Paris’ Utopie für die Zukunft: Die 15-Minuten-Stadt
Ob Einkauf, Arzt oder Kulturtreff, in Frankreichs Hauptstadt soll in Zukunft alles in einer Viertelstunde zu Fuß erreichbar sein. Das soll die Stadt nicht nur sozialer, sondern auch klimafreundlicher machen. Kann sich Europas engste Großstadt wieder einmal neu erfinden?
Als die ersten Straßenlaternen die Pariser Nacht erhellten, wurde Frankreich noch von Sonnenkönig Ludwig XIV. regiert. Mehr als 100 Jahre später, im Jahr 1816, beleuchtete Paris als erste Großstadt der Welt flächendeckend den öffentlichen Raum. Und seit der Internationalen Weltausstellung im Jahr 1900, als auch der Eifelturm in Glühbirnen gekleidet erstrahlte, ist Paris als Ville lumière, die Stadt der Lichter, bekannt. Heute, im Jahr 2021, flackern die Lichter einsam in den leeren Straßen der französischen Hauptstadt.
Coronabedingt gilt ab 19 Uhr Ausgangssperre: Die Läden schließen, Schüler:innen radeln hastig nach Hause, die Bahnsteige der Metro, um diese Uhrzeit normalerweise völlig überlastet, leeren sich. In Vierergruppen schlendert die Gendarmerie durch die Gassen und sorgt dafür, dass niemand zurückbleibt. Danach gehört die Stadt denen, die noch arbeiten: den Blaulichtern, den Leuchtwesten der Essenskuriere, den Straßenkehrer:innen, Krankenschwestern, Taxifahrer:innen. Doch irgendwann werden auch sie den Nachhauseweg antreten.
Wie lang dieser ist, hängt meist vom Einkommen ab. Wer sich keine Einzimmerwohnung für 600 Euro im Monat leisten kann, lebt außerhalb in einem der Vororte, vom echten Paris abgegrenzt durch die Periphérique, die Ringautobahn.
Doch in diesen ruhigen Nächten steht Paris nicht ganz still; es bereitet sich vor auf die Zukunft. Was wird schlüpfen aus diesem Kokon? Die Macher:innen wollen die Hauptstadt ins nächste Jahrhundert katapultieren: klimafreundlicher soll sie werden, gerechter und lebendiger. Dafür steht in dieser Verwandlung nicht das Licht im Vordergrund, sondern die Zeit. Paris soll die Stadt der Viertelstunde werden.
In 15 Minuten durch die Stadt
Spulen wir ein Jahr zurück. Im März 2020 finden in Paris Kommunalwahlen statt. Die Sozialistin Anne Hidalgo siegt bei historisch niedriger Wahlbeteiligung und behauptet sich für ein zweites Mandat. Kern des Programms ihrer Liste
Carlos Moreno leitet den Lehrstuhl
- Wohnen
- Arbeiten
- Einkaufen
- Ärztliche Versorgung
- Ausbildung
- Persönliche Entfaltung
Seit über 40 Jahren beschäftigt sich Moreno mit komplexen Systemen und nachhaltiger Stadtentwicklung. Freundlich und enthusiastisch beschreibt er den Boden, aus dem seine Idee erwachsen ist: »Die Stadt der Viertelstunde ist ein Vorschlag für eine nachhaltige Stadtentwicklung: realisierbar, erträglich und fair. In einem globalen Kontext der Umwelt-, Gesundheits- und Demokratiekrise bietet die Planung der urbanen Nähe eine Antwort auf diese Herausforderungen, indem sie auf die Verbesserung der Lebensqualität zielt.«
Das entscheidende Stichwort ist räumliche Nähe: Diese bringt Zeitgewinn – und Zeitgewinn erhöht die Lebensqualität, so seine einfache Gleichung:
Nähe ermöglicht einen harmonischen und selbstbestimmten Lebensrhythmus. Das geht Hand in Hand mit dem Abbau von Stress, der Zivilisationskrankheit des 21. Jahrhunderts. Nähe fördert Geselligkeit und Soziabilität, also neue Möglichkeiten, sich im sozialen und kulturellen Leben der Nachbarschaft zu engagieren.
