»Viele Mütter sind einfach durch. Hier hat unsere Gesellschaft versagt«
Der Staat habe Frauen während der Pandemie im Stich gelassen, meint die Soziologin Jutta Allmendinger – und erklärt, wie wir dieses Jahr einer gerechten Gesellschaft näherkommen könnten.
Im Mai 2020 sitzt die Soziologin Jutta Allmendinger in der Talkshow von Anne Will. Olaf Scholz ist auch da, Robert Habeck, die Auto-Lobbyistin Hildegard Müller und natürlich Markus Söder. Zu diesem Zeitpunkt sind Schulen und Kindertagesstätten schon knapp 2 Monate geschlossen. Vieles steht still in Deutschland, doch die Familien rotieren, um den Alltag zwischen Beruf und Kinderbetreuung in den Griff zu bekommen.
In der Talkshow geht es auch um die Coronakrise: Was sie mit der Wirtschaft macht und wie die Politik darauf reagieren muss. Gegen Ende der Sendung richtet die Moderatorin das Wort an die Soziologin: »Frau Allmendinger, hat die Krise Frauen zurückgeworfen?« Die Antwort macht deutlich: Jutta Allmendinger ist wütend. »Frauen erleiden eine entsetzliche Re-Traditionalisierung«. Das Heimchen am Herd sei zurück.
Jutta Allmendinger hat ein ganz gutes Gespür für Formulierungen, die der Gesellschaft schwer im Magen liegen. Dass der Heiratsmarkt Frauen besser bezahle als der Arbeitsmarkt, konstatierte sie schon vor vielen Jahren – als Titelzeile funktioniert das im Jahr 2021 immer noch, was auch zeigt, dass sich in dieser Hinsicht zu wenig getan hat.
Die Soziologin hat aber nicht nur pointierte Formulierungen, sie hat auch die Daten, die diese untermauern. Seit 3 Jahrzehnten untersucht sie, wie Gleichberechtigung erreicht werden kann, aktuell als Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Erkenntnisse ihrer Forschung zum Thema hat sie jüngst
Ein Gespräch über die Folgen der Pandemie für Frauen, falsche Verheißungen des Homeoffice – und darüber, warum sich die Lebensverläufe von Männern mehr denen der Frauen annähern müssen, statt umgekehrt.
Sollten in erster Linie Männer Ihr aktuelles Buch lesen?
Jutta Allmendinger:
Mein Buch trägt den Titel »Es geht nur gemeinsam!«, es richtet sich also an Männer und Frauen. Es ist ein Buch für alle, in dem niemand runtergemacht wird. Männer-Bashing oder Gejammere werden Sie darin nicht finden. Mir war wichtig, ein konstruktives Buch vorzulegen, mit Fakten belegt, in klarer Sprache. Streitschrift und Handreichung in einem.
Sie fordern, dass sich auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit im Wesentlichen die Männer bewegen müssen. Inwiefern?
Jutta Allmendinger:
Das Buch beschreibt anhand meiner eigenen Familiengeschichte die Entwicklung seit dem Jahr 1900. Wir sehen, dass die Lebensverläufe der Männer in dieser Zeit sehr stabil geblieben sind, während sich Frauen immer mehr den männlichen Biografien angepasst haben. Noch mehr Anpassung geht nun nicht mehr. Denn die Sorge für Kinder und um die Eltern, die Hausarbeit, das Engagement für unsere Gesellschaft brauchen schlicht Zeit.
Jetzt sind die Männer am Zug. Es geht darum, die unbezahlte Arbeit gerechter zwischen Männern und Frauen aufzuteilen. Dann wird sich auch im Erwerbsleben viel ändern. Ich bin davon überzeugt, dass dann der Unterschied in den Arbeitszeiten und der geringer und auch die Rentenunterschiede abnehmen werden. Ich bin davon überzeugt, dass mehr Frauen in Führungspositionen kommen, wenn Arbeitgeber sich nicht immer auf Männer als die ununterbrochen Tätigen verlassen können.
Viele junge Männer teilen diese Ansicht. Fragt man sie, erhält man die Antwort: »Wir wollen eine partnerschaftliche Familie. Wir wollen nicht mehr das Leben unserer Väter. Wir wollen nicht verpassen, wie unsere Kinder heranwachsen. Wir wollen unseren eigenen Eltern zur Seite stehen, wenn sie krank sind.« Wir brauchen Strukturen, die Männern helfen, ihre Vorstellungen auch tatsächlich zu verwirklichen.
Welche Hindernisse stehen einer gerechten Aufteilung der unbezahlten Arbeit heute hauptsächlich im Weg?
Jutta Allmendinger:
Es gibt viele kulturelle und strukturelle Gründe, und sie verstärken sich gegenseitig. Schon im Aufbau unseres Sozialstaats ist eine sogenannte funktionale Arbeitsteilung angelegt: Eine Person ist voll erwerbstätig, die andere in Teilzeit. Steuersystem, Mitversicherungen, Halbtagsschulen sind Ausdruck dieses Modells und perpetuieren es. Das muss sich ändern. Und zwar nicht, indem alle Vollzeit arbeiten, sondern dadurch, dass wir Frauen unsere Erwerbsarbeitszeit ein bisschen erhöhen und die Männer sie ein bisschen senken.
»Unsere Gesellschaft hat hier versagt. Ein anderes Wort fällt mir dafür inzwischen nicht mehr ein«
Im Mai 2020 haben Sie in der Talkshow von Anne Will davon gesprochen, dass Frauen durch die Pandemie eine »entsetzliche Re-Traditionalisierung« erfahren würden, Wo standen wir denn vor 3 Jahrzehnten?
Jutta Allmendinger:
In dieser Sendung drehte sich die Diskussion lange um die Abwrackprämie. Ich habe mich gefragt, Es kam mir vor, als würden diese Fragen
Mitte der 80er-Jahre saß ich das erste Mal an Themen wie der ungleichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Als dann im Frühjahr 2020 ohne jeden gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Diskurs alle Kitas und Schulen geschlossen wurden, die öffentliche Infrastruktur von heute auf morgen einfach weg war und man wie selbstverständlich davon ausging, dass die Frauen es schon richten würden, hat mich das kolossal irritiert. Es war wie früher: Frauen bei den Kindern und am Herd. Nun wurden sie sogar noch zu Hauslehrerinnen.
Natürlich haben auch Männer im Homeoffice mehr Betreuungsarbeit übernommen. Viele sagten sogar, Meist wurde dabei auf die proportionale Erhöhung des Männerengagements bei der Kinderbetreuung verwiesen. Aber wenn man bei einem niedrigen Niveau ansetzt, kann der proportionale Zuwachs natürlich viel höher ausfallen. Die Grenzlasten sind anders. Ich habe früher Leistungssport betrieben. Als ich angefangen habe, hatte ich ein Erfolgserlebnis nach dem anderen. Ich musste nur trainieren und war gleich viel besser. Ab einem gewissen Punkt wurde es schwieriger, mich zu verbessern; da half eine Woche Training gar nichts mehr.
Was hat Sie zu diesem frühen Zeitpunkt der Pandemie – als ja noch nicht sehr viele Daten vorlagen – zu Ihrer Aussage gebracht? Welche Effekte hatten Sie bereits beobachtet?
Jutta Allmendinger:
Lena Hipp hatte damals mit ihrem Team am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) bereits eine Datengrundlage geschaffen. Hinzu kamen viele Interviews mit Frauen und jede Menge Beobachtungen. Einige meiner Mitarbeiterinnen mit kleinen Kindern zogen früh die Reißleine und wechselten von den riskanten Karrierewegen in der Wissenschaft in unbefristete Tätigkeiten in der Verwaltung. Ich habe auch Freundinnen, die in Teilzeit wechselten und weniger arbeiteten, da sie es sonst mit Kindern nicht geschafft hätten. Es war leicht zu sehen, was daraus folgen würde.
