Unterwegs im feuchten Traum der Ökos
Es war einmal ein ganz normaler Landkreis, in dem Bürger, Politiker und Unternehmen gemeinsam die Energiewende stemmten. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Wir sind im Märchenland vorbeigefahren.
Das Auto klingt wie ein Raumschiff. Statt eines zündenden Motors hören wir einen freundlichen Akkord, als wir den Startknopf hinterm Lenkrad drücken. Und dann,
Eigentlich hat das Elektroauto, mit dem wir an diesem Tag unterwegs sein wollen, einen »Range Extender« – einen Zusatzakku, der die Reichweite auf etwa 240 Kilometer erhöhen soll. Kälte ist jedoch der natürliche Feind des
Wir verlassen Münster auf der A1 gen Norden und als die ersten Windräder am Horizont auftauchen, fahren wir ab. Nach gut 30 Kilometern sind wir in Steinfurt – einer beschaulichen Stadt, über die
Was ist das für eine Gegend, die weitgehend unbeachtet zum Vorreiter in Sachen Energiewende und Transformation wird? Und was passiert dort überhaupt? Wir sind einfach mal klimaneutral hingefahren und haben uns ein Bild davon gemacht.
Der Kreis Steinfurt existiert in dieser Form seit 1975, als im Rahmen einer
Der neue Mann im alten Elektrizitätswerk
Diese Frage kann am besten Ulrich Ahlke beantworten: Wir haben von vielen Seiten aus dem Kreis immer wieder gehört, dass er seit Ende der 90er-Jahre Visionär, Triebfeder und Botschafter der Transformation im Kreis ist. Das Elektroauto ruckelt sanft über das Kopfsteinpflaster in der Steinfurter Innenstadt, bevor wir das denkmalgeschützte ehemalige Elektrizitätswerk erreichen. Als wir den gefliesten Vorraum betreten, kommt uns bereits ein schmaler, grauhaariger Mann mit runder Nickelbrille entgegen: Hausherr Ulrich Ahlke. »Das Amt für Klimaschutz und Nachhaltigkeit sitzt in dem Gebäude, wo vor 100 Jahren der erste Strom der Region erzeugt wurde«, erklärt er uns. »Insofern ist das ein symbolträchtiger Ort für das, was heute hier geschieht.« Mit dem Amtsleiter koordinieren hier insgesamt 18 Frauen und Männer die Energiewende im Kreis – Ahlke fügt hinzu, das sei in Deutschland das größte Team auf Kreisebene, das sich nur um die Nachhaltigkeit kümmert.
Vom Vorraum aus betreten wir einen klassenzimmergroßen Saal, der regelmäßig auch für Infoveranstaltungen genutzt wird. Hinter den Aufstellern und Plakaten, die die kreisweite Initiative
Zu Filterkaffee und Plätzchen unterhalten wir uns am Besprechungstisch in Ahlkes Büro: »Join the Revolution / support Uli / save our planet« steht auf einer bunten Collage, an einer anderen Wand hängt ein Landschaftsgemälde mit Windrädern und ein Kalender mit einem Merkel-Porträt. Auf dem Schreibtisch stehen eine Schalke-Tasse und eine kleine Buddha-Statue zwischen Aktenordnern und Unterlagen.
Selbst ein überzeugter Grüner, beschäftigt sich Ahlke seit Jahrzehnten mit Nachhaltigkeit, zitiert den Nachhaltigkeitspapst und Soziologen
Ulrich Ahlke sagt, er finde wichtig,
Die Energiewende, so sein Tenor, müsse sich auch finanziell für die Bürger und Unternehmen auszahlen, »denn man kann nicht erwarten, dass die Menschen ehrenamtlich ein Millionenprojekt stemmen.«
Viele Projektanträge, Infoveranstaltungen und Entscheidungen später stehen so viele Windturbinen und Fotovoltaikanlagen in der Gegend, dass beispielsweise die
Um dorthin zu kommen, hat Ulrich Ahlke abseits der Behördenstrukturen ein eigenes
Landkreise stehen als Verwaltungsebene in Deutschland zwischen Kommunen und Bundesländern und haben für sich genommen ziemlich wenig zu sagen – umso wichtiger ist die Koordination, die Ahlkes Amt wahrnimmt. Es hilft den 24 Kommunen des Kreises bei Projektanträgen – zum Beispiel hat das Amt Steinfurt und Rheine zu
Gerade berät Ahlke den Landkreis München zu der Frage, wie die Energiewende dort gestemmt werden könnte. Mit 20 Jahren Erfahrung hat Steinfurt einen gewissen Entwicklungsvorsprung. »Was Landkreise oder auch große Städte angeht, sagen andere von uns, spielen wir mit in der Champions League«, sagt Ahlke.
Windräder, so weit das Auge reicht
Zu Fuß im Stadtzentrum von Steinfurt unterwegs, haben wir nicht unbedingt das Gefühl, gerade durch das Epizentrum der ländlichen Energiewende zu laufen. Normal und unscheinbar wirkt das Städtchen mit seinen Backsteinhäusern, kleinen Läden und Restaurants. Wir wollen sehen, wo wirklich etwas passiert, also setzen wir uns in unser E-Auto (gönnen uns ein bisschen Sitzheizung, der Akku ist schließlich noch mehr als halb voll) und fahren in Richtung Rheine aus dem Stadtkern hinaus.
Nach dem Ortsausgangsschild wird das Land weit und hinter den winterkahlen Bäumen rücken eine Fotovoltaik-gedeckte Scheune und einige turmhohe Windräder ins Bild. Sie gehören zum Windpark Hollich, dessen 35 Anlagen 77,5 Megawatt
Als wir aussteigen, kommt uns aus dem Windrad ein Mann in schwarzer Goretex-Jacke entgegen: Friedhelm Dennemann vom Windpark Hollich, der hier gerade nach dem Rechten gesehen hat. Was er erklärt, passt gut zur Idee von Ulrich Ahlke, dass sich die Energiewende für die Menschen finanziell lohnen muss: Der Windpark gehört den Bürgern – jeder Bewohner der Region kann für 1.000 Euro Anteilsscheine erwerben. Für die zweite, wesentlich leistungsstärkere Hälfte des Windparks, die zwischen 2011 und 2016 aufgestellt wurde, fanden sich mühelos über
Heute ist es fast windstill, deshalb summen die grauen Technikschränke im Windrad nur leise vor sich hin. In der 3-Megawatt-Anlage ist es spürbar kälter als draußen, der hohle Turm aus Stahl und Beton gewährt einen Blick bis ganz nach oben, über 130 Meter. Wer ein spezielles Klettertraining absolviert hat, kann hier mit dem Aufzug zur Nabe hochfahren. Die Wartung ist nicht aufwendig und wird von einem externen Dienstleister übernommen, trotzdem schaut Dennemann oder einer seiner Kollegen hin und wieder vorbei. »Die Windenergieanlage ist betriebsbereit«, bestätigt ein DIN-A4-großes Schild in grüner Druckschrift.
Mit im Boot: Die Wissenschaft
Vom Erzeuger zum Verbraucher: Zurück im Auto drehen wir das Schalträdchen hinterm Lenkrad auf »R« und wenden auf der Eisfläche vor dem Windrad. Wir sind etwas spät dran, also drücken wir aufs Gaspedal. Der linke Bordcomputer zeigt die restliche Reichweite an: 89 Kilometer.
Wir sind mit Professor Christof Wetter verabredet, der die Transformation im Landkreis wissenschaftlich begleitet und an der Fachhochschule Münster, Außenstelle Steinfurt, den Fachbereich »Energie Gebäude Umwelt« leitet. Das Hochschulgelände ist größer, als man es bei einer 33.000-Einwohner-Stadt erwarten sollte, und damit nicht genug: Auf dem Außengelände sind einige Hauscontainer aufgestellt, die weitere Unterrichtsräume beherbergen.
Christof Wetter begrüßt uns in seinem Büro im Dachgeschoss eines lang gezogenen, zweistöckigen Baus. Wer wissen will, wie vielfältig die Projekte im Landkreis sind, erhält einen kleinen Einblick aus einer seiner Grafiken: Darin sind die bislang 20 Kooperationen des Kreises mit der FH nach
Wir fragen Christof Wetter, ob sich daraus eine Vorreiterrolle ergibt. »Soweit ich das beurteilen kann, spielt Steinfurt eine herausragende Rolle