»Ich will die Hunderttausenden geflüchteten Menschen in Deutschland vertreten«
Tareq Alaows wird bei der kommenden Bundestagswahl Geschichte schreiben. Er kandidiert – als erste aus Syrien geflüchtete Person. Im Interview erklärt er, warum seine Perspektive für das Parlament so wichtig ist.
24. Februar 2021
– 14 Minuten
Frank Weber
In Deutschland leben etwa Eine politische Vertretung im Parlament haben sie nicht. Tareq Alaows will das ändern. Im September 2021 tritt er als Kandidat für die Grünen zur Bundestagswahl an – als erste aus Syrien geflüchtete Person.
Bereits in den ersten Monaten nach seiner Ankunft in Deutschland setzte sich Alaows für die Rechte Geflüchteter ein, erst mit seiner Initiative Refugee Strike Bochum, später als Mitbegründer der Seebrücke.
Damit er im September tatsächlich gewählt werden kann, fehlt ihm noch die deutsche Staatsbürgerschaft – laut Alaows eine Formalie. Er habe sie schon vor einiger Zeit beantragt und seine Rechtsanwälte seien zuversichtlich, dass sie pünktlich zur Bundestagswahl gewährt wird, erzählt er uns am Rande des Interviews.
Die Chancen auf ein Direktmandat sind eher gering: Bei der vergangenen Bundestagswahl holten die Grünen in seinem Wahlkreis nur 5,5%. Doch Alaows ist trotzdem optimistisch, hofft auf einen erfolgreichen Wahlkampf und einen aussichtsreichen Listenplatz.
Das Interview führen wir per Videokonferenz, Alaows schaltet sich aus Berlin dazu.
Warum kandidieren Sie für den Bundestag?
Tareq Alaows:
Ich will mit meiner Stimme die Hunderttausenden geflüchteten Menschen in Deutschland vertreten und mich im Bundestag für eine offene und vielfältige Gesellschaft einsetzen. Ich engagiere mich seit Jahren für Menschenrechte – erst in Syrien und dann in Deutschland. Im syrischen Kriegsgebiet und auf der Flucht musste ich miterleben, wie viel Leid die Menschen erfahren. Und ich musste in der letzten Zeit mit ansehen, wie viel die Politik auf Bundesebene anrichten kann, zum Beispiel durch Ich möchte so etwas mit meiner Perspektive verhindern.
Wie werden denn bisher die Interessen geflüchteter Menschen im Parlament vertreten?
Tareq Alaows:
In der Politik wird viel über geflüchtete Menschen geredet. Aber erst vor Kurzem hat man angefangen, mit den Menschen zu sprechen. Ihre Perspektive im Parlament zu haben ist wichtig, denn sie führt dazu, dass diese Menschen und ihre Hintergründe berücksichtigt werden.
Warum treten Sie für die Grünen an?
Tareq Alaows:
Weil die Klimakrise, die soziale Krise und die Migrationskrise einander bedingen. Die Klimakrise betrifft viele Menschen, aber vor allem die Menschen im Globalen Süden. Das führt zu einer Verstärkung der schon bestehenden Verteilungskonflikte. Ich möchte verhindern, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen – Menschen,
»Die Klimakrise wird zu Bürgerkriegen führen«
Die Klimakrise wird also zum Fluchtgrund.
Tareq Alaows:
Ja. Im letzten Sommer wurden in Syrien beispielsweise extrem hohe Temperaturen gemessen. Das Wetter führte mit dazu, dass Felder verbrannten. Diese Felder produzieren normalerweise das Essen für das Land – Weizen für die Menschen in einem Kriegsgebiet, die nirgendwo anders Nahrung herbekommen können. Das verschärft die Situation vor Ort. Wenn das Klima extremer wird, Deswegen ist es einer meiner Schwerpunkte, die Klimakrise zu bekämpfen.
Was sind zurzeit Ihrer Meinung nach die größten Probleme in der deutschen Flüchtlingspolitik?
Tareq Alaows:
Da gibt es viele. Zum Beispiel die Asylrechtsverschärfung, die in der letzten Zeit umgesetzt wurde. Mit dem Migrationspaket im August 2019 wurden viele Ich habe damit tagtäglich zu tun, da ich als asyl- und arbeitsrechtlicher Berater arbeite. Viele Leute, denen ich begegne, sind bemüht, die Sprache zu lernen und sich auf Ausbildungsplätze zu bewerben, das ist aber oft nicht möglich. Sie bekommen keine Arbeitserlaubnis, keinen Deutschkurs. Teilweise brauche ich bis zu 8 Monate, bis ich die Erteilung Deswegen sehe ich die Notwendigkeit, auf Bundesebene an diesen Gesetzen zu arbeiten.
