Der 10-Punkte-Plan zur digitalen Mündigkeit
Heute im Podcast gegen die Weltuntergangsstimmung: Wie du deine Daten unter Kontrolle bringst
Wo ist das nächste Coronatestzentrum und welche Route nehme ich am besten? Google Maps weiß Bescheid. Wie wird das Wetter in den nächsten Tagen, was koche ich zu Mittag, welches Ausflugsziel lohnt sich am Wochenende? Die Suchmaschine spuckt Vorhersagen, Vorschläge, Bewertungen aus. Zwischendurch ein paar E-Mails beantworten und durch die Feeds von Instagram, Twitter und die Youtube-Trends scrollen. So viel Neues. Worauf klicke ich zuerst?!
Inzwischen dürfte den meisten von uns bewusst sein, dass wir diese Entscheidung nicht anonym treffen; dass uns im Internet wahrscheinlich ständig irgendjemand, irgendetwas über die Schultern schaut – und etwas mit den Informationen anfängt, die beim Suchen, Klicken und Scrollen zutage treten.
Im Überwachungskapitalismus ist uns etwas für die Demokratie Wesentliches abhandengekommen: Souveränität
Aber wer fängt was genau mit den Daten an? Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff gibt eine Antwort, die weit über das hinausgeht, was die meisten wohl erwarten würden. Sie meint: Unternehmen wie Google stehlen menschliche Erfahrungen, machen sie zu Geld – und haben damit das Zeitalter des Überwachungskapitalismus eingeleitet. Darin sei uns etwas abhandengekommen, was für Demokratie wesentlich ist: Souveränität.
Was genau das bedeutet und wie es so weit kommen konnte, darüber sprechen wir in dieser Folge des #vollgut-Podcasts. Aber wir wären nicht der Podcast gegen die Weltuntergangsstimmung, wenn wir uns nicht auch gefragt hätten, wie wir die Kontrolle über unsere Daten zurückerlangen und einen souveränen Umgang mit digitalen Medien üben können. Dafür haben wir die Philosophin und Netzpolitologin Leena Simon vom Verein Digitalcourage angerufen, die uns ihr 10-Punkte-Programm für mehr digitale Mündigkeit verraten hat.
Weil einige von euch lieber lesen als hören, bereiten wir jede Folge als eigenständigen Artikel auf. Unser Podcastarchiv mit allen bisherigen Episoden zum Nachhören findest du nach einem Klick auf diesen Link. Übrigens: #vollgut kannst du auch bei Spotify, iTunes und vielen anderen Anbietern abonnieren.
Willkommen in der Dystopie? Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus
Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus beginnt Anfang der 2000er-Jahre. Die geplatzte
Doch Google schaffte es, das Ruder herumzureißen. Die Firma gewährte anderen Unternehmen Einblick in die Datenlogs seiner Nutzer:innen, damit berechnet werden konnte, wie relevant eingeblendete Werbung für eine bestimmte Person vor dem Bildschirm sein würde – wie wahrscheinlich es also war, dass diese Person am Ende etwas kaufte. Als Google im Jahr 2004 an die Börse ging, waren die Einkünfte des Konzerns um 3.590% (in Worten: dreitausendfünfhundertneunzig!) gestiegen.
»Wenn du nicht für ein Produkt bezahlst, bist du das Produkt« – diese Binsenweisheit dürften die meisten inzwischen schon einmal gehört haben. Autorin Shoshana Zuboff findet das verkürzt: Das eigentliche Produkt von Firmen wie Google seien Vorhersagen über unser Verhalten; über das, was wir später mal kaufen, aber auch fühlen werden. Diese Vorhersagen beruhen darauf, was wir im Internet unter den »Augen«
Das Gefährliche: Aus unseren Daten ergeben sich jede Menge Möglichkeiten, unser Verhalten nicht nur vorauszusagen, sondern auch zu manipulieren. Längst seien Unternehmen von der Beobachtung zur Beeinflussung übergegangen, stellt Zuboff fest. Es gehe beim Sammeln der Daten nicht nur darum, das Produkt oder die Dienstleistung zu verbessern.
Welche Auswirkungen dieses Geschäftsmodell auf das analoge Leben haben kann, zeigen Experimente, die Facebook im vergangenen Jahrzehnt durchgeführt hat.
