Wie die neoliberale Ideologie zum Mainstream wurde
Im Schatten des Kalten Krieges pflanzt eine kleine Gruppe von Vordenkern ihre Idee einer neuen Wirtschaftsordnung in die Köpfe der Mächtigen. Das macht den Weg frei für die neoliberale Wende.
Dieser Artikel ist Teil 2 der Reihe zur Geschichte des Neoliberalismus. Falls du den ersten Teil noch nicht gelesen hast, findest du ihn hier. Klick!
In den 50er- und 60er-Jahren sind die ersten Gehversuche der Mont-Pèlerin-Gesellschaft (MPG) zur Schaffung eines neuen Liberalismus nicht mehr als eine Randnotiz – wenn überhaupt.
Denn während große Teile Europas und Asiens noch in Trümmern liegen und der verheerende Weltkrieg noch eine lebendige, grauenvolle Erinnerung ist, sehen sich die Menschen dieser Zeit schon mit einer neuen, unvorstellbaren Bedrohung konfrontiert: der atomaren Auslöschung allen Lebens.
Fünfter Akt: Kalter Krieg, leere Kassen, reiche Gönner
Der Frieden nach der totalen Niederlage der Faschist:innen dauert kaum 5 Jahre an, als sich
1951 verlangt der US-General Douglas MacArthur angesichts einer massiven Offensive chinesischer und nordkoreanischer Streitkräfte,
Unter dem Eindruck der Entwicklungen des Kalten Krieges sehen sich die Mitglieder der MPG auf der »richtigen« Seite der Geschichte. Auch wenn in dieser Anfangszeit noch Uneinigkeit darüber besteht, wie genau dieser neue »Neoliberalismus« denn nun aussehen soll, eint die Mitglieder ihre Angst vor den Kommunist:innen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.
Einige von ihnen interpretieren den Kalten Krieg gegen »die Anderen« als eine Art Kulturkampf, der an längst vergangene Zeiten erinnert. Bei einer Vortragsreihe der MPG am Schweizerischen Institut für Auslandsforschung
Doch bevor die MPG-Mitglieder sich dem Kommunismus mit ihrer eigenen Interpretation von Freiheit auf geistiger Ebene entgegenstellen können, haben sie zunächst sehr handfeste Probleme zu lösen – es fehlt nämlich an Geld. Schon die Reisekosten der Mitglieder zu den alle 2 Jahre stattfindenden Treffen stellen die Gesellschaft vor große Probleme. Die inhaltliche Arbeit wird in dieser Zeit in erster Linie von Idealismus und dem ehrenamtlichen Engagement getragen.
So kommen zunehmend reiche Förderer wie Anthony Fisher, der mit seinem Geld die Gründung des ersten neoliberalen Thinktanks ermöglicht hatte, zu Einfluss.
Neben Fisher kann Hayek auch stets auf den Geldbeutel eines US-Amerikaners namens Harold Luhnow zählen. 1871 war Luhnows Onkel William Volker mit seiner Familie von Hannover nach Chicago ausgewandert, wo er mit dem Verkauf von Bilderrahmen ein erhebliches Vermögen angehäuft hatte – um das ganze Geld dann in eine Stiftung zur Unterstützung der Armen, Kranken und Alten zu stecken. Nach Volkers Tod 1947 übernahm Luhnow das Ruder und änderte den Kurs. Er hat »The Road to Serfdom« gelesen und investierte das Geld seines Onkels fortan in die Förderung des Autoren Hayek sowie seiner Mitstreiter:innen
Ab dem Jahr 1960 geht es langsam aufwärts: Die MPG trifft sich zu ihrer 2-jährlichen Tagung in Kassel. Finanzierungsprobleme gibt es diesmal nicht: Über einige Kontakte und bürokratische Umwege stellt das Bundeswirtschaftsministerium unter Führung von MPG-Mitglied Ludwig Erhard
Erhard hält dann auch die Eröffnungsrede der Tagung, in der er seine
Ich glaube, stärker gestört als die ökonomische Ordnung ist die geistige Verfassung der Menschen, die sich nicht mehr zurechtfinden und geradezu eine Sehnsucht danach haben, wieder an etwas glauben und auf etwas vertrauen zu dürfen. Wenn ich dem deutschen Volk als Wirtschaftsminister für die Zukunft nichts anderes bieten kann als nur Lohnerhöhung, Einkommensverbesserung, höheren Konsum und vielleicht eine noch rationellere und produktivere Wirtschaft, dann bin ich überzeugt, dann habe ich nicht nur verspielt, sondern ich habe auch meine Pflicht nicht erfüllt. Ich muss also Freunde und Bundesgenossen haben, die mit mir gemeinsam an diese Aufgabe herangehen – und wo sollte ich sie finden, wenn nicht hier, in der »Mont Pèlerin Society«? Deswegen sollten wir uns nicht in den Haaren, sondern in den Armen liegen – […] um etwas mitzunehmen für diejenigen, die dazu berufen sind, volkliches Schicksal zu gestalten.
