Warum wir uns über den neuen Corona-Impfstoff (noch) nicht zu sehr freuen sollten
Die Zwischenresultate zweier Impfstoffstudien machen Hoffnung. Doch wie aussagekräftig sind die Erkenntnisse? Wir haben Antworten auf eure wichtigsten Fragen.
»Corona-Impfstoffe zeigen 95%ige Wirksamkeit« – das ist wohl eine der hoffnungsvollsten Nachrichten, die in den letzten Wochen durch die Medien ging. Und bevor ich mir überlege, was euch wohl interessieren könnte, habe ich lieber direkt nachgefragt: Was wollt ihr über die neuen Impfstoffkandidaten gegen Covid-19 wissen?
Die wichtigste Erkenntnis vorab: Alles, was bisher über die
Nicht alles lässt sich deshalb schon eindeutig beantworten. Hier sind eure Fragen:
Wie funktionieren mRNA-Impfstoffe eigentlich?
Die Art und Weise, wie das Coronavirus unsere Körperzellen befällt, hängt eng mit der Wirkungsweise der Impfung zusammen. Unsere Körperzellen kann man sich vorstellen wie kleine Fabriken, die am Fließband jede Menge Bausteine produzieren. Jede Zelle arbeitet nach einem bestimmten Plan. Dockt ein Virus an die Zelle an, schleust es darin einen eigenen Plan ein und verändert damit die Arbeit der betroffenen Zelle. Statt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen, baut die Zelle an ihrem Fließband nun Viren. Irgendwann ist die Zellfabrik so voll davon, dass sie platzt. Die Viren gelangen in den Körper, wo sie weitere Zellen kapern, manipulieren und zerstören. Um an die menschlichen Zellen anzudocken und sie zu Virusfabriken umzuprogrammieren, nutzt das Coronavirus einen bestimmten Teil seines »Viruskörpers«, das Stachelprotein, auch als Spike-Protein bekannt.
Die grundlegende Idee der meisten Corona-Impfungen: Sie sollen unseren Körper dazu bringen, gezielt Antikörper gegen dieses Protein zu produzieren. So kann es nicht an die Körperzellen andocken und unsere Zellen werden nicht zu Virusfabriken.
Um diesen Effekt zu erzielen,
In den Körperzellen wird dann das Virusprotein produziert. Gelangt es in den Körper, schlägt das Immunsystem Alarm. Es erkennt, dass es sich bei den Proteinen nicht um Stoffe handelt, die normalerweise in unseren Körper gehören. Um die Eindringlinge zu eliminieren, produziert das Immunsystem passgenaue Antikörper, die das Protein ausschalten.
Dieses Gegenmittel, also die Antikörper, funktioniert nicht nur bei dem einzelnen Protein, sondern auch wenn ein ganzes, funktionsfähiges Virus in den Körper eindringt. Die Antikörper erkennen dann das Protein an der Oberfläche des Virus. Der zentrale Vorteil: Die Erregerbruchstücke werden nicht im Labor produziert, sondern vom Körper selbst. Mit der RNA wird quasi pure Information verabreicht, mit deren Hilfe der Körper den Impfstoff dann herstellen kann. Das macht die Produktion deutlich leichter. Und auch wenn das Protein ein Bauteil des Coronavirus ist, ist es als einzelnes Bauteil ziemlich harmlos.
Wie wird die Wirksamkeit des Impfstoffs berechnet?
Sowohl Moderna als auch BioNTech und Pfizer geben für ihren Impfstoff mittlerweile eine Wirksamkeit von knapp 95% an. Das heißt in der Theorie: Von 100 Geimpften sind 95 vor dem Virus geschützt. Allerdings sind diese Ergebnisse vorläufig.