Paris, die riesenkleine Hauptstadt
Paris ist mit einer Wirtschaftsleistung von über
Weil die Distanzen in Paris so klein sind, eignet sich das Modell der Viertelstunde besonders gut für die französische Hauptstadt. Mit seinen 20 Arrondissements ist die Stadt zudem so strukturiert, dass sie einem Netz mehrerer Dörfer ähnelt. Für
Wir möchten die fehlenden Funktionen in bestimmten Vierteln ausgleichen, indem wir das nutzen, was vor Ort vorhanden ist, ohne die bebaute Quadratmeterzahl zu erhöhen und die Stadt weiter zu verdichten. Die Gestaltung der Stadt muss entlang dieser ›Urbanen Allgemeingüter‹ erfolgen. Orte der Öffentlichkeit, die zu Mehrzweckräumen werden. Das betrifft kommunale Einrichtungen, öffentliche Plätze und das sogenannte ›Erdgeschoss der Stadt‹ wie Schulhöfe.
Je diverser das Angebot, desto zugänglicher die Stadt: öffentliche Gärten, Brunnen, Spielflächen, kulturelle Einrichtungen und Ausgehmöglichkeiten. Ohne all das wäre die Dichte nur Überfüllung.
Diese Maxime der Diversifizierung gilt nicht nur auf Bezirksebene, sondern auch für einzelne Straßen und Immobilien. Sind in einem Block sowohl Wohnungen als auch Läden, Unternehmen und Praxen untergebracht, werden diese Orte lebendig und die Menschen sind weniger auf motorisierten Transport angewiesen. Das soll auch gegen
Ein Vorbote namens Corona?
So sieht die Theorie aus. Oder besser gesagt: So sah sie aus. Denn dann kam die Coronapandemie, die Paris, wie so viele andere Städte, lahmlegte. Doch entgegen der Erwartung hat die Pandemie die Transformation der Stadt nicht etwa gebremst, sondern beschleunigt. Die einst dynamische, mobile und ständig unter Zeitdruck stehende Bevölkerung der Stadt merkte in den ersten Wochen des Lockdowns rasch, wie klein die Welt ist. Ist das ein Vorgeschmack auf die Zukunft, die Bürgermeisterin Hidalgo für Paris vorschwebt?
Carlos Moreno sieht einen entscheidenden Unterschied zwischen der Coronastadt und der Stadt der Viertelstunde. In seiner Vision sei die Nähe freiwillig gewählt, während Corona den Menschen die Eingrenzung aufgezwungen hat. Diese Situation habe vielmehr gezeigt, wie groß der Bedarf und die Notwendigkeit eines angenehmen, lokalen Lebensumfeldes seien.
In der Tat, während der ersten beiden Lockdowns – vom 17. März bis zum 11. Mai und vom 30. Oktober bis zum 15. Dezember 2020 – durften Bürger:innen ihre Angelegenheiten nur in unmittelbarer Nähe erledigen. Dafür errichtete die Stadtregierung mit gelben Klebestreifen und Plastikkegeln temporäre Fahrradwege. Sogar die große Ost-West-Achse der Stadt, die Rue de Rivoli, wurde gesperrt und in eine 4-spurige Fahrradautobahn verwandelt.
Von heute auf morgen sind Parkplätze verschwunden, um Gehwege zu erweitern: »La Ville de Paris élargit les trottoirs pour faciliter vos déplacements«, lautet es auf einem schiefhängenden Schild auf einer Absperrung: »Die Stadt Paris verbreitert die Bürgersteige, um eure Fortbewegung zu erleichtern.« Daneben eine leere Terrasse, ebenfalls auf ehemaligen Parkplätzen errichtet; sie gehört zum im Mai 2020 eingeführten Programm »Terrasses ephemeres«, »vorübergehende Terrassen«. Damals konnten Restaurants und Bars unter bestimmten hygienischen Bedingungen wieder öffnen. Bis Juni 2021 können Geschäfte diesen zusätzlichen Platz nutzen.
Fahrradwege, Terrassen, Bürgersteige: Das Auto ist der große Verlierer in dieser Geschichte. Immerhin bedeckt die Automobilinfrastruktur mehr als
Die Stadt erkannte aber schon vor Corona, dass der Alltag in der dicht bevölkerten Metropole auch gut ohne Auto zu meistern ist. In den letzten
Die Verwaltung hat ihre Planung deshalb in den letzten Jahren an den Rückzug des Autos angepasst, schon lange vor Amtsantritt von Anne Hidalgo. Wurden Plätze früher als Verkehrsknotenpunkte und die hierzulande sehr beliebten Kreisverkehre erdacht, werden sie heute eher als Oasen für Fußgänger:innen gestaltet. Ob die Place de la République, die Place de la Bastille oder die Place de la Nation: All diese großen historischen Knotenpunkte sind heute Versammlungsplätze aller Generationen.
Neue Orte des Zusammenkommens
Über die räumliche Organisation hinaus nimmt die Solidarität der Stadt der Viertelstunde in Paris schon heute verschiedene Formen an: Unterstützung von Freiwilligen, Hilfsangebote für ältere Menschen, Nachbarschaftsnetzwerke.
Elisa und Garance arbeiten seit einem Jahr ehrenamtlich in einem Stadtkiosk des 12. Arrondissements, dem einzigen Kiosk, der aktuell geöffnet ist. Sie verkaufen nicht etwa Zeitungen oder Zigaretten: »Wir sind hier ein Ort des Ankommens und des Austauschs«, erklärt Elisa. Die junge Italienerin kam für ihr freiwilliges soziales Jahr nach Paris und arbeitet jetzt am Kiosk. »Wir bieten hier unterschiedlichen Vereinen einen Platz, damit diese direkt mit den Einwohner:innen in Kontakt kommen. Im Moment teilen sich 4 Organisationen den Stundenplan: Nachhilfe für Schüler:innen, eine Begleitung in der digitalen Welt für Senioren, eine Fahrrad-Pannenhilfe und ein Reparatur-Café.«
Der Stadtkiosk wurde schon 2015 durch das »Budget participatif« finanziert, eine Art Bürgerhaushalt der Einwohner:innen. Dadurch wurden bis heute über 2.500 Vorschläge konkretisiert, die für eine bessere Lebens- und Umweltqualität sorgen sollen. Auch Schulen wandeln sich zu schlagenden Herzen der Quartiere, die vielfältige Funktionen erfüllen: Außerhalb der Schulstunden werden Schulhöfe zugänglich für alle, abends finden Kurse und Aktivitäten statt.
Der Größenwahn des Grand Paris
Die Verwandlung in die Stadt der Viertelstunde strahle aus dem Kern über die Stadtgrenzen hinaus, sagt Carine Rolland, die für die Verwaltung an dem Projekt arbeitet: »Die Idee ist, die Gebiete zueinander zu öffnen und sicherzustellen, dass die Bezirke miteinander kommunizieren. Das gilt vor allem für die an die Periphérique angrenzenden Stadtteile, die wir zu den Vororten öffnen wollen, um so ein homogenes Groß-Paris aufzubauen.«
Anders als viele deutsche Städte datiert der Großteil der urbanen Struktur von Paris aus den Jahren 1860–1914.
Zu dieser Zeit wurden auch die Vororte an Paris angeschlossen, die heute längst im Körper der Stadt aufgegangen sind: Montmartre, Belleville, Bercy.
Was heute gemeinhin als Paris bezeichnet wird, erstreckt sich jedoch weit über diese »Peripheriques« hinaus. In unabhängigen Kommunen wie Saint Denis, Cergy oder Montreuil reihen sich Ein- und Zweifamilienhäuser entlang von Autobahnen. »Die Realität der Pariser Metropole ist von der Vielzahl von Pendelfahrten zwischen der Hauptstadt und ihren Vororten bestimmt«, sagt Moreno. In diesem enormen suburbanen Raum sind die Mobilitätswende und die Stadt der Viertelstunde noch weit entfernt: Hier besitzen fast 8 von 10 Haushalten ein Auto.
Die Politik hatte diesem Wildwuchs im Laufe der Zeit wenig entgegenzusetzen und konnte die Expansion schlecht steuern. Auch das hat historische Gründe: Die administrative Ebene gilt schon immer als die Achillesferse von Paris. Fast 100 Jahre lang gab es nicht einmal einen gewählten Bürgermeister. Die Hauptstadt stand unter Aufsicht der Präfektur, einer Verwaltungseinheit, die direkt vom Zentralstaat kontrolliert ist. Formell ist auch Anne Hidalgo nur Bürgermeisterin von 2 der fast 12 Millionen Einwohner:innen der Metropole.