Das Wohlwollen der deutschen Mitglieder gegenüber der MPG liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass diese als eine der ersten internationalen Organisation schon 3 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder Deutsche als Mitglieder akzeptiert hatte.
Inhaltlich jedoch geraten deutsche Intellektuelle wie der Ökonom Wilhelm Röpke oder der Soziologe Alexander Rüstow zunehmend ins Hintertreffen – und mit ihnen die von ihnen erdachte Strömung des sogenannten
Doch mit dieser Sichtweise sind die gemäßigten Liberalen in der Unterzahl. Stattdessen setzt sich mehr und mehr eine radikale Interpretation des Liberalismus als eine Art »reine Lehre« durch, die besonders von MPG-Mitgliedern aus den USA verbreitet wird.
Ein Mann aus Chicago sollte sich hier bald als inoffizieller Nachfolger Hayeks und Führungsfigur der Neoliberalen etablieren. Sein Name: Milton Friedman.
Sechster Akt: Der Neoliberalismus wird radikal(er)
Ob Artikel in Magazinen, Radio- oder Fernsehauftritte: Mit Milton Friedman betritt der Neoliberalismus erstmals das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit.
Friedman lehrt Ökonomie an der Universität von Chicago, ist Gründungsmitglied der MPG und von Beginn an enger Vertrauter von Hayek. 1962 landet er mit seinem populärwissenschaftlichen Buch »Kapitalismus und Freiheit« einen großen Wurf. Das Besondere: Anhand einfacher Beispiele aus dem Alltagsleben macht er die Theorien des Neoliberalismus erstmals für ein breites Publikum zugänglich.
Seine Grundidee, die sich auch in der MPG durchgesetzt hatte, ist so einfach wie radikal: Der Markt regelt. Und zwar angeblich alles. Egal ob Bildungswesen, Gesundheitssystem oder Militär – man müsse alle Systeme einfach wie einen Markt begreifen, auf dem sich Menschen wie egoistische Nutzenmaximier:innen verhalten. Wenn der Staat nur alles diesem freien Spiel überlasse, würde sich alles maximal effizient regeln.
Wenn Staaten überhaupt etwas zu tun hätten, dann sollten sie jeden gesellschaftlichen Teilbereich in einen solchen Markt verwandeln. Notfalls auch gegen alle Widerstände, denn am Ende würden ja alle gewinnen – seiner Meinung nach.
Daher ist der Kapitalismus als Wirtschaftssystem für ihn auch die grundlegende Voraussetzung für Freiheit, die er stets scharf mit dem unfreien Leben der Menschen im Kommunismus hinter dem Eisernen Vorhang kontrastiert.
Nur in einem solchen System der freien Märkte seien Menschen mit ihrem
Somit nimmt er ab dem Beginn der 60er-Jahre eine zentrale Rolle für die weitere Verbreitung der Ideologie der MPG ein: Friedman durchbricht systematisch das vormals vorherrschende elitäre Spezialistentum seiner Mitstreiter:innen wie Hayek – und bereitet so maßgeblich den Weg dafür, den Neoliberalismus in der Öffentlichkeit salonfähig zu machen.
Hier präsentiert Milton Friedman sein wohl bekanntestes Beispiel: Der freie Markt, erklärt an einem Bleistift
Im Hintergrund wächst parallel dazu die Zahl der MPG-Mitglieder beständig, von 258 im Jahr 1961 auf 323 im Jahr 1966. Dabei wird die Organisation globaler: Erste Mitglieder außerhalb der westlichen Welt kommen hinzu, etwa aus Argentinien, Südafrika und Japan.