Tatsächlich war relativ schnell zu beobachten, dass im Verlauf der Pandemie
Jutta Allmendinger:
Nicht nur das! Wir finden auch keine Gutachterinnen mehr. Und Ärzte erzählen, dass gerade sehr gut ausgebildete Frauen, darunter viele Professorinnen, sich jetzt krankschreiben lassen müssen, weil sie es nicht mehr schaffen. Viele Mütter sind einfach durch. Hier hat unsere Gesellschaft versagt. Ein anderes Wort fällt mir dafür inzwischen nicht mehr ein. Wenn ich heute bei Anne Will säße, würde ich noch viel deutlicher werden.
»Ich wäre aus dem Homeoffice heraus ganz sicher nicht in meine Führungspositionen berufen worden«
Oft wird mehr Flexibilität gefordert, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Das Homeoffice wird von vielen nun Sie sehen es, insbesondere für Mütter, eher kritisch. Warum?
Jutta Allmendinger:
Ich sehe das nicht durchgängig kritisch. Ich finde nur, dass die nötige Differenzierung fehlt. Mit Sicherheit erlaubt das Homeoffice eine größere Vereinbarkeit von Beruf und Familie; es wird nun aber auch als Möglichkeit präsentiert, den Gender-Pay-Gap zu schließen, oder den also die unterschiedlichen Arbeitsvolumen, oder als Möglichkeit für Frauen, jetzt besser in Führungspositionen gelangen zu können. Dies alles überzeugt mich nicht im Geringsten.
Warum nicht?
Jutta Allmendinger:
Männer sind uns voraus, sie sind schon in höheren Positionen und können diese wahrscheinlich auch halten. Auch ich werde mit Sicherheit nicht aufgrund des Homeoffice meine Führungsposition am WZB verlieren. Aber ich bin absolut davon überzeugt, dass ich aus einer Homeofficesituation heraus damals nicht zur Bundesagentur für Arbeit oder jetzt hier ans WZB berufen worden wäre. No way!
Es wird davon gesprochen, dass nun das Ende der Präsenzkultur eingeleitet wird. Ich halte das in diesem Zusammenhang für zynisch. Männer sollen mir erst mal vormachen, wie sie aus dem Homeoffice und mit einer Nichtpräsenz Führungspositionen erreichen. Aber Frauen sollen das jetzt schaffen.
Sie befürchten auch, dass sich das Arbeiten von zu Hause negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirkt …
Jutta Allmendinger:
Als Soziologin habe ich mich in den letzten Jahren viel damit beschäftigt, wie es in unserer Gesellschaft zu Vertrauen und Zusammenhalt kommen kann. Hierfür müssen wir andere Menschen erst einmal kennenlernen, rausgehen aus unseren 4 Wänden, sehen, wie sich Eben Vertrauen schöpfen.
In meinem Kiez in Berlin kann ich sehen, was das Homeoffice für soziale Schließungen bedeutet. Die Leute bleiben in ihrem Umfeld und kommen sich dort näher. Zu Beginn der Pandemie habe ich nicht alle meine Nachbarn im Haus gekannt, das ist jetzt ganz anders. Die Besitzer der die kommen mit ihren Angeboten zum Mitnehmen ganz gut durch. Aber die Einzugsbreite der Menschen, die zu ihnen kommen, wird immer kleiner. Die Gesellschaft zieht sich zusammen in kleine Kreise von einander ähnlichen Menschen.
Wir müssen uns also nicht mehr so viel mit Menschen auseinandersetzen, die anders sind als wir.
Jutta Allmendinger:
Genau. Gesellschaftlich ist das ein Horror. Es geht mir hier aber nicht um ein Entweder-oder: Homeoffice oder zurück zur Normalität. Ich bin dafür, dass wir Co-Working-Spaces einrichten. Ich überlege gerade, ob man auch am WZB dezentrale Räume anmieten könnte, um Personen einen Raum außerhalb der eigenen Wohnung anzubieten, der nicht zu weit von der Wohnung entfernt liegt, aber die Zusammenarbeit mit anderen möglich macht, vielleicht auch mit anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen.
»Frauen in allen Parteien finden das Ehegattensplitting unmöglich«
Sie schreiben, dass die deutsche Familienpolitik gleichzeitig in 2 verschiedene Richtungen weist. Warum ist das so – und welchen Effekt hat das?
