Warum du viel Klopapier kaufen solltest, wenn du ein Online-Magazin gründest
Wir wagen das! Vor genau einem Jahr begann unsere Crowdfunding-Kampagne. Statt wissenschaftlicher Karriere also ein Unternehmen gründen. Ein Einblick in unsere emotionale Achterbahnfahrt.
Erwartungsvoll beobachte ich den Durchgang zum Flur. Ich wippe unruhig mit den Füßen auf und ab. Krankenhaus-Geruch liegt in der Luft. So lang kann das mit dem Röntgen doch nicht dauern … Endlich kommt er um die Ecke, den Arm im Gips, er ringt sich ein gequältes Lächeln ab. Und das alles, weil das Toilettenpapier alle war …
So beginnt unsere Crowdfunding-Kampagne
Auf dem Rückweg vom Krankenhaus gebe ich noch ein Radio-Interview am Telefon, wir kommen an einer Kirche vorbei. Es ist Sonntag. Der Tag, an dem wir die Kontrolle über die Idee von Perspective Daily aus den Händen geben: 10 Wochen Crowdfunding-Kampagne liegen vor uns. Das Ziel: 12.000 Mitglieder sammeln, die an die Idee glauben.
Die Gefühle, die wir mit dem Tag verbinden, könnten unterschiedlicher nicht sein: Angst, Freude – aber auch Wut und Stolz. Der Anfang der emotionalen Reise, die vor uns liegt. Das gibt uns manchmal das Gefühl, eine gespaltene Persönlichkeit zu haben.
Die Familie hofft, die »Phase« gehe bald vorbei
Ziemlich genau 1 Jahr lang haben wir auf diesen Tag hingearbeitet – natürlich ohne von Beginn an zu wissen, wann er stattfinden würde. Aber die Idee für Perspective Daily ist noch viel älter, sie bringt uns zurück an den Küchentisch in London. Wir redeten mal wieder über die großen Themen unserer Zeit: Globale Erwärmung, Migration, wachsende Ungerechtigkeit. Die Größe der Fragen bildete einen seltsamen Kontrast zu den 1,5 Quadratmetern Küchentisch. Welche Angst wiegt mehr?
»Zum Gründen seid ihr viel zu jung. Dafür braucht ihr Erfahrung und Geld.«
Wir haben unsere Sachen gepackt, London den Rücken gekehrt und in den Abendstunden und an den Wochenenden an ersten Ideen gefeilt. Bis wir den Job an den Nagel hängten und besorgte Familienmitglieder noch hofften, dass sei eine Phase, die sicher bald vorbeigehe.
Vorm Crowdfunding hatten wir eine lange Liste mit Dingen angelegt, die wir vor dem Start abhaken wollten. Auch darauf: prominente Unterstützung. Am ersten Abend mit eingegipstem Arm
Dazu das Wirrwarr aus Emotionen. Angst beim Gedanken: Was passiert, wenn wir es nicht schaffen? Freude, wenn uns während unserer Kampagnen-Tour quer durch Deutschland wildfremde Menschen Mut zusprechen, wenn sie vor Begeisterung ein Funkeln in den Augen haben. Wut, weil es nicht so schnell geht, wie wir uns erhoffen, weil wir uns missverstanden fühlen, weil uns unterstellt wird, nur über Positives berichten zu wollen. Stolz, als wir am 28. März um 10.13 Uhr den Mitgliederzähler sehen: 12.003. Inklusive Feuerwerk auf der Website, das unsere Programmierer und Designer nachts heimlich eingebaut haben. Wie oft haben wir vorher die F5-Taste gedrückt, um dann die 12.000 doch zu verpassen.
Zum Feiern bleibt wenig Zeit, bis die Angst wieder angeschlichen kommt: Und jetzt? Jetzt prasseln mehr als 12.000 Erwartungen auf uns ein.
Brauchen wir ein Schlafsofa im Büro?
