Dieses Experiment zeigt: Deutschland ist progressiver als seine Politik
Was dabei herauskommt, wenn 160 zufällig ausgeloste Menschen Leitlinien für die deutsche Außenpolitik entwickeln.
Stillstand tut selten gut, ob im Privaten oder auf der großen politischen Bühne. Beziehungen verkümmern oder implodieren, wenn sich niemand mehr bemüht. Und auch unsere Demokratie leidet, wenn sich nur noch wenig bewegt. Wie steht es um die Beziehung zwischen den Menschen und ihren gewählten Repräsentant:innen in der gemeinsamen Unternehmung deutsche Demokratie?
Im Jahr 2019 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie, die ein »schwindendes Vertrauen« der Bürger:innen gegenüber den politischen Institutionen feststellte. Die repräsentative Umfrage ergab, dass nur etwas weniger als die Hälfte der Befragten (46%) die Demokratie als Prinzip unterstützten und gleichzeitig auch zufrieden mit der gelebten Praxis waren.
Immer wieder steht der Vorwurf im Raum, Politik sei Sache einer abgehobenen Elite. Besonders die AfD bedient sich gern dieses Narrativs. Und irgendwie hat sie in diesem Punkt ja auch recht.
Wie sich die Repräsentationslücke schließen lässt
Der Bundestag als zentrales Gremium der parlamentarischen Demokratie repräsentiert die Bevölkerung tatsächlich nicht besonders gut:
Als Patentrezept gegen die Entfremdung sind seit einigen Jahren losbasierte Bürgerräte im Gespräch. Das klingt erst mal nicht nach frischem Wind, eher nach Endlosdebatten in stickigen Amtsstuben. Doch inzwischen hat sich das Konzept in Praxistests bewährt, unter anderem in Irland, wo Beratungen in zufällig ausgelosten Gremien den Weg für landesweite Referenden ebneten, die schließlich die
In Deutschland setzen sich die Organisationen Mehr Demokratie und Es geht LOS für Bürgerräte ein. Im Jahr 2019 kam der erste deutschlandweite Bürgerrat zusammen, der Ideen entwerfen sollte, wie unsere Demokratie weiterentwickelt und ergänzt werden könnte. Weitere Testläufe mit zufällig zusammengewürfelten Bürger:innen waren eine der Empfehlungen. Aktuell ist der zweite Versuch zu Ende gegangen: In 10 Onlinesitzungen im Januar und Februar 2021 berieten rund 160 ausgeloste Menschen über Deutschlands Rolle in der
In insgesamt 5 »Reisegruppen« erarbeiteten sie Leitlinien und Empfehlungen zur
- nachhaltigen Entwicklung,
- zu Wirtschaft und Handel,
- Frieden und Sicherheit,
- Demokratie und Rechtsstaat sowie
- zur Europäischen Union.
Anspruchsvolle Themen für eine Gruppe von Personen ohne Fachkenntnisse – und das auch noch unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie. Was kann dabei herauskommen?
Von der Mühe, alle mitzunehmen
Alles begann für die 160 Teilnehmenden des Bürgerrats mit einem Brief, der an insgesamt 4.365 Menschen verschickt
Wie sieht dieser repräsentative Querschnitt Deutschlands Rolle in der Welt? Welche Außenpolitik wünscht er sich? Und mit welchem Selbstverständnis soll sich Deutschland in der EU und anderen internationalen Institutionen einbringen?
Um fundierte Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, bekamen die Teilnehmenden des Bürgerrats zahlreiche Expert:innen an die Seite gestellt, die in kurzen Vorträgen verschiedene Positionen zu Themen wie
Und doch bleibt die Zugänglichkeit des Ganzen ein Knackpunkt. Gegenüber dem Deutschlandfunk
Das Inhaltliche ist ein Aspekt. Bei Bürgerräten geht es aber auch darum, dass sich Menschen auf Augenhöhe begegnen, die im echten Leben vielleicht niemals miteinander ins Gespräch kommen würden.
Was hat der Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt nun konkret erarbeitet? Und was passiert
Deutschland als »faire Partnerin und Vermittlerin«
Zunächst einmal scheint es, als wäre die Bundesrepublik, zumindest in Gestalt dieses Bürgerrats, wesentlich progressiver und gestaltungsfreudiger als die aktuelle Politik.
Deutschlands Rolle in der Welt sehen wir zukünftig als faire Partnerin und Vermittlerin, die gemeinschaftlich mit anderen, insbesondere mit der EU, eine Welt gestaltet, in der auch zukünftige Generationen selbstbestimmt und gut leben können. Dazu setzen wir uns global für Nachhaltigkeit, Klimaschutz, die Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Sicherheit ein.
So empfiehlt der Bürgerrat beispielsweise die Verankerung von Nachhaltigkeit im Grundgesetz, ein entsprechendes Ministerium und Lieferkettengesetze für einen fairen Handel, der Menschenrechte achtet. Überraschend ist die hohe Bereitschaft, Entscheidungsmacht an die EU-Ebene abzugeben – Deutschland solle sich für eine eigenständige europäische Außen- und Sicherheitspolitik einsetzen und dafür, dass dort mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann. Auf der anderen Seite plädiert der Bürgerrat für »Koalitionen der Willigen«, wenn es auf andere Weise nicht vorangeht, wie beispielsweise in der Migrations- und Flüchtlingspolitik.
Alle Empfehlungen sind mit deutlichen Mehrheiten angenommen worden, die Zahl der Gegenstimmen zu den Punkten zeigt aber an, wo es in den Kleingruppen zu kontroverseren Gesprächen gekommen sein könnte. Am strittigsten (mit 38 Gegenstimmen) war demnach eine Empfehlung, in kulturellen Austausch mit China und in gemeinsame wissenschaftliche Projekte zu investieren. Weniger kontrovers war die Aufforderung, »das gute Verhältnis zu China zu nutzen, um selbstbewusst Menschenrechte, Umweltschutz und faire Handelsbeziehungen zu fördern«. Dass sich Deutschland aufgrund seiner historischen Verantwortung und engen kulturellen Beziehung zu Russland in der EU für ein partnerschaftliches Verhältnis mit dem großen Nachbarn engagieren solle, wurde anscheinend auch heiß diskutiert – mit 117 Stimmen dafür und 25 dagegen aber doch klar angenommen.
Verschiedene Perspektiven sollten gehört werden, doch in einer Ecke, aus der es sonst eher laut tönt, blieb es still. »Rechtspopulistische Meinungen waren gar nicht vertreten«,
Am Ende standen 88% der Bürgerrät:innen hinter dem gemeinsam erarbeiteten Ergebnis. Und die, bei denen das nicht der Fall war, konnten immerhin dem Verfahren etwas abgewinnen: 90% zeigten sich zufrieden oder sehr zufrieden, wie der Soziologe Ortwin Renn berichtet, der den Rat mit einem Team zur Evaluation begleitet hat.
Titelbild: Mehr Demokratie - CC BY-NC-ND 2.0