Doch zum ganz großen Durchbruch fehlt noch etwas: eine ebenso große Krise.
Siebter Akt: Zeiten der Krise sind Zeiten der Veränderung
Immer mehr. Immer schneller. Immer günstiger.
Dieses Mantra der industriellen Produktion nach dem von
Die Gründe hierfür sind so
»Die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, ihre Profite zu vergrößern.« – Milton Friedman
Doch wirtschaftliche Entwicklungen wie diese isoliert zu betrachten, ist viel zu kurz gegriffen. Ende der 60er-Jahre beginnt ein
Aus der Bürgerrechtsbewegung entsteht die von noch breiteren Teilen der Gesellschaft getragene 68er-Bewegung, die als erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg die Lebensrealität ihrer Elterngeneration in der westlichen Welt als Ganzes infrage stellt. Kriegseinsätze wie in Vietnam, monotone Jobs und konservative Sexualmoral werden angeprangert, erst in den USA, dann auch in allen anderen Industriegesellschaften.
Doch der Status quo wird nicht nur von der jüngeren Generation infrage gestellt. Spätestens die wirtschaftlichen Folgen der
Doch was sollte man tun? Wie könnte eine andere Ordnung aussehen?
Die Mont Pèlerin Society ist auf solche Fragen aus der Gesellschaft vorbereitet – und hat eine Antwort parat: Weg mit dem Staat, hoch lebe der Markt!
Nachdem sich Friedman und Hayek mit dieser Linie in der MPG durchgesetzt hatten, stehen sie und ihre gewachsene Zahl von Gleichgesinnten nun bereit, ihre Ideologie als Lösung aller Probleme anzupreisen. Friedman ist sicher:
Nur eine Krise – tatsächliche oder vermeintliche – bewirkt wirklichen Wandel. Wenn diese Krise eintritt, hängen die Maßnahmen, die ergriffen werden, von den Ideen ab, die herumliegen.
Und sie haben von langer Hand her dafür gesorgt, dass es vor allem ihre Ideen sind, die nun herumliegen.
Nun kommt der mühselig aufgebaute und beständig erweiterte »Hegemonieapparat« des Neoliberalismus zur vollen Entfaltung: Seit der Gründung des Institute for Economic Affairs im Jahr 1955 ist die Zahl der Thinktanks sowie privat finanzierter Universitäten, Professuren, Lehrstühle und eigener Interessenverbände kontinuierlich gewachsen.
Und in den Massenmedien ist die neoliberale Ideologie durch Friedmans Präsenz auch für die »einfachen« Bürger:innen unter dem Synonym »Freiheit«
1968 ruft die Schwedische Reichsbank den »Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften« ins Leben. Die schnell fälschlich als »Wirtschaftsnobelpreis« bezeichnete Auszeichnung war vom eigentlichen Stifter, Alfred Nobel,
1974 wird Hayek ausgezeichnet, 1976 folgt Friedman, was zu einer ungemeinen internationalen Prestigesteigerung der vermeintlichen »Nobelpreisträger« beiträgt.
Später sollten noch viele weitere Preisträger aus dem Dunstkreis der MPG hinzukommen, davon allein 10 von der Universität Chicago, an der Friedman lehrte. So dauert es nicht lange, bis die von ihnen propagierte »Chicagoer Schule« zum Synonym für neoliberale Ökonomie wird – und so einen wesentlichen Beitrag zur Hegemonie des Neoliberalismus leistet.
Sie hatten es geschafft: Über 40 Jahre hatte es gedauert – von Friedrich Hayeks Theorie eines neuen Liberalismus (Akt 1–3), über die Suche nach Gleichgesinnten und deren Organisation in der MPG (Akt 4–5) bis hin zum langwierigen und mühsamen Aufbau eines Hegemonieapparats, der die ganze Welt umspannt.
Zum Durchbruch hatte es dann nur noch ein ausreichendes Maß an Krise gebraucht, um den mit der Zeit immer marktradikaler gewordenen Neoliberalismus zur neuen, dominanten Ideologie zu machen.
In Teil 3 liest du:
Wie entwickelte sich der neoliberale Hegemonieapparat in den Folgejahren weiter? Wann bekam er erste Risse?
Und wo stehen wir heute, im Jahr 2020?
Titelbild: Doğu Kaya | Wikimedia Commons - copyright