Jetzt heißt es tatsächlich: Mitarbeiter anstellen, Verträge schließen, Redaktionsabläufe finden. Artikel schreiben, ein »Produkt« entwickeln, durchdesignte, funktionstüchtige Website inklusive. Und nebenbei Büromöbel, Computer und Kaffeemaschine organisieren. Nicht zu vergessen: ein Büro! Draußen wird es wärmer und die 3 kleinen Räume an der Universität, die wir zu dem Zeitpunkt nutzen, sind der wachsenden Teamgröße längst nicht mehr gewachsen. Nach wochenlanger Suche beziehen wir am 1. Mai mit geliehenem Transporter, gebrauchten Möbeln und vereinten Kräften unsere Redaktion.
»Als Gründer musst du flexibler als ein Zirkusakrobat sein.«
Auch ein Sofa ist dabei. Wir machen Witze über die Ausklapp-Funktion. »Als ob jemand im Büro schlafen würde …« Der erste Einsatz des Ersatzbetts lässt nicht lange auf sich warten. Denn unsere Kalkulation ist knapp bemessen. Wir haben uns ein paar Beispiele von anderen Projekten angeschaut und optimistisch geplant: Die haben 6 Monate für die Website gebraucht? Das müssen wir in 3 Monaten schaffen. Mehr als 1 Million für das erste Jahr? Wir haben eine halbe. Der mentale Taschenrechner läuft immer mit und Ausgaben rechnen wir in Mitgliedschaften um. Wir sehen Perspective Daily irgendwo zwischen Graswurzel und innovativem Medienunternehmen.
Der Druck wächst, das Emotionskarussell schaltet einen Gang höher. Gegen die Angst hilft ein Partner, der die Ängste kennt.
Die Freude, die wir im Raum zu spüren glauben, wiegt die Angst auf: Mit dem ganzen Team sind wir 2 Tage in den Teutoburger Wald gefahren und sprechen im Schnelldurchlauf geplante Abläufe und Funktionen durch. Auch wenn der minutiös geplante Tagesablauf uns alle beansprucht, spricht eine aus, was wir alle denken: »Ich bin einfach super froh, hier zu sein.«
Der Ärger, wenn wir das Gefühl haben, an alles gedacht zu haben, aber dann doch ein Glied in der Kette nicht mitspielt, weil einige Formalitäten länger dauern, als unsere Geduld hält. Wut über uns selbst, wenn wir an unsere eigenen Grenzen stoßen. Wir müssen den Start verlegen und ein Mitglied reagiert mit einer wütenden E-Mail. Da tun sich kommunikative Grenzen auf: Das Mitglied erwartet, dass wir unser Versprechen halten, wir arbeiten am Limit.
Am 21. Juni ist es so weit. Das Schlafsofa ist gut eingelegen. Pünktlich zum Anstoß des EM-Spiels Deutschland gegen Nordirland drücken wir, umrundet von einem jubelnden Team, einen kleinen Knopf auf einem Laptop, um »live« zu gehen. Für eine Launch-Party gibt’s weder Geld noch Zeit, hatten wir gemeinsam in großer Runde beschlossen. Aber unser Team überrascht uns und der Praktikant steht schon am Grill, selbstgemachtes Büffet und Kerzen-Dekoration inklusive. Wir sind stolz.
Gerade, als wir denken: »Mehr geht nicht!«, schalten wir zwangsläufig noch einen Gang höher. Denn jetzt heißt es: Jeden Tag einen Artikel veröffentlichen.
Aus Ohnmacht wird Weisheit
Der Artikel will nicht nur geschrieben, sondern auch korrigiert und gesetzt werden, sodass alle Zusatzinformationen und Quellen im Perspective-Daily-Design stimmen, Illustrationen, Bilder und vielleicht noch eine interaktive Landkarte dazu passen. Das Lektorat steigt den Autoren aufs Dach, weil die Frist mal wieder nicht eingehalten wurde. Die Nachtschichten gehen allen an die Substanz. Und zwischendurch ist kein Toilettenpapier im Büro.
Also wieder zurück ans Reißbrett und einige Abläufe neu überdenken. Ein paar Schrauben gedreht und siehe da: Es geht! So gehen wir einen Schritt zurück und 2 kleine nach vorn.
»Aber reich wirst du damit sicher nicht!«
Parallel sind wir über die Grenzen der Republik als Botschafter für den Konstruktiven Journalismus unterwegs. Das Team wird größer und verändert sich, laufend sind 2 bis 5 Praktikanten dabei. Der Tag, an dem wir die Kontrolle über die Idee Perspective Daily aus den Händen gegeben haben, ist weit weg. Wir lernen die Ohnmacht im Angesicht dieses Gefühls als Weisheit zu schätzen: Wir sind nur die Anlaufstelle, für alle Menschen, die Perspective Daily ermöglichen. Da, wo die Fäden zusammenlaufen.
Die laufen immer, 7 Tage die Woche. Wir haben deshalb in den letzten Monaten nicht nur unsere Familien vernachlässigt, sondern auch Freunde verloren. Manchmal schauen wir uns an und haben Angst, nicht mehr »abschalten« zu können. Wer uns vorschlägt, wir könnten doch »ruhig einen Abend weniger ins Theater oder Kino gehen, um an einer zusätzlichen Sitzung teilzunehmen«, erntet Wut. Unsere Kinobesuche des letzten Jahres kann ein Armloser an seinen Fingern abzählen. Aber: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, diesen Weg zu gehen. Doch am Küchentisch die Entscheidung zu treffen ist etwas anderes, als mittendrin zu stecken.
Und dann, wenn das Gefühl der Angst und die Fragezeichen im Kopf zu gewinnen drohen, klopft es sachte an der Tür: »Wir finden, ihr solltet eine Woche wegfahren.« Angst, Freude und Stolz zugleich, als es darum geht, die Redaktion für ein paar Tage aus der Hand zu geben und das Ergebnis aus der Ferne bestaunen zu können.
»Ich probiere viel stärker, verschiedene Perspektiven zu verstehen und nicht alles aus meinem Blickwinkel zu sehen.« – Mitglied von Perspective Daily
Auch wenn unsere eigene inhaltliche Arbeit gefühlt immer zu kurz kommt, erfüllt sie uns mit Freude. Schließlich sind wir dafür angetreten und merken, dass der konstruktive Ansatz funktioniert. Nicht nur für uns, sondern auch für die Mitglieder. Als jemand in der Redaktion in großer Runde
Und jetzt?
2. Januar 2017. 0.24 Uhr. Also schon 3. Januar. Am Telefon habe ich unsere Lektorin, die über die Qualität eines Artikels klagt, parallel passe ich einen neuen Mitarbeitervertrag an. Am Klopapier scheitert es nicht mehr. Han hat vorgesorgt.
Die emotionale Achterbahn ist geblieben. Wut über Unverständnis, wenn wir über Birnen (Konstruktiven Journalismus) reden, aber behauptet wird, wir sprächen über Äpfel (Wohlfühlnachrichten). Freude über das Vertrauen der Mitarbeiter, eine Anekdote im Büro beim gemeinsamen Mittagessen im Konferenzraum. Aber auch über das Vertrauen der Mitglieder und Unterstützer, die unsere Arbeit ermöglichen.
Stolz, ohne »Vitamin B« ein Online-Magazin aufgebaut zu haben. Und stolz über die Erkenntnis, dass Kommunikation eine Herausforderung ist, die wir nur teilweise kontrollieren können. Wir haben keine Kontrolle über das, was das Gegenüber draus macht, haben aber die Möglichkeit, aus Missverständnissen zu lernen und unsere eigene Nachricht zu schärfen. Fürs nächste Mal.
Denn das gibt es ganz bestimmt. Angst und Unsicherheit sind immer da. Egal, bei welchem Projekt und bei welcher Lösung, die jemand umzusetzen versucht. Wer es anders macht und die sicheren 1,5 Quadratmeter des heimischen Küchentisches verlässt, weiß: Sobald eine Hürde genommen ist, stehen die nächsten 2 bereit.
Wir sind kein kleines Team mehr, sondern mehr als 14.000 Menschen, die gerade erst anfangen, zu #zeigenwasgeht.
Das Titelbild ist während unserer Kampagnen-Tour beim Stopp in Nürnberg entstanden.
Titelbild: Perspective Daily - copyright