Ziehen wir den Moderna-Impfstoff als Beispiel heran, berechnet sich die (vorläufige) Wirksamkeit der Impfstoffe wie folgt: In der Studie wurden insgesamt 30.000 Menschen untersucht. 15.000 davon erhielten ein
Das klingt zunächst nach einer großen Gruppe – doch für die Berechnung der Wirksamkeitsrate spielt nur die Zahl der Infektionen in diesen Gruppen eine Rolle. Die Freiwilligen werden dabei nicht im Labor überwacht oder bewusst dem Erreger ausgesetzt, um die Wirksamkeit der Impfung zu prüfen. Sie müssen dem Virus zufällig begegnen, damit es zu einer Infektion kommt, so wie jeder andere Mensch auch.
In dem Versuch von Moderna, der in den USA durchgeführt wurde,
Bei der Berechnung der Wirksamkeit zählt die Zahl der Infektionen
Als Grundlage für die Berechnung der Wirksamkeitsrate werden nur die Infektionsfälle herangezogen.
Die Erkenntnis der Forscher: In der Placebogruppe haben sich 90 Personen angesteckt, in der Impfgruppe nur 5. In der Impfgruppe haben sich also 85 Menschen weniger infiziert als in der Placebogruppe. Umgerechnet wurden durch die Impfung also 94,5% der Fälle verhindert – dieser Wert entspricht der Wirksamkeitsrate.
Bei dem Impfstoff von BioNTech und Pfizer ist die Datengrundlage bereits etwas größer: Von insgesamt 43.000 Studienteilnehmer:innen infizierten sich 170, davon 162 in der Placebogruppe und 8 in der Gruppe der Geimpften.
Bis die Studie vollständig abgeschlossen ist, kann sich die Wirksamkeit noch verändern. Laut WHO hätte eine Impfung jedoch bereits ab einer Wirksamkeit von 50% einen
Wie lange würde die Immunität anhalten? Würde die jährliche Covid-Impfung in der Zukunft einfach zur jährlichen Grippeimpfung dazukommen?
Diese Frage lässt sich momentan nicht eindeutig beantworten, weil es dafür einfach noch zu wenig Daten gibt.
Wie kann sichergestellt werden, dass Risikogruppen, beispielsweise immunsupprimierte Patient:innen, den neuen Impfstoff vertragen?
Auch auf diese Frage lässt sich derzeit noch keine endgültige Antwort geben. In den aktuellen Studien sind bereits einige Menschen aus
Nach den aktuellen Ergebnissen besteht für diese Menschen kein besonderes Risiko durch die Impfung – bisherige Nebenwirkungen beschränken sich auf leichte Beschwerden wie Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schmerzen an der Einstichstelle.
Laut Susanne Stöcker, Pressesprecherin des
In der Theorie ist das Risiko gering
Da es sich bei dem RNA-Impfstoff um keinen Lebendimpfstoff handelt, ist das Risiko für immunsupprimierte Menschen in der Theorie eher gering. »RNA gelangt nicht in den Zellkern und wird in der Regel schnell abgebaut, deshalb schätzt man das Risiko eher gering ein für diese Gruppe. Aber wie gesagt, uns fehlen die Daten. Es sind aber, soweit ich gehört habe, konkrete Studien in Planung, die auch Immunsupprimierte einschließen«, erklärt auch Virologin Sandra Ciesek
Auch Schwangere wurden in den bisherigen Studien nicht getestet, deshalb lässt sich noch keine Aussage dazu treffen, welches Risiko für sie in der Praxis besteht. Der Impfstoff wird allerdings auch für sie erst dann zugelassen, wenn es verlässliche Daten gibt.
Wann wird die breite Mehrheit der Bevölkerung an die Reihe kommen?
Die Empfehlung dafür, wer sich wann impfen lassen sollte, verfasst die Ständige Impfkommission (STIKO). Schon während der Impfstoffentwicklung werden ihr aktuelle Daten der Hersteller zu den neuen Corona-Impfstoffkandidaten übermittelt. Diese Daten bewertet die STIKO nach und nach, damit sie zeitnah zur Zulassung eine Impfempfehlung aussprechen kann. Die Empfehlung wird angepasst, wenn sich die Situation verändert. Etwa wenn neue Erkenntnisse zu den Eigenschaften von SARS-CoV-2 vorliegen, weitere Impfstoffe zugelassen werden, es weitere Daten zur Impfstoffwirksamkeit und -sicherheit gibt oder sich die Gesamtsituation verändert.