Jutta Allmendinger:
Ich nenne das im Buch
Auf der einen Seite des Esels liegt ein Heuhaufen, der für die Hausfrauenehe steht, auf der anderen Seite die Erwerbstätigkeit für Frauen und die eigenständige Absicherung. Auf dem einen Haufen liegt das Ehegattensplitting, die nicht zuverlässige Versorgung von kleinen Kindern, weil wir immer noch nicht genug Kindertagesstätten haben, geringfügige Beschäftigung, die kostenlose Mitversicherung. All das sind Dinge, die konstitutiv in unseren Sozialstaat eingelassen sind.
Und auf der anderen Seite haben wir ein neues Unterhaltsrecht. Wenn eine Scheidung ins Haus steht, dann müssen auch Mütter innerhalb von 3 Jahren finanziell auf eigenen Beinen stehen. Frauen können es eigentlich nicht recht machen. Ich zitiere im Buch die zeigt, dass Frauen, die nach der Geburt eines Kindes 10 Monate aussetzen, eher zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden als Frauen, die 2 Monate unterbrechen. Letztere gelten als überambitioniert und kaltherzig.
Kennen Sie das auch aus eigener Erfahrung? Sie standen nach der Geburt Ihres Sohnes auch schnell wieder im Hörsaal.
Jutta Allmendinger:
Ich habe das erlebt, als ich 1994 nach der problemlosen Geburt meines Sohnes einfach mein Semester in München weiterführen wollte. Viele junge Frauen fanden das nicht toll. Und diese Einstellungen sind auch im Jahr 2021 noch verbreitet. Das zehrt an Frauen und macht etwas mit ihnen. Von daher brauchen wir eine Verständigung, wohin wir in der Ausrichtung der Familienpolitik wollen: Wollen wir zu einer 39-Stunden-Woche für alle, ein ganzes Leben lang? Oder wollen wir eine Umverteilung zwischen den hohen Erwerbsarbeitszeiten von Männern und den niedrigeren von Frauen? Das kostet die Wirtschaft keine einzige Stunde, es wäre nur eine andere Verteilung – und Männer müssten ein bisschen mehr
In diesem Zusammenhang geht es viel um Rollenzuschreibungen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es in Sachen Geschlechtergerechtigkeit kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem gibt. Woran liegt das? Fehlt es in Deutschland vielleicht
Jutta Allmendinger:
Ja, wir ziehen noch immer nicht an einem Strang. Und doch gibt es Hoffnung. Jahrzehntelang dachten junge Frauen, dass sie ganz selbstverständlich Karriere machen können. Vergangenes Jahr war das dann anders. Es ging darum, das Führungspositionsgesetz 2 voranzutreiben, sich für die Quote in Vorstandspositionen einzusetzen. Da arbeiteten viele Frauen sehr engagiert mit.
Wir müssen meines Erachtens viel stärker zusammenarbeiten. Frauen in allen politischen Parteien finden das Ehegattensplitting und andere Hindernisse unmöglich. Aber wir kriegen das noch nicht so richtig parteiübergreifend hin. Wir müssen mehr Druck machen.
Meine Vermutung ist manchmal, dass in Deutschland auch eine Art Selbstgefälligkeit eine Rolle spielt. Wir vergleichen uns mit anderen Ländern und denken, andernorts ist die Situation für Frauen viel schlimmer, wir machen das doch schon ganz gut …
Jutta Allmendinger:
Das kann man aber so nicht sagen! Wenn es um Frauen in Führungspositionen geht oder den Anteil von Pflegearbeit, den Männer übernehmen, dann können wir nicht behaupten, dass wir das besonders gut machen. Die Rentenunterschiede zwischen Männern und Frauen sind im europäischen Vergleich sehr hoch. Auch beim Gender-Pay-Gap stehen wir nicht gut da.
Aber vielleicht fühlen wir uns – da stimme ich Ihnen zu – durch den wirtschaftlichen Erfolg und die gute Stellung von Deutschland in Europa über so lange Zeit nicht bemüßigt, auch unsere sozialen und kulturellen Hausaufgaben anzupacken.
