Warum die Kritik am Impfstart übertrieben ist
Deutschland impft gegen Corona – und natürlich läuft dabei nicht alles glatt. Aber manche Kritik schießt über das Ziel hinaus.
»Etwas entgegenfiebern« ist im Zusammenhang mit Corona eine schwierige Vokabel – aber anders lässt sich kaum ausdrücken, wie sich ein Großteil der Gesellschaft viele Monate des vergangenen Jahres nach einer Impfung gegen das Coronavirus gesehnt hat. Mindestens 244 Arbeitsgruppen weltweit haben damit begonnen, Impfstoffe zu entwickeln –
2 von 244 – das nur als Erinnerung, dass wir uns noch immer in einer frühen Phase des Impfprozesses befinden.
Das alles kann und sollte man kritisieren – aber es wäre überzogen, zu erwarten, dass bei einem so riesigen Projekt mit so vielen Beteiligten, dazu in so großer Eile auf die Beine gestellt, sofort alles glattläuft.
Impfstoffnationalismus, der keiner sein soll
Aus dieser berechtigten Kritik wurde jedoch in einigen Fällen fundamentale: SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte, es könne nicht sein,
Vielleicht wären die rund 400 Impfzentren theoretisch sogar dazu in der Lage – mangelte es nicht am Impfstoff. Der Flaschenhals sind bei der weltweiten Impfaufgabe nämlich die Produktionsstätten, die aktuell (noch) nicht so viel Impfstoff produzieren können, wie für die Erfüllung solcher Forderungen nötig wäre. Bis zum 1. Februar soll Deutschland laut Bundesgesundheitsministerium mit insgesamt 3,98 Millionen Dosen des BioNTech-Impfstoffs beliefert werden – wohlgemerkt über 5 1/2
Die Forderung, dass Deutschland eine Vorzugsbehandlung erfahren solle, weil BioNTech ein deutsches Unternehmen ist, schmeckt bitter nach Impfnationalismus. Und sie ignoriert die grundsätzlichen Erwägungen, die bei der Beschaffung eine Rolle gespielt haben.

Komplizierter als ein Brötchenkauf: Die Impfstoffbeschaffung der EU
Die 27 EU-Staaten haben ihre Marktmacht gebündelt und die Impfstoffbeschaffung in Brüssel zu einer gemeinschaftlichen Aufgabe gemacht. Bis dato hat die EU-Kommission
So viele Impfdosen hat Deutschland bestellt
Die EU hat bereits mit verschiedenen Herstellern Verträge abgeschlossen, bevor deren Impfstoffe zugelassen wurden. Deutschland erhält davon jeweils einen festen Anteil, der sich nach der Bevölkerungszahl richtet – die Bundesregierung hat sich aber jeweils zusätzliche eigene Optionen gesichert. Alle Angaben in Millionen
Dessen Vorstehende Özlem Türeci und Uğur Şahin gehören zum Kronzeug:innenstand der Impfstartkritik.
Inzwischen ist bekannt, dass vor allem osteuropäische Länder beim
- Welche Impfstoffe funktionieren werden, war zum Zeitpunkt der Bestellungen unklar: Die EU-Kommission hatte, genau wie einige Regierungen der reicheren Staaten der Welt, schon Verhandlungen aufgenommen, bevor sie wusste, welche Impfstoffe wirken werden. Dass es sinnvoll war, dieses Risiko auf verschiedene Anbieter zu streuen, zeigt sich am Beispiel Sanofi:
- Ein Alleingang von Deutschland wäre politisch nicht durchsetzbar gewesen: Hätte die Bundesregierung – zusätzlich zur EU-Beschaffung – sofort bilaterale Verträge mit BioNTech geschlossen, hätte das zu Problemen in der EU geführt. Schließlich saß Deutschland ausgerechnet im vergangenen halben Jahr dem Europäischen Rat vor. In vielen Fragen – mehrjähriger Finanzrahmen, Rechtsstaatsmechanismus, Post-Brexit-Abkommen etc. – hatte die Bundesregierung Mühe, 27-fache Einigkeit zu vermitteln. Ob sie es sich da politisch hätte leisten können, die übrigen Mitgliedstaaten mit einer eigenen Impfstoffbestellung vor den Kopf zu stoßen, ist zweifelhaft.
- Das Vorgehen hat Geld gespart: Die EU hat beim Preis pro Dosis offenbar härter verhandelt als etwa das »Highspeedimpfland« Israel oder die USA. Letztere zahlen umgerechnet.

Abseits dieser Punkte gibt es noch einen anderen Grund dafür, warum wir jetzt nicht noch mehr Impfstoff fordern sollten: Die
Gerade herrscht eine globale Impfstoffungerechtigkeit
Während deutsche Impfstartkritiker:innen gern nach Israel schauen, wo bis einschließlich Dienstag
Die globale Impfgerechtigkeitskampagne COVAX ist – Stand jetzt – zu schwach finanziert, um ihr Ziel zu erreichen und globale Impfgerechtigkeit auch nur in Ansätzen herzustellen. Daran lässt sich Systemkritik üben. Das sollte zwar kein Totschlagargument für spezifische Kritik in Deutschland sein, doch es hilft, sich immer wieder zu vergegenwärtigen: Die Pandemie ist erst vorbei, wenn in jedem Land der Erde ausreichend Immunität hergestellt ist. Bis dahin werden die Impfstofffabriken unter Volllast laufen, sofern die Finanzierung gesichert ist.
Letztendlich muss beides gelingen: Der in Europa vorhandene Impfstoff muss effizient in viele Oberarme gelangen – und die Belieferung muss schrittweise auf die ganze Welt ausgedehnt werden.
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Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily