein:e Asylsuchende:r bleiben darf oder Deutschland verlassen muss. Artikel 17 Absatz 1 der EU-Verfahrensrichtlinie gibt vor, »dass von jeder persönlichen Anhörung entweder eine ausführliche und objektive Niederschrift mit allen wesentlichen Angaben oder ein Wortprotokoll erstellt« werden muss. In Deutschland sieht die Praxis so aus, dass Entscheider:innen eine Doppelrolle einnehmen: Sie sollen anhören und gleichzeitig ein zusammenfassendes Protokoll erstellen. Dominik Hüging, Asylverfahrensberater bei der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA), liest oft Anhörungsprotokolle. Er weiß, dass die theoretische Vorgabe in der Praxis nicht gut funktioniert:
Es gibt keine neutrale Protokollperson in dieser Anhörungssituation. In der Regel schreiben die Anhörer:innen selbst während der Anhörung das Protokoll oder diktieren es. Das heißt, es kommt dann schon gefiltert bei der entscheidenden Person an. Das ist ein riesiges Versäumnis im Asylverfahren.
Da diese Niederschriften so wichtig für den Ausgang des Asylverfahrens sind, fordern Asylverbände schon lange, ausschließlich Wortprotokolle anzufertigen.
Der ehemalige Entscheider Marcus Becker sieht noch ein weiteres Problem in diesem Prozess, das er vor der Verfahrensbeschleunigung nicht hatte: »Das ist so schwierig, wenn man die Leute nicht vor sich hat. Der persönliche Eindruck ist nicht da, wenn ich nicht selbst zuhöre.« Dieser persönliche Eindruck ist wichtig. Denn zur Entscheidung über Asyl gehört auch, die Geschichte der Asylsuchenden auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen. Dabei spielen Mimik und Gestik eine große Rolle und Nachfragen sind unerlässlich, um Unstimmigkeiten aufzuklären.
Doch nicht nur die Trennung von Anhörung und Entscheidung sieht Becker kritisch. Auch die Belastung der Entscheider:innen durch die Verfahren ist groß.
Entscheider:innen brauchen psychische Betreuung und Beratung
Marcus Becker macht sich auch Sorgen um seine Kolleg:innen. Die täglich erzählten gewaltvollen Flucht- und Verfolgungsgeschichten setzen auf die Dauer zu.
»Es gab Tage, da sagte ich: Es reicht mir. Bitte nicht noch eine Anhörung. Ich habe genug gehört von der Brutalität auf diesem Planeten.« – Marcus Becker, ehemaliger Entscheider im BAMF
Ein Austausch unter Kolleg:innen finde lediglich in Kaffeerunden statt. Das sei nicht genug.
Becker erzählt mir von der Überforderung bei seiner ersten Anhörung: Eine Frau hatte ihm erzählt, wie sie auf einer türkischen Polizeiwache vergewaltigt worden sei. Damals habe er komplett überfordert geschrien: »Warum erzählen Sie mir das? Sehen Sie nicht, dass ich damit nicht umgehen kann?!«
Auch Zweifel sind Bestandteil der Arbeit als Entscheider:in.
Als ich angefangen habe, war damals dieser Fall, da ist nach einer Gerichtsverhandlung in Berlin mal einer aus dem Fenster gesprungen. Das war für mich ganz am Anfang das Schlimmste: Was ist, wenn du ablehnst und Leute springen dann? Ich hoffe, das ist nie passiert.
Dass immer eine Unsicherheit überbleibe, ob man die folgenschwere Entscheidung vielleicht falsch getroffen habe, sagt er selbst nach über 30 Jahren Entscheidungspraxis: »Das wird glaube ich jeder zugeben: Eine absolute Sicherheit kann man nicht haben. Ich gehe davon aus, dass ich falsche Entscheidungen getroffen habe. In beide Richtungen«, sagt Becker.