Als Reaktion auf dieses Behördenvakuum entstand 2016 die Metropolregion Grand Paris, angetrieben vom damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Mit der Rechtsform einer Metropolregion sollen die 131 Kommunen auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie Berlin, enger kooperieren. Doch für Passalacqua ist der Versuch misslungen. Das moderne Paris ist abhängig von seinen Vororten, in die es gigantische Infrastrukturbausteine wie Flughäfen, Datencenter und Shoppingmalls verlegt hat. Paris braucht diese »Service-Städte«, die die Vororte für sich allein niemals bräuchten.
In erster Reihe gegen den Klimawandel
Die Kritik an diesen Monokultur-Stadtteilen, die das Umland von Paris prägen, ist nicht neu. Schon in den 60er-Jahren attackierte Jane Jacobs, US-kanadische Aktivistin, Journalistin und
Diese Aufteilung fragmentiert die Stadt und das Leben: Soziale Isolierung und Einsamkeit dominieren. Innenstädte, die all die Kultureinrichtungen und Einkaufsmöglichkeiten aufsaugen, sind tagsüber übervölkert, bei Nacht jedoch gespenstisch leer.
Dieses Modell ist nicht nur ökologisch und sozial problematisch, sondern auch finanziell: Je älter die massive Infrastruktur wird, desto größer werden die Instandhaltungskosten. Immobilienpreise sind für Büros und Haushalte unbezahlbar, der ewige Konflikt zwischen Stadt und Land spaltet die Gesellschaft.
Es wäre aber kurzsichtig, das 15-Minuten-Modell von Moreno in Anbetracht dieser Probleme als utopisch abzutun. Urbaner Raum bedeckt zwar
Passalacqua begrüßt die neue Mentalität der Stadtplanung, in der Zugänglichkeit vor Mobilität kommt. Er findet, es sei Zeit, »die Illusion zu durchbrechen, dass wir unseren Horizont unendlich erweitern können, dass wir immer schneller werden und immer mit größeren Entfernungen leben können«.
Wie damals die Beleuchtung der Nacht den Rhythmus der Stadt neu definierte, sieht er es als Schlüssel für die zukünftigen Herausforderungen von Paris, dieses alte Wachstumsparadigma zu durchbrechen.
In Frankreich ist die mediale Resonanz mittlerweile groß und die französische Hauptstadt ist Teil eines globalen Plans. Das kanadische Ottawa hat ein ähnliches Konzept vorgelegt: Bis 2046 soll die »15-minutes-Neighborhood« errichtet werden. Melbourne soll dieses Ziel bis 2050 erreichen, dort unter dem Namen »Living locally – 20 minute neighbourhoods«. Auch Barcelona und Mailand stellen Zukunftspläne auf, die die Lebensqualität in den Vierteln steigern sollen.
Kopenhagen und Utrecht haben bei der Mobilität schon 20 Jahre Vorsprung. Doch die französische Hauptstadt will federführend im Kampf gegen den Klimawandel werden; hier fand 2015 schließlich die bedeutendste Klimakonferenz der Geschichte statt, die COP21.
Ob Paris nun weltweit als Stadt der Viertelstunde bekannt wird oder die 15-Minuten-Theorie nach ihrem aktuellen Ruhm wieder in den Schubladen verschwindet, wird die Zukunft zeigen. Sicher ist: Der Wille zum Fortschritt brennt weiter in Paris, genau wie die Lichter in der Ville lumière.
Redaktion: Felix Austen
Dieser Artikel ist Teil des journalistischen Projekts »Tu, was du für richtig hältst!«, das dir helfen soll, dein Verhalten mit deinen Idealen in Einklang zu bringen. Um mehr darüber zu erfahren und herauszufinden, wie groß die Lücke zwischen deinen Idealen und deinem Verhalten ist, klicke hier! Das Projekt erfolgt in Kooperation mit dem Wuppertal Institut (WI) und wird gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).