Wie Facebook seine Nutzer:innen manipulierte – und warum wir uns das gefallen lassen
So erschien im Jahr 2012 eine Studie mit dem Titel
Wie das Team errechnete, mobilisierten die manipulierten Social-Messages bei den Zwischenwahlen 2010 60.000 zusätzliche Wähler; darüber hinaus gaben weitere 280.000 ihre Stimme infolge eines ›sozialen Ansteckungseffekts‹ ab, womit man zusammen auf 340.000 zusätzliche Stimmen kam.
Auch für ein zweites Experiment wurden die Feeds zahlreicher Nutzer:innen manipuliert. In einem A/B-Test bekam eine Gruppe überwiegend positive Nachrichten angezeigt, die zweite überwiegend negative. Facebook wollte herausfinden, ob sich diese Manipulation auf die Stimmung auswirkte und Nutzer:innen daraufhin auch ihr eigenes Verhalten veränderten. Und so kam es. Der Ton eigener Posts bei Facebook spiegelte die positive oder negative Grundstimmung der angezeigten Nachrichten wider. Dem Unternehmen war es gelungen, die Emotionen der Menschen zu manipulieren – ohne deren Kenntnis davon, Teil eines riesigen sozialen Experiments geworden zu sein.
Warum lassen wir uns das alles gefallen? Shoshana Zuboff hat darauf eine einfache Antwort: Wir wissen nichts von alldem. Uns ist nicht bewusst, dass und wie unsere Emotionen und unser Verhalten manipuliert werden. Und genau damit verliert das Individuum seine Souveränität – denn es handelt nicht mehr eigenständig und selbstbestimmt.
Dazu kommt: Wir »arbeiten« quasi umsonst für Firmen wie Facebook und Google, indem wir ihnen mit jeder Aktivität dabei helfen, Algorithmen zu schulen. Unsere Urlaubsfotos in sozialen Medien trainieren Algorithmen, die vielleicht später für Gesichtserkennungssoftware verwendet werden, die sich autoritäre Regierungen zunutze machen könnten. Auch davon wissen wir nichts – es gibt keinen bewussten Austausch darüber.
Unsere Kontrolle holen wir uns deshalb nicht zurück, weil sich die Maschinerie vor uns versteckt – und jede Menge Versprechungen macht.
Die Zukunft, die der Überwachungskapitalismus für uns bereithält, kommt auf leisen Sohlen. Wie die flüsternde Schlange im Garten Eden bedient er sich unseres Sehnens nach Befreiung von Anonymität, Stress, Ungleichheit und institutioneller Gleichgültigkeit. Seine Perspektive ist die der verlockenden ersten Person; in der Sprache von ›Selbst-Ermächtigung‹, ›Personalisierung‹ und ›Bequemlichkeit‹ versichert er uns, Hilfe sei bereits unterwegs.
Die gute Nachricht, die Shoshana Zuboff überbringt: Der Überwachungskapitalismus ist menschengemacht und – auch wenn seine Erfinder:innen uns manchmal etwas anderes weismachen wollen – er kann entmachtet werden. Sie weist darauf hin, dass viele offensichtlich destruktive Märkte bereits illegal sind, darunter der Handel mit Organen, menschlichen Sklaven oder Kindern. Auch der Handel mit unseren Erfahrungen sollte verboten werden, fordert Zuboff.
»Wir sind ein bisschen schlafgewandelt«,
Zeit also, diese zu überwinden und einen Weg aus der zumindest zum Teil selbst verschuldeten Unmündigkeit zu finden! Anruf bei Leena Simon vom Verein Digitalcourage.
Der 10-Punkte-Plan zur digitalen Mündigkeit
Der Verein Digitalcourage setzt sich laut Selbstbeschreibung
Während Shoshana Zuboff den Verlust der Souveränität durch den Überwachungskapitalismus analysiert, spricht Leena Simon lieber ganz konkret davon, wie wir im Umgang mit unseren Daten eine Art digitale Mündigkeit erlangen.
Wenn ich mündig bin, bedeutet das nicht nur, dass ich sicher mit etwas umgehe, sondern auch verantwortlich. Was nicht heißt, dass ich immer alles komplett durchschauen und überblicken muss. Ich kann auch im Supermarkt einkaufen gehen, ohne exakt zu wissen, welche Zutaten in den Sachen sind. Aber ich muss trotzdem in der Lage sein zu erkennen, wenn das Brot schimmelt, damit ich es dann besser nicht kaufe.