Seit seiner ersten Anhörung habe er sich aber »ein dickes Fell« zugelegt. Er und seine Kolleg:innen spürten ständig den Druck von oben: Rückstände mussten abgearbeitet, Anträge
Es wird massiv Druck gemacht. Da hieß es von oben: Angela Merkel will irgendwann verkünden: ›Wir haben es geschafft.‹ Besser wäre damals gewesen, sie hätte gesagt: ›Wir schaffen es, aber es dauert. Und wir machen es ordentlich.‹
Becker sorgt sich auch um seine Kolleg:innen, die zur Sprachmittlung hinzugezogen werden. Auch sie sind den Wirkungen der Fluchtgeschichten ausgesetzt. Nach besonders belastenden Anhörungen hat Becker Sprachmittler:innen, die völlig fertig gewesen seien, auch mal nach Hause geschickt. Für sie bietet das BAMF bis heute keine Supervision an.
Faire Bezahlung für qualifizierte Dolmetscher:innen
Ohne Dolmetscher:innen kann in der Regel keine Anhörung stattfinden. Die wenigsten Asylsuchenden sprechen so einwandfrei Deutsch, dass sie ihre Fluchtgeschichte in aller Detaildichte erzählen könnten. Deshalb sind Entscheider:innen auf gute Verdolmetschungen angewiesen, um genaue Nachfragen zu stellen und Unstimmigkeiten aufzuklären. Dolmetscher:innen halten das Asylverfahren am Laufen. Trotzdem bezahlt das BAMF
Als 2015 fast eine halbe Million neuer Asylanträge auf den Tischen des BAMF landete, fehlten nicht nur Entscheider:innen,
Jedes Wort kann lebenswichtig sein.
Das ist besonders problematisch, da Dolmetscher:innen im Asylverfahren eine hohe Verantwortung zukommt: Jedes Wort kann lebenswichtig sein. Wird eine Fluchtgeschichte nicht richtig ins Deutsche übertragen, kann auch der oder die beste Entscheider:in keine faire Entscheidung fällen. Nachdem von verschiedenen Seiten Kritik laut wurde, entschied das BAMF 2016,
Doch selbst die erneuerten Standards werden von Expert:innen als nicht ausreichend angesehen. Deutsch auf dem Niveau C1 zu beherrschen (und auch dies ist nur für Arabisch-, Kurdisch- und Türkisch-Dolmetscher:innen Voraussetzung) hält Elvira Iannone, Vizepräsidentin des Bundesverbandes der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ), grundsätzlich nicht für ausreichend. »Wobei das Sprachniveau prinzipiell nicht nur für Deutsch ausschlaggebend ist, sondern eigentlich auch für die andere Arbeitssprache gelten und überprüft werden müsste«,

Auch Marcus Becker war auf die Zusammenarbeit mit Dolmetscher:innen angewiesen. Er sagt: »Dolmetschen ist eine verdammt anspruchsvolle Arbeit. Wenn der Dolmetscher mir irgendwelchen Mist erzählt, läuft die Anhörung schief.«
Gut ausgebildete Entscheider:innen treffen qualifiziertere Entscheidungen
Zu der Entscheidung über Asyl gehört mehr, als nur zuzuhören und ein Protokoll zu erstellen. Entscheider:innen brauchen sowohl interkulturelle als auch juristische Kenntnisse und müssen über die Herkunftsländer Bescheid wissen, über die politische Lage, Bürgerrechte, Krisengebiete. Was sie auch wissen sollten: Welche Fragetechniken gibt es? Wie führe ich eine Glaubwürdigkeitsprüfung durch? Wie gehe ich mit Opfern von Gewalt um? All das lässt sich nicht in kürzester Zeit erlernen. Trotzdem wurde die Ausbildungszeit von Entscheider:innen extrem
All dies scheinen Probleme der Vergangenheit zu sein, könnte man meinen. Der große Andrang von 2015 und 2016 ist vorbei und sogar die Asylverfahrensklagen sind seit 2018 rückläufig. Es ist an der Zeit, nachzubessern.
Und auch das BAMF beteuert auf Anfrage, dass in den letzten Jahren zahlreiche Weiterbildungsmaßnahmen stattgefunden hätten und sich alle Entscheider:innen auf »einem sehr guten und einheitlichem Qualifizierungsniveau«
Auch Becker betont, es würden langsam nachwirkend Schulungen für Mitarbeitende »anlaufen«. Momentan werden aber jene Flüchtlingsanerkennungen, die seit 2015 ausgesprochen wurden, in sogenannten

Beratung, die Leben retten und die Justiz entlasten kann
Für Geflüchtete ist das Asylverfahren noch nervenaufreibender als für alle anderen. Zwischen Asylantragstellung und Anhörung liegt meist zu wenig Zeit, um sich körperlich und psychisch von einer monatelangen Flucht zu erholen und gleichzeitig eine Verfahrensberatung zu
Asylverfahrensberater Dominik Hüging sagt: »Diese Menschen sind monatelang zum Teil lebensbedrohlichen Situationen und Stress ausgesetzt. Die müssen erst mal ankommen. Es fehlt eine Ankunfts- und Ruhephase, in der sie sich in Ruhe zum Ablauf des Verfahrens beraten lassen können, Rechtsberatung bekommen, möglicherweise auch erst mal medizinische und
Viele Unterbringungen für Asylsuchende sind zudem in ländlichen Regionen angesiedelt. Oft fehlt es hier an einer geeigneten Infrastruktur oder spezialisierter Rechtsberatung. Besonders problematisch wird dies in Verfahren von Geflüchteten aus sogenannten »sicheren Herkunftsländern«. Ihnen bleibt noch weniger Zeit, sich mithilfe eines Rechtsbeistandes darüber zu informieren, welche Informationen für Entscheider:innen im BAMF relevant sind und welche nicht.
Das BAMF kommt seiner Pflicht, Asylantragsteller:innen aufzuklären, formell zwar nach, indem es bei der Antragstellung einen Stapel Papiere aushändigt, in denen die Formalia des Asylverfahrens erklärt sind. Was genau asylrelevant ist, das heißt, welche Art der Verfolgung zu einer Anerkennung führt (oft sind Asylsuchende gleich von mehreren Arten der Verfolgung betroffen), wird aber nicht erklärt. Außer Acht gelassen wird dabei auch, dass einige Asylsuchende nicht lesen können oder die Informationsblätter
Um noch einmal die Perspektive von Becker und den anderen Entscheider:innen einzunehmen: Es ist anstrengend, sich täglich stundenlang Fluchtgeschichten anzuhören. Auch den Mitarbeitenden des BAMF würde es also die Arbeit deutlich erleichtern, wenn Asylsuchende wüssten, welche Punkte ihrer Fluchtgeschichte asylrelevant sind. Denn das sind oft nicht Erlebnisse, die sie als die schlimmsten in Erinnerung haben.
Wenn 5 Minuten lang asylrechtlich Irrelevantes erzählt wird, unterbrechen die Entscheider:innen auch schon mal, weil sie sagen: Das führt zu nichts. Und dann führt das häufig dazu, dass die wichtigen Punkte nicht mehr kommen. Eigentlich müssten sie sich natürlich alles anhören, aber dafür fehlt eben die Zeit, der Zahlendruck ist viel zu groß.
Auch die Verwaltungsgerichte könnten durch eine flächendeckende, unabhängige und qualifizierte Rechtsberatung im Vorfeld der Anhörung künftig entlastet werden – eine finanziell wie asylrechtlich lohnende Investition, da weniger Menschen klagen würden.
Ein halbes Jahrzehnt ist vergangen, seitdem wir uns den Herausforderungen des Sommers 2015 gegenübersahen. Der Rückblick hat gezeigt: Inzwischen hat sich die Überlastung von Verwaltung und Kommunen auf die Verwaltungsgerichte verschoben. Die Kapazitäten, die im BAMF frei geworden sind, sollten jetzt dafür aufgewandt werden, endlich Verfahrensverbesserungen umzusetzen. Nur so können wir heute und morgen Geflüchtete schützen – und gleichzeitig Behörden und Justiz entlasten.
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