Was wird passieren, wenn sich nichts ändert?
Tareq Alaows:
Wenn eine Person immer wieder sanktioniert wird, keine Perspektive geboten bekommt und nicht wahrgenommen wird, führt das zu Ausschließung. Und das ist genau das, was wir nicht wollen. Schließlich geht es hier doch um ein gemeinsames Zusammenleben. Nur wenn sich geflüchtete Menschen als Teil der Gesellschaft fühlen, können sie auch etwas an die Gemeinschaft zurückgeben.
Als Sie Ihre Kandidatur bekanntgegeben haben, gab es viel Feedback in sozialen Netzwerken und den Medien. Hat Sie das überrascht?
Tareq Alaows:
Ich freue mich über die große Unterstützung – von den Grünen, aber auch von anderen Parteien. Viele Politiker:innen und ihren Support geäußert. Das hat mich darin bestätigt, dass dieser Schritt der richtige war. Es haben mir auch viele Privatpersonen geschrieben, die ihre Unterstützung angeboten haben. Ich habe damit gerechnet, dass meine Kandidatur gesellschaftliche Debatten auslösen wird, das war auch eines meiner Ziele. Aber von dieser breiten Unterstützung bin ich überrascht, damit habe ich nicht gerechnet. Das bedeutet eine große Verantwortung.
Haben Sie auch Gegenwind gespürt?
Tareq Alaows:
Ja, die andere Seite gab es auch. Viele Leute haben laut geschrien, aber sehr wenige haben etwas Inhaltliches geschrieben. Das waren nur Hass, Diskriminierung und Rassismus. Zum Teil auch Drohungen, in privaten Nachrichten. Ich frage mich, wie viel Angst diese Menschen vor der Demokratie haben. Ich stelle mich einer Wahl, die Wähler:innen sollen entscheiden – so läuft das.
Wie gehen Sie mit diesem »Geschrei« um?
Tareq Alaows:
Politisch kann man über alles streiten, solange es sachlich und inhaltlich zugeht. Und darauf freue ich mich. Aber mit Hass brauche ich mich nicht zu beschäftigen.
Sie haben gesagt, Sie wollten eine Debatte auslösen mit Ihrer Kandidatur. Was möchten Sie noch erreichen?
Tareq Alaows:
Ich möchte andere geflüchtete Personen motivieren, sich politisch, aber auch gesellschaftlich zu beteiligen. Geflüchtete Menschen gibt es ja nicht erst seit 2015 in Deutschland, sondern schon viel länger. Es ist höchste Zeit für eine funktionierende Demokratie, dass diese Menschen auch in der Politik vertreten sind. Und auch wenn ich es selbst nicht schaffen sollte, hoffe ich, dass die nächste Generation sich meine Kandidatur als Beispiel nimmt.
»Ich wollte nicht an der Entrechtung oder Tötung von Menschen beteiligt sein«
Warum haben Sie Syrien verlassen?
Tareq Alaows:
Die Entscheidung war die Summe vieler Ereignisse. Ich habe mich an den friedlichen Demonstrationen beteiligt und mit dem Roten Halbmond in Kriegsgebieten gearbeitet. Dann kam die Angst, zum Militärdienst einberufen zu werden. Ich dachte: Ich will nicht an der Entrechtung oder Tötung von Menschen beteiligt sein. Ich würde niemals eine Waffe gegen einen Menschen richten. Die Entscheidung, Syrien zu verlassen, habe ich dann kurzfristig getroffen. Innerhalb von 3 Tagen war alles organisiert. Bis zum letzten Tag war ich für den Ich kam wie immer um 18 Uhr nach Hause und mitten in der Nacht habe ich das Land verlassen.
Und dann sind Sie
Tareq Alaows:
Genau, auch ich bin mit einem Schlauchboot und größtenteils zu Fuß nach Deutschland gekommen. Erst in die Türkei, dann weiter nach Lesbos und Athen und schließlich nach Dortmund.
Wie lange hat das gedauert?
Tareq Alaows:
Ungefähr 2 Monate.
Wie hat Sie die Fluchterfahrung geprägt?
Tareq Alaows:
Meine Erfahrungen bei der politischen Arbeit in syrischen Kriegsgebieten, aber auch auf der Flucht haben viele Prioritäten in meinem Leben umgestellt. Sie haben meine Augen geöffnet für viele wichtige Themen, die ich wahrscheinlich vorher kannte, die aber nicht Teil meiner Lebensrealität waren. Ich habe eine ganz andere Wirklichkeit gesehen. Es hat mich sehr traurig gemacht, unter welchen Umständen viele Menschen in unserer Welt leben. Aber es hat mir auch meine Verantwortung gezeigt und mich motiviert weiterzumachen – und so zu dem Punkt gebracht, an dem ich gerade bin.
Wie war es, als Sie in Deutschland ankamen?
Tareq Alaows:
Hier in Deutschland hatte ich das erste Mal ein Gefühl von Sicherheit, deshalb bin ich hiergeblieben. Nach kurzer Zeit war ich überrascht, erschrocken und enttäuscht von den Lebensbedingungen geflüchteter Menschen. Ich war selbst davon betroffen: Ich lebte in einer Turnhalle mit 60 Personen unter einem Dach. Es gab keine Privatsphäre, wir konnten unser Essen nicht aussuchen, grundlegende Dinge waren nicht möglich. Alkohol zu trinken war verboten, Besuch zu empfangen war verboten. 6 Monate lebte ich unter diesen Bedingungen.
Wie haben Sie auf die Situation reagiert?
Tareq Alaows:
Ich habe die Gruppe Ich war der Pressesprecher der Gruppe, weil ich 6 Monate nach meiner Ankunft schon gut Deutsch sprach. Wir haben mehrere Proteste organisiert und uns mit unseren Vorstellungen, wie unsere Zukunft aussehen könnte, an die Stadt gewendet.
Teil Ihres Protests war ein 17-tägiges Camp vor dem Rathaus in Bochum. Haben Sie damit etwas erreichen können?
Tareq Alaows:
Die Stadt hat tatsächlich viele Forderungen aufgenommen und verwirklicht. Ein paar Monate nach unserer ersten Aktion wurden die Turnhallen in Bochum geschlossen, weil die Stadt unsere Lösung angenommen hatte und viele Leute schon während des Asylverfahrens Wohnungen suchen und mieten konnten. Irgendwann war es nicht mehr notwendig, auf kommunaler Ebene zu demonstrieren, weil ich in einer Runde mit Vertreter:innen der Stadt saß. Wir trafen uns jeden Monat und sprachen über die aktuelle Situation: Was sind unsere Lösungsvorschläge, wie sieht die Stadt das? So konnten wir einen aktiven Part bei der Veränderung der Situation übernehmen.
»Ich bin auf keinen Fall eine Ausnahme«
Wie ging es dann für Sie weiter?
Tareq Alaows:
Ich habe mich auf Landes- und Bundesebene an Diskussionen und öffentlichen Debatten beteiligt. Bei der Gründung der Ich habe die ersten Demos in Essen und Bochum mitorganisiert, zum großen Teil die überregionale Pressearbeit übernommen und die bundesweite Koordination der Bewegung mitgestaltet.
Sie haben in Syrien Jura studiert und in Deutschland relativ schnell über das Handy Deutsch gelernt. Ein Engagement wie das Ihre – das schafft auch nicht jede:r, oder?
Tareq Alaows:
Ich sehe mich auf keinen Fall als Ausnahme unter geflüchteten Menschen. In der letzten Zeit lag die mediale Aufmerksamkeit oft auf negativen Beispielen. Aber diese Beispiele sind nicht repräsentativ, genauso wenig wie die rassistischen Stimmen in diesem Land für ganz Deutschland stehen. Es gibt so viele Leute, die sich integriert und viel geleistet haben, die aber keine Aufmerksamkeit bekommen. Bereits 2 1/2 Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland 2015 waren 35% der geflüchteten Menschen
Nach fast 6 Jahren in Deutschland, als was verstehen Sie sich: Geflüchteter, Deutsch-Syrer, Deutscher mit Migrationshintergrund – oder sind Sie einfach Tareq Alaows?
Tareq Alaows:
In erster Linie bin ich ein Mensch und das ist mir das Allerwichtigste. Das ist genau das, was ich bei anderen Menschen sehe, egal aus welchem Herkunftsland sie kommen, egal wo sie jetzt gerade sind, das ist der wichtigste Aspekt. Denn wenn wir über »Geflüchtete« reden, dann reden wir über geflüchtete Menschen. Das Hauptwort ist »Menschen« und »geflüchtete« ist nur ein Adjektiv.
Falls sich die Lage in den nächsten Jahren wieder bessern sollte, wäre es für Sie auch eine Option, zurück nach Syrien zu gehen und dabei zu helfen, das Land wieder neu aufzubauen?
Tareq Alaows:
Die Sache ist die: Syrien ist ein Folterstaat. Es gibt Hunderttausende Menschen, von denen nicht klar ist, ob sie noch am Leben oder im Gefängnis sind oder Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Lage in den nächsten Jahren verbessern wird. Aber wenn die Situation es zulässt, dass Menschen wirklich in Sicherheit in Syrien leben, dann würde ich mich freuen, wieder dort zu sein. Dann könnte ich auch meine Erfahrungen von hier dort umsetzen.
Sie sind 31 Jahre alt und damit verhältnismäßig jung für einen Bundespolitiker. Vor- oder Nachteil für Ihre Bewerbung?
Tareq Alaows:
Ein großer Vorteil! Wenn ich gewählt werde, kann ich noch viel lernen und habe dann Zeit, das Erlernte umzusetzen. Überhaupt würde ich Menschen nicht nach Jahren bemessen, sondern nach Erlebnissen und Erfahrungen. Fridays for Future hat uns zum Beispiel gezeigt,
»Ich freue mich darauf, gegen die AfD zu debattieren«
Im Sommer 2020 zogen Rechtsextreme vor den Reichstag, Haben Sie nicht manchmal auch Angst vor der Zukunft?
Tareq Alaows:
Ich habe Vertrauen in das Gute in den Menschen. Und ich habe Vertrauen, dass wir, die daran glauben, viel mehr sind und dass wir unsere Vision vom Guten am Ende umsetzen werden. Ich habe auch Hoffnung – Hoffnung, dass Menschen am rechten Rand mal die Realität außerhalb ihrer Schublade mitbekommen und sehen, dass die AfD keine Alternative ist. Ich freue mich darauf, dass ich als einer der Betroffenen gegen die AfD debattieren kann, damit die Diskussion mal eine andere Richtung einschlägt.
Begegnen Ihnen im Alltag oft Diskriminierung und Vorurteile?
Tareq Alaows:
Das betrifft nicht nur mich, sondern im Allgemeinen geflüchtete Menschen. Wenn das von Menschen kommt, die das ohne Absicht machen, Stichwort Alltagsrassismus, dann versuche ich zu erklären, was das bedeutet, was das bei mir verursacht und wieso es nicht korrekt ist, so etwas zu sagen. Durch das Argumentieren und die Gespräche erreiche ich manchmal einiges. Es gibt aber auch Menschen, denen es egal ist, welche Argumente genannt werden: Die wollen nicht zuhören.
Macht Sie das nicht müde, wieder und wieder die Rolle des Erklärers einnehmen zu müssen?
Tareq Alaows:
Nein, auf keinen Fall. Das war von Anfang an meine Rolle. Im Kleinen in meiner Turnhalle, aber auch später darüber hinaus, in der Gesellschaft, wo ich mich immer wieder an Brückenschlägen probiert habe. Ich würde das gern auch im Großen machen, bundesweit. Wenn nicht im Bundestag, wo dann?
Anmerkung der Redaktion: Am 30. März 2021 gab der Kreisverband der Grünen in Oberhausen bekannt, dass Tareq Alaows seine Kandidatur zurückzieht. Der Grund: Er fürchte um die Sicherheit seines engsten Umfelds, habe Bedrohungen und massiven Rassismus erfahren. In der Pressemitteilung erklärt er: »Meine Kandidatur hat gezeigt, dass wir in allen Parteien, der Politik und der Gesellschaft starke Strukturen brauchen, die strukturellem Rassismus entgegentreten und Betroffenen helfen. In unserer Gesellschaft mangelt es leider an diskriminierungsfreien Räumen in allen Bereichen des Lebens. Es ist an uns allen, dies konkret in unserem Umfeld anzugehen und zu verändern.«
Tobias Zuttmann ist in Jena geboren, in Naumburg aufgewachsen und hat Journalismus in Ansbach und Hamburg studiert. Jetzt arbeitet er als freier Journalist. Am liebsten berichtet er konstruktiv statt destruktiv und über Menschen, die versuchen, die Welt ein bisschen besser zu machen.
von
Astrid Benölken
Als studierte Journalistin hat Astrid Benölken jede Menge Fragen. Besonders gern berichtet Astrid aus dem Ausland. Denn beim Blick aufs große Ganze hilft manchmal nur: hinfahren, hinschauen und am wichtigsten – mit den Menschen vor Ort ins Gespräch kommen.