Wenn der Supermarkt das Internet ist: Was musst du wissen, um künftig souveräner und verantwortungsbewusster durch die unübersichtlichen Gänge zu navigieren? Das sind Leena Simons Tipps:
1. Die 30-Minuten-Regel
Es gibt keinen Menschen, der auf Anhieb alles versteht, das gilt auch für den Umgang mit digitalen Medien. Aber versuchen sollten wir es doch – und zwar mindestens 30 Minuten,
»Mündigkeit ist ein Muskel, der trainiert werden muss« – Leena Simon
Was helfen kann: Konzentriere dich auf das, was du verstehst, und nicht auf das, was dich überfordert. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass andere Leute vor dir das gleiche Problem hatten und du mit naheliegenden Suchbegriffen Lösungsvorschläge im Internet findest. Wer danach bei einem Computerproblem noch Hilfe braucht, sollte die Lösung nicht komplett einer anderen Person überlassen, sondern wenigstens versuchen, den Weg dorthin nachzuvollziehen. Optimal ist es, wenn du deine Tastatur nicht einfach aus der Hand gibst, sondern dich auf deinem Lösungsweg anleiten lässt.
2. Wähle sichere Passwörter!
Du solltest für jeden Account ein anderes sicheres Passwort haben. Ein guter Tipp für schwer zu knackende Passwörter, die du dir trotzdem leicht merken kannst: Reihe mindestens 4 Wörter aneinander und baue dir dafür eine Eselsbrücke. So formt sich zum Beispiel aus »Esel«, »rot«, »Teekanne« und »Tanz« ein Bild, das du sicher nicht so schnell vergisst.
Du willst mehr konkrete Tipps? Hier verrät dir Dirk Walbrühl, wie er seinen Passwortdschungel gebändigt hat.
Leena Simon empfiehlt Passwortmanager, mit denen du Zugangsdaten für verschiedene Dienste abspeichern kannst. Du brauchst dann eigentlich nur noch ein Passwort – das für den Manager. Simons Open-Source-Tipp:
3. Freie Software nutzen!
Was genau ist eigentlich Open-Source-Software und welche Vorteile hat sie? »Software wird zuerst in Computersprachen geschrieben, die für Menschen verständlich sind, und später in einen maschinenlesbaren Code übersetzt, der für Menschen nicht verständlich ist«, erklärt Leena Simon. »Unfreie Software wird nur in diesem von Maschinen lesbaren Code veröffentlicht. Die Idee der freien Software ist, dass man den für Menschen verständlichen Teil mitliefert.« Ein wichtiger Aspekt der digitalen Mündigkeit, »denn wie soll ich Verantwortung übernehmen, wenn ich gar nicht in meine Programme reinschauen kann?«.
Wenn du jetzt – genau wie wir – denkst, dass dir der Quellcode doch ohnehin nichts sagen würde, dann heißt das noch lange nicht, dass dir der Unterschied zwischen freier und unfreier Software egal sein kann. Simon zieht hier einen Vergleich zum Strafgesetzbuch – der Großteil der Bevölkerung versteht die genauen Implikationen der Paragrafen nicht, aber wenn wir Zugang wollen, können wir die Dienste einer Anwältin in Anspruch nehmen. Leena Simon erklärt die Analogie: »Wenn die Gesetze nicht öffentlich zugänglich sind, dann bewege ich mich in einem totalitären System, und in einem totalitären System kann ich nicht mündig sein.«
Für die meisten Anwendungen gibt es
4. Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) nicht einfach wegklicken
Ob bei einer Onlinebestellung oder beim Herunterladen einer Datingapp – bevor du einen Dienst in Anspruch nimmst, musst du den Geschäftsbedingungen zustimmen. Und die sind oft derart kompliziert und ausufernd formuliert, dass eine genaue Lektüre sämtlicher AGB eigentlich unmöglich ist. »Entmündigung durch Überforderung« nennt Leena Simon das und rät auch hier: Ein bisschen Zeit solltest du investieren, um das Dokument zumindest einmal zu scannen. Extrem lange und unverständliche AGB wollen vielleicht gar nicht gelesen werden – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass sie Unerfreuliches verbergen.
5. Eigensinn verteidigen
Vermutlich jede:r kennt die eine Person, für die immer eine kleine organisatorische Extrawurst gebraten werden muss, weil sie partout nicht in die Whatsapp-Gruppe kommen will, in der die Urlaubsplanung stattfindet – weil sie überhaupt nicht über diese App kommunizieren will. Das sollte respektiert werden, findet Internetphilosophin Simon.
6. Prüfe deine Quelle, bevor du etwas weiterverbreitest
Bevor du bei Whatsapp ein Video weiterleitest oder bei Twitter, Facebook und Co. auf »Teilen« klickst, informiere dich, woher die Inhalte stammen, die du gleich weiterverbreitest. Frage dich, wer davon profitiert, besonders wenn Inhalte starke Gefühle bei dir auslösen. Was konkret helfen kann, wenn du dir nicht ganz sicher bist: Gib die Überschrift der Meldung zusammen mit dem Wort »Hoax« ein (deutsch: »Scherz« oder »Schwindel«, der Begriff wird aber vor allem im Zusammenhang mit Falschmeldungen verwendet).
Bilder werden oft in einen anderen Kontext gesetzt. Seit Beginn des Syrienkrieges kursieren viele
7. Verschlüsseln – wenn es geht
Verschlüsseln heißt, dass normal lesbarer Text – zum Beispiel die Whatsapp-Nachricht an die Tochter – vor dem Versand in ein unlesbares verschlüsseltes Format umgewandelt wird, damit es »unterwegs« nicht ausgelesen werden kann. Dafür gibt es verschiedene Methoden – und Messengerdienste wie Whatsapp, Signal, Threema oder Telegram gehen unterschiedlich mit den Daten ihrer Nutzer:innen um, genauso wie Anbieter von E-Mail-Konten. Auch damit sollte sich jede:r auseinandersetzen, der mündig mit den eigenen Daten umgehen will.
8. Clouddienste vermeiden
Es stimmt schon – auf einer externen Festplatte wären die Daten genauso sicher, es bedeutet nur eben ein bisschen mehr Arbeit, alles Wichtige dort regelmäßig in Kopie abzuspeichern. Noch ein Tipp der Netzaktivistin: Du kannst auch eine eigene Cloud betreiben, beispielsweise über den Anbieter Nextcloud, oder dich für kommerzielle Anbieter entscheiden und die Dateien
9. Entwickle eine Haltung
Du willst die Kontrolle über deine Geräte behalten? Dann informiere dich, was du dafür tun kannst, und gib zum Beispiel deine Passwörter nicht weiter. Das betont Leena Simon immer wieder: wie wichtig es sei, ein Verantwortungsgefühl für den Umgang mit Smartphone, Laptop und Co. zu entwickeln. Stelle dir dabei auch die Frage: Schadet mein Verhalten vielleicht anderen Menschen? Hiermit wären wir auch schon beim letzten Punkt.
10. Zeige dich solidarisch
Vielleicht hast du die Kamera an deinem Handy abgeklebt – aber wenn, dann wahrscheinlich nur die Frontkamera, die gewöhnlich auf dich gerichtet ist. Dabei würde es deinem Umfeld ein Gefühl von Sicherheit verleihen, wenn auch die Kamera auf der Rückseite abgeklebt ist, die sich beispielsweise beim Texten in der U-Bahn auf andere richtet, ohne dass deine Gegenüber wissen, was genau du da gerade machst. Es gibt viele weitere Beispiele: Bei zahlreichen Apps teilst du nicht nur deine eigenen Daten, sondern auch Informationen über deine Kontakte, die wohl in den seltensten Fällen vorher gefragt werden, ob sie damit einverstanden sind (siehe Punkt 4!). Frage dich: Wie sind andere Menschen von meinen digitalen Handlungen betroffen? Das gilt auch für die Wahl der Software oder Dokumentformate, die du verwendest – die andere Menschen möglicherweise nur öffnen können, wenn sie selbst einen Dienst in Anspruch nehmen, den sie entweder nicht unterstützen wollen oder sich vielleicht gar nicht leisten können.
Bis zu einem gewissen Punkt können wir uns den Datenkraken im Netz entziehen – indem wir ihre Dienste nicht mehr nutzen.
In diesem Artikel empfiehlt Dirk Walbrühl 4 Suchmaschinen, die mehr können als Google.
Doch Datenschutz ist keine Privatangelegenheit, daran erinnert Shoshana Zuboff beständig, wenn sie über das Zeitalter des Überwachungskapitalismus spricht.
Wir können etwas für uns tun, indem wir uns aus diesen Systemen zurückziehen. […] Aber die Herausforderung ist eine politische, ein Problem kollektiven Handelns. Wir dürfen uns nicht als anonyme Nutzer verstehen, sondern müssen als Bürger mit gemeinsamen Interessen Bewegungen schaffen, die sich um epistemische Gerechtigkeit bemühen.
Privatsphäre ist also eine politische Herausforderung. Zuboff glaubt daran, dass wir sie bewältigen können.
Podcast-Produktion: Juliane Metzker
Titelbild: Ante Hamersmit - CC0 1.0