Interessant finde ich auch, wie viel Raum Gefühlt wird sich in Deutschland mehr über das Gendern mokiert als etwa darüber, warum es immer noch so schwierig ist, einen Kitaplatz zu bekommen. Warum ist das so?
Jutta Allmendinger:
Das sehe ich auch so. Das ist ein Diskurs, der ablenkt von tatsächlichen Umverteilungen von sozialen Budgets, von Geld und Macht.
Von der Erkenntnis zur Umsetzung: Welche Richtung die Politik jetzt einschlagen muss
Sie schlagen eine 32-Stunden-Woche für alle vor. Welche Probleme würde dieses Konzept lösen?
Jutta Allmendinger:
Mir ist bei der Beschäftigung mit dieser Thematik noch mal aufgefallen, wie weit die Frauen bei der Erwerbsarbeitszeit hinter den Männern liegen. Wenn wir uns den Gender-Pay-Gap oder den Care-Gap anschauen, gehen wir immer davon aus, dass wir diese Lücken schließen, indem Frauen noch mehr wie Männer werden, wenn sie auch 39 Stunden arbeiten. Das ist irgendwie gesetzt. Weshalb denken wir nie darüber nach, wie Männer mehr wie Frauen werden? Das ist doch merkwürdig.
Wir müssen uns fragen, in welcher Welt der bezahlten Erwerbsarbeit wir leben wollen. Eine 32-Stunden-Woche hätte riesige Vorteile, weil die Wirtschaft nichts verlieren würde. Es ist einfach die Arbeitszeit von Männern plus die Arbeitszeit von Frauen, geteilt durch 2. Produktivität nimmt nicht linear mit der Zeit zu, das heißt, man würde wenig von der Produktivität der Männer verlieren. Aber wir würden viel Produktivität von Frauen gewinnen. Und wir würden jede Menge dadurch gewinnen, dass Frauen und Männer in diverseren Teams zusammenarbeiten. Die Wirtschaft wäre dazu gezwungen, Modelle von Führung in Teilzeit oder doppelter Führung zu entwickeln. Das wäre super und auch absolut machbar.
Aber es geht hier ja um viel mehr als um reine Produktivität …
Jutta Allmendinger:
Im Gegensatz zum Homeoffice ist die 32-Stunden-Woche tatsächlich eine Art »Sesam öffne dich«, weil sie dazu führen würde, dass bezahlte und unbezahlte Arbeit gleicher verteilt werden. Arbeitgeber könnten nicht mehr einfach davon ausgehen, dass Männer dem Arbeitsmarkt ständig in Vollzeit erhalten bleiben und die »Zuverlässigen« sind. Es würde dazu führen, dass Frauen, wenn sie die Bedingungen oder Möglichkeiten haben, eher als Führungskraft in Betracht gezogen werden und nicht auf die Mommy-Tracks, sondern tatsächlich auf Leadership-Tracks kommen.
Und dann wären Männer viel eher in der Situation, auch mal allein auf Kinder aufzupassen, das finde ich im Kontext der Diskussion um den Mental Load ganz wichtig. Durch diese strukturellen Rahmenbedingungen würden sich auch kulturelle Zuschreibungen verändern.
Sie haben in Ihrem Lebenslauf vieles gut kombinieren können: Sie sind erfolgreiche Wissenschaftlerin, Führungskraft und Mutter. Lebensläufe wie der Ihre werden oft als Beispiel dafür angeführt, dass für Frauen heute doch längst alles möglich sei und sie eben doch alles haben könnten. Was entgegnen Sie dem?
Jutta Allmendinger:
In einem Interview wurde mir neulich vorgeworfen, dass ich in diesem Zusammenhang so viel über Glück spreche und dass das ein übliches Muster von Frauen sei: nicht über ihre Leistungen, sondern über Glück zu sprechen.
Stimmt. In Ihrem Buch schreiben Sie von Glück und Zufällen.
Jutta Allmendinger:
Natürlich wurde ich damals wegen meiner Leistung in Harvard angenommen. Aber es stimmt auch – und das würde ich, wenn ich das Buch noch mal schreiben würde, klarer machen –, dass Karrieren nicht nur von Leistungen abhängen. In meiner Familie wurde zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt, dass ich Abitur mache, das war schon vor meiner Geburt klar. Ebenso wie es bei meinem Sohn klar war, dass er Abitur macht und studiert. Und das war Glück! Ich konnte mir nicht aussuchen, in welche Umstände ich hineingeboren wurde und mein Sohn auch nicht. Es war Glück, dass meine Eltern früh einen Bausparvertrag für mich anlegten, den ich mir auszahlen lassen konnte, um damit Studiengebühren in den USA zu zahlen, bis ich dort jobben und selbst unterrichten konnte, um mein eigenes Geld zu verdienen.
Und dann gab es Momente, wo ich in der Tat Glück hatte, so wie Männer eben auch oft Glück haben. Zu denken, dass Männer aufgrund von Leistungen und Anstrengungen diese ganzen Führungspositionen besetzen, ist absurd. Alle beruflichen Werdegänge haben sehr viel mit Zufall zu tun: an einem gewissen Ort in einer gewissen Position mit den richtigen Menschen zusammengekommen zu sein.
Das Ziel kann aber nicht sein, dass alle Glück haben, sondern dass unsere Gesellschaft derart strukturiert ist, dass alle ihre Potenziale bestmöglich entfalten können.
Jutta Allmendinger:
Das Ziel ist schon, dass das Glück und auch die strukturellen Voraussetzungen gleich verteilt sind. Es wird immer unterstellt: »Frauen wollen halt nicht.« Gegen diese Aussage bin ich völlig allergisch.
In diesem Jahr stehen Bundestagswahlen an. Welche konkreten Themen und Konzepte sollten im Vorfeld unbedingt gesetzt und besprochen werden, damit wir einer gerechten Gesellschaft näherkommen?
Jutta Allmendinger:
Ich will weg vom Ehegattensplitting hin zur Individualbesteuerung und einer Kindergrundsicherung. Ich will sehen, dass die Tarifpartner Anstrengungen unternehmen, was Tarifierungen von schlecht bezahlten, sogenannten Frauentätigkeiten betrifft. Ich möchte, dass Väter mehr Anreize bekommen, länger in Elternzeit zu gehen. Im Moment sind es 2 Monate, die dann verfallen, wenn die Partner sie nicht nehmen. 4 Monate wären besser. Dann würden sich Väter auch mal alleine um ihre Kinder kümmern und die ganze Organisationsarbeit übernehmen.
Ich möchte, dass die Nachfolge von Familienministerin Franziska Giffey in zukünftigen Krisenkabinetten in der ersten Reihe steht und gehört wird. Dass inklusive Beratungsgremien aufgestellt werden, die alters-, geschlechter- und herkunftsdivers sind. Es sind ganz konkrete Dinge, die ich sehen möchte: dass viel mehr Geld und Anstrengungen in die Kindertagesstätten und Ganztagsschulen fließen. Und endlich auch eine inklusive Beschulung, sodass das, wozu wir uns schon längst in der Menschenrechtskonvention verpflichtet haben, endlich auch gelebt wird.
Das klingt doch nach einem detaillierten Programm! In Ihrem Buch schreiben Sie: »Die Frauen sollten sich der Solidarität untereinander sicher sein.« Wie kann ich, wie können alle Frauen diese Solidarität praktisch gestalten?
Jutta Allmendinger:
Wir müssen das eigene Ich ein bisschen hintanstellen und anerkennen, dass es nur zusammen geht. Ernsthaft miteinander reden, für und nicht gegen etwas eintreten, konkret und verständlich formulieren. Über den Tag, das Hier und Jetzt hinausdenken. Und bitte davon wegkommen, Frauen zu unterstellen, dass sie gar nicht anders wollen. Es gibt strukturelle Hürden. Das nach vorne zu stellen, partei- und sektorenübergreifend, das finde ich wichtig.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.