Was dir dein Geschichtsbuch verschweigt: Auf den Spuren Schwarzer Deutscher
Was war die Dibobe-Petition? Wie diskriminierte das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 1913? Dieser Text macht blinde Flecken in unseren Geschichtsbüchern sichtbar.
Für
Der Fall von Anumu zeigt die Geschichte der Widerstände, mit denen Schwarze Deutsche seit jeher zu kämpfen haben. Ihre Geschichten sind Kapitel in der deutschen Vergangenheit, die im Schulunterricht und in Büchern für gewöhnlich nicht gelehrt werden. Doch ihre Geschichten sind untrennbar mit der Geschichte des Rassismus in Deutschland verbunden.
Sie beginnt, als das deutsche Kaiserreich im Jahr 1884 die ersten Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent errichtete. Historiker:innen kritisieren, dass
Was die meisten von uns im Geschichtsunterricht aufschnappen, klingt stattdessen eher so: Die deutsche Kolonialzeit gilt als unbedeutende und kurze Epoche. Dass der Kolonialismus in deutschen Geschichtsbüchern jedoch nur gestreift werde, sei fatal, sagt die Rassismusforscherin Natasha A. Kelly im Interview. »Das ist ein falsches Geschichtsbewusstsein, das aufgehoben werden muss.«
Die Geschichte des Rassismus in Deutschland sei von dem Bestreben geprägt gewesen, Schwarze Körper verschwinden zu lassen, so Kelly. Wer das verstehen will, sollte den Quellen aus anderer Perspektive zuhören: jenen, die
Migrant:innen aus den Kolonien erlebten strukturelle Diskriminierung
Es finden sich Forscher:innen zufolge nur wenige Aufzeichnungen darüber,
Einen Einblick in das Leben Schwarzer Deutscher gewähren die Arbeiten des Afrikanischen Hilfsvereins, der 1918 in Hamburg gegründet wurde. Ihr Vorsitzender war Anumu. Offiziell war der Verein eine Selbsthilfeorganisation, die Schwarzen Menschen bei alltäglichen Dingen wie Arbeits- und Wohnungssuche half.
Doch im Grunde, so schreibt es die Historikerin Bebero Lehmann, war der Verein von Anfang an politisch. Denn er diente als Selbstorganisation gegen strukturellen Rassismus, dem die Menschen aus den Kolonien ausgesetzt waren: So kämpften die Mitglieder beispielsweise gegen die ungerechte Situation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, die das Ergebnis des
Denn der deutsche Kolonialismus beruhte laut der Historikerin Paulette Reed-Anderson auf einem Unrechtssystem. Mit ihrer rassistischen
Die Geschichte Schwarzer Menschen ist eine Geschichte der Widerstände
Spuren der Gegenwart von Schwarzen Menschen in der deutschen Vergangenheit konnten Historiker:innen bislang nur dort finden, wo ihr Widerstand gegen das unterdrückende System sichtbar wird – ihre Erzählungen zeugen von den blinden Flecken in der deutschen
So unterstützten viele Mitglieder des Afrikanischen Hilfsvereins die sogenannte Dibobe-Petition: Martin Dibobe, ein ehemaliger Darsteller einer Kolonialausstellung, reichte die Petition 1919 bei der Nationalversammlung in Weimar ein.
Wir verlangen, da wir Deutsche sind, eine Gleichstellung mit denselben, denn im öffentlichen Verkehr werden wir stets als Ausländer bezeichnet.
So lautete eine
In der Reichs- und Kolonialpolitik war es gängige Praxis, die Kolonien trotz des Herrschaftsanspruchs nicht als Bestandteile des Reichsgebiets zu definieren, sondern als
Wer oder was ist »deutsch«?
Aus den Mischehengesetzen entstand 1913 schließlich das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, das definieren sollte, wer oder was »deutsch« sei. Es legte fest, dass die Einheimischen der Kolonien nicht als »deutsch« anzusehen waren. Aus diesem Gesetz entstand die allgemeine Schlussfolgerung, wer Schwarz ist, könne nicht »deutsch« sein. Dies stellte die rechtliche Grundlage für den strukturellen Rassismus in Deutschland dar: Denn diese Schlussfolgerung bestimme die bis heute weitverbreitete Vorstellung, dass Deutschsein vererbbar sei und ausschließlich weiße Menschen »deutsche« Staatsbürger:innen sein können, erläutert die Rassismusforscherin
Das habe laut Kelly und weiteren Rassismusforscher:innen zur Folge, dass selbst Schwarze Menschen, die bereits seit mehreren Generationen in Deutschland leben, nach wie vor als Ausländer:innen gebrandmarkt und diskriminiert würden. Das Unrechtssystem, das im Kolonialismus aufgebaut wurde, wirke sich heute noch auf die Lebensrealität von Schwarzen Deutschen aus und beeinflusse den Rassismus, den sie in Deutschland erleben, schreibt auch Paulette Anderson-Reed.
»Wir müssen lernen, die Perspektive der Kolonisierten zu lehren«
Aber wie lässt sich die Geschichte neu erzählen? »Das Narrativ in Deutschland erzählt eine Geschichte aus einer Perspektive, die allein gültig ist und bestimmt, wie erinnert wird und welche Stimme gehört wird. Wichtig ist, dass wir die verwobenen Erzählungen lehren und lernen,
Die Kolonialgeschichte sollte nicht nur aus der Perspektive der Kolonialherren gelehrt werden, sondern auch aus der Perspektive der Kolonisierten.
Praktische Beispiele zur Durchsetzung vielfältiger Sichtweisen in Deutschland seien bislang hauptsächlich im Kulturbereich zu finden. Ein Beispiel seien die
In Berlin gebe es Zuschüsse für Initiativen wie zum Beispiel die »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland« (ISD) und den Verein »Berlin Postkolonial«. Die Initiativen widmen sich der Aufarbeitung der Geschichte Schwarzer Menschen bzw. des Kolonialismus. Sie treten für eine kritische Auseinandersetzung mit Erinnerungsorten ein, die immer noch zu einer Verherrlichung der Perspektive von Kolonialherren beitragen.
So unterstützt die ISD die
Die ISD und »Berlin Postkolonial« engagieren sich gemeinsam im Bündnis »Decolonize Berlin« und fordern seit Jahren eine
Bundesweit gibt es ähnliche Projekte, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit kolonialrassistischen Erinnerungsorten starkmachen. Der Verein »Köln Postkolonial« bietet Stadtführungen im sogenannten »Afrikaviertel« an und setzte in Teilen bereits die Umbenennung von Straßen
Vereine wie »Köln Postkolonial« oder »Berlin Postkolonial« bieten regelmäßig Führungen für Interessierte an. Da es diese Führungen bislang nicht in die Lehrpläne von Schulen geschafft haben: Wie wäre es, sich in der eigenen Stadt oder beim nächsten Urlaub einmal einer solchen Stadtführung anzuschließen?
Titelbild: Sophia Baboolal - CC0 1.0