Eine endgültige Impfempfehlung gibt es bisher nicht
Eine endgültige Empfehlung gibt es zwar noch nicht, aber gewisse Grundüberlegungen zur Strategie wurden bereits getroffen.
- Personen mit einem höheren Risiko, schwer oder tödlich zu erkranken, beispielsweise aufgrund ihres Alters oder vorbelasteten Gesundheitszustandes. Insbesondere bei erhöhter Kontaktdichte, etwa in Pflegeheimen.
- Mitarbeiter:innen von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und Altenpflege, die wegen ihrer Arbeit ein erhöhtes Infektionsrisiko haben oder das Virus weiterverbreiten können.
- Personen, die für die Grundversorgung der Bevölkerung und für die Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen eine Schlüsselstellung besitzen (zum Beispiel Mitarbeiter:innen der Gesundheitsämter, der Polizei- und Sicherheitsbehörden, der Feuerwehr, Lehrer:innen und Erzieher:innen), insbesondere wenn sie Kontakt mit Patient:innen, Angehörigen von Risikogruppen oder potenziell Infizierten haben.
Die Zulassung eines Impfstoffes dauert normalerweise viele Jahre. Wie kann es sein, dass es plötzlich so schnell geht?
Bisher war es realistisch, dass es von der Virusanalyse bis zur Marktzulassung eines Impfstoffs 15–20 Jahre gedauert hat. Bei dem neuen Corona-Impfstoff könnte es deutlich schneller gehen – bisher ist nicht einmal ein ganzes Jahr vergangen und es befinden sich bereits Impfstoffe kurz vor der Zulassung. Wie kann das sein?
»Die Tatsache, dass es jetzt schnell geht, liegt vor allem daran, dass es umfangreiche Erkenntnisse schon aus der Forschung an Impfstoffen gegen das ursprüngliche SARS-Virus von 2003 und das MERS-Coronavirus gab. Und dass Verfahrensabläufe optimiert wurden – die Erhebung und Bewertung der Daten erfolgt mit der gleichen Sorgfalt wie bei allen bisherigen Impfstoffzulassungen auch«, sagt Susanne Stöcker vom Paul-Ehrlich Institut.
In der EU werden einige Impfstoffe, auch die von BioNTech und Moderna, derzeit schon während der Entwicklung in einem sogenannten
Wie sicher kann ein Impfstoff sein, der so schnell zugelassen wird?
»In den klinischen Prüfungen für die Covid-19-Impfstoffe sind sehr viel mehr Probanden/Probandinnen eingebunden als das bisher bei solchen Prüfungen der Fall war. Damit erhält man in relativ kurzer Zeit sehr große Datenmengen. Die erlauben es, Nebenwirkungen in einer Größenordnung zwischen 1 auf 1.000 und 1 auf 10.000 zu erkennen«, sagt Stöcker. Echte Langzeitschäden könne man aber tatsächlich erst erkennen, wenn der Impfstoff über mehrere Jahre angewandt wurde. »Das gilt aber für jede Impfstoffprüfung, egal wie lange die Beobachtungszeit ist«, so Stöcker.
Es wird eine zentrale Datenbank für Nebenwirkungen gefordert
In ihrem Positionspapier fordern deshalb STIKO, Ethikrat und Leopoldina eine zentrale Datenbank, worin festgehalten wird, ob es unerwünschte Ereignisse im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gab. So sollen mögliche Impfrisiken frühzeitig erkannt und minimiert werden. Zudem kann so erfasst werden, wie viele Menschen sich impfen lassen. Anhand dieser Daten muss dann immer wieder neu bewertet werden, für wen der Impfstoff empfohlen wird – und ob es vielleicht mit der Zeit einen Kandidaten gibt, der noch besser geeignet ist.
Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily