Wie uns ein gutes Gewissen zu schlechten Taten verführt: Moralisches Lizenzieren
Unser Gewissen funktioniert wie ein Konto. Für gute Taten gibt es Pluspunkte, mit denen wir später kleine Sünden rechtfertigen. Das kann zu abstrusen Ergebnissen führen – und lässt sich doch leicht ändern.
Vegan leben, aber dann nach Thailand fliegen?
Ökostrom beziehen, aber dann den Fernseher auf Stand-by stehen lassen?
Den Leinenbeutel mitnehmen, aber dann in Plastik verpackte Lebensmittel kaufen und mit dem Auto zum nahe gelegenen Biomarkt fahren?
Solche scheinbar widersprüchlichen Verhaltensweisen finden wir wohl fast alle in unserem alltäglichen Verhalten – besonders wenn es um Nachhaltigkeit geht. Wir geben uns viel Mühe,
Auch ich kenne das. Um die Umwelt zu schonen, wickle ich meine Kinder mit waschbaren Stoffwindeln. Gleichzeitig verwende ich aber Wegwerftücher, die sich nicht recyceln lassen. In meinem Kopf klingt das Ganze allerdings etwas anders: Ich benutze Stoffwindeln und vermeide damit so viel Müll, dass ein paar Feuchttücher nicht ins Gewicht fallen.
Wie widersprüchlich mein Verhalten ist, habe ich nicht bemerkt
Diese Art von Ausrede kommt einigen vielleicht bekannt vor: Spart eine vegane Lebensweise nicht so viel CO2 ein, dass ein Flug nach Thailand nicht so sehr ins Gewicht fällt? Und ist der Leinenbeutel nicht so nachhaltig, dass es okay ist, das plastikverpackte Gemüse zu kaufen? Solange ich diese Argumentationsweise nicht hinterfragt habe, hat sie, zumindest für mich, wunderbar funktioniert – wie widersprüchlich mein Verhalten manchmal ist, ist mir dabei lange gar nicht aufgefallen.
Mittlerweile frage ich mich, warum ich so denke – und ob ich überhaupt etwas daran ändern kann? Um Antworten darauf zu finden, müssen wir verstehen, wie unser Gewissen funktioniert.
Das Problem mit dem Moralkonto
Im Prinzip arbeitet unser Gewissen wie ein Konto, bei dem wir genau darauf achten, ob es ausgeglichen ist. Steht das Konto im Minus, etwa weil wir etwas getan haben, was gegen unsere Grundsätze verstößt, haben wir ein schlechtes Gewissen.
Wir empfinden Schuld und möchten etwas tun, um diese wieder loszuwerden. Wenn wir dann etwas Gutes tun und so handeln, wie wir es für richtig halten, schnellt unser Moralkonto wieder ins Plus. Haben wir einen Überschuss guter Taten gesammelt, haben wir das Gefühl, eine Art moralisches Guthaben zu besitzen. Dann plagen uns nicht so schnell Gewissensbisse und wir können uns den ein oder anderen Ausrutscher erlauben – schließlich haben wir mit unseren vorherigen Taten gezeigt, dass wir gute Menschen sind.
Weil wir so denken, entstehen Widersprüchlichkeiten in unserem Verhalten. Wir nutzen unser gutes Gewissen, um (unserer Ansicht nach) weniger gute Entscheidungen oder Handlungen zu rechtfertigen. In der Psychologie wird das als moralisches Lizenzieren bezeichnet.
Moralisches Lizenzieren
Es gibt verschiedene Bereiche, in denen wir Moralpunkte sammeln oder ausgeben: etwa wenn es um Umweltbewusstsein, vorurteilsfreies Handeln oder verantwortungsbewusste Ernährung und Konsum
Eine Studienreihe aus den USA legt nahe, wie solche Denkweisen sogar gesellschaftliche Auswirkungen haben können. In den Untersuchungen, die kurz vor der ersten Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten durchgeführt wurden, wurde ein Teil der
Moralisches Lizenzieren kann Fortschritte verhindern
Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen kann moralisches Lizenzieren zum Problem werden.
Die Maßnahme wirkte und sie sparten 6% Wasser ein. Gleichzeitig verbrauchten sie aber 5,6% mehr Strom als Personen in Wohnungen, die keine Rückmeldung zu ihrem Wasserbedarf bekamen. Die Wissenschaftler:innen vermuten, dass die Freude über die Einsparung beim Wasser zu einem sorgloseren Umgang mit Strom führte. Damit war die positive Wirkung der Kampagne nicht nur hinfällig, sie hatte sogar einen höheren Energieverbrauch zur Folge.
Ein gutes Gewissen gibt es gratis dazu – Moral Labeling
Unser Wunsch nach Rechtfertigung und einem reinen Gewissen ist natürlich auch den Marketingabteilungen bekannt, deshalb liefern viele Produkte die moralische Lizenz gleich mit. Mit Aufdrucken wie »umweltfreundlich«,
Das Problem bei diesem
Die Beispiele machen deutlich, in welchen Bereichen unser Wunsch nach Rechtfertigung zum Problem werden kann. Moralpunkte gegeneinander abzuwägen funktioniert zwar wunderbar in unserem Kopf, hilft in der Realität aber oft nicht weiter. Wenn ich das ganze Jahr über mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren bin und jetzt nach Thailand fliege, ändert das nichts an den Emissionen, die mein Flug verursacht. In der Realität bestehen die Auswirkungen meines Handelns trotzdem. CO2 (oder Strom oder Müll), das ich an einer Stelle gespart habe, gleicht meinen Verbrauch an einer anderen Stelle nicht aus – auch so etwas wie Minus-Strom oder Minus-Müll gibt es nicht.
Moralische Trickkiste – Ich zaubere mir eine Rechtfertigung
Besonders gern greifen wir auf unser Moralkonto zurück, wenn wir mit Entscheidungen kämpfen, die uns einen Verzicht oder besonderen Einsatz abverlangen. Dabei ist es erstaunlich, wie leicht wir Wege finden, um ein paar zusätzliche Moralpunkte auf unser Konto zu laden. Selbst die guten Vorsätze von morgen nutzen wir, um uns heute schon gegen ein schlechtes Gewissen immun zu machen: »Ab der nächsten Woche fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit, da kann ich heute noch mal das Auto nehmen.«
Dass diese Abwägungen nicht immer Sinn ergeben, ist offensichtlich – doch warum genau denken wir dann so?
Woher kommt das Kompensationsdenken?
Im Laufe der Evolution hat sich unser Gehirn deshalb darauf spezialisiert, die Balance in Interaktionen zu berechnen und zu erhalten. Tut uns jemand einen Gefallen, fühlen wir uns verpflichtet, uns dafür zu revanchieren. Auch wenn es manchmal Jahre dauern kann, bis wir die Gelegenheit dazu bekommen, vergessen wir nicht, dass wir eine Schuld zu begleichen haben. So bleiben Beziehungen auch über längere Zeiträume stabil. Weil das Ausgleichsdenken uns so gute Dienste erwiesen hat, wenden wir es auch in anderen Bereichen an, etwa bei moralischem Handeln oder in unserem Verhältnis zur Umwelt.
Solche Heuristiken unterstützen uns dabei, uns in der komplexen Welt zurechtzufinden, ohne überfordert zu sein. Wenn wir es einmal nicht schaffen, uns unseren Werten entsprechend zu verhalten, dann helfen sie, Stress und Schuldgefühle abzubauen und schnell damit abzuschließen. Würden wir uns wegen jedes (unvermeidlichen) Fehltritts mit Schuldgefühlen überladen, würde uns das eher lähmen als weiterbringen.
Was hilft?
Dass wir manchmal versuchen, unser Verhalten zu rechtfertigen, hat also einen guten Grund und ist auch nicht grundsätzlich schlecht. Es heißt aber nicht, dass wir nichts gegen Verhaltensweisen, die uns stören, unternehmen können.
Hast du beim Lesen vielleicht die ein oder andere Situation wiedererkannt, in der du einen Ablasshandel mit dir selbst eingegangen bist, über den du dich im Nachhinein ärgerst? Diese Erkenntnis kann dich dabei unterstützen, solche Denkmuster auch in Zukunft in deinem Verhalten zu bemerken. Dann kannst du bewusst entscheiden, was dir in dieser Situation wirklich wichtig ist.
Sich selbst zu durchschauen, kann helfen, mehr nach den eigenen Werten zu handeln. Dies jederzeit zu 100% zu tun, ist jedoch kaum möglich – auch das anzuerkennen, ist wichtig. Realistischer ist das Ziel, verantwortungsbewusst, nach bestem Wissen und vor allem nach den eigenen Möglichkeiten zu handeln. Was das für jede:n Einzelne:n bedeutet, ist dabei höchst individuell.
Für mich persönlich habe ich beschlossen, beim Wickeln zu Hause wieder auf Waschlappen umzusteigen und die Wegwerf-Feuchttücher eher unterwegs zu benutzen. Außerdem versuche ich, schon direkt beim Einkaufen besser auf meine Rechtfertigungsversuche zu achten – dabei bin ich nämlich besonders anfällig für moralisches Lizenzieren.
Redaktion: Lara Malberger
Dieser Artikel ist Teil des journalistischen Projekts »Tu, was du für richtig hältst!«, das dir helfen soll, dein Verhalten mit deinen Idealen in Einklang zu bringen. Um mehr darüber zu erfahren und herauszufinden, wie groß die Lücke zwischen deinen Idealen und deinem Verhalten ist, klicke hier! Das Projekt erfolgt in Kooperation mit dem Wuppertal Institut (WI) und wird gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).
Mit Illustrationen von Mirella Kahnert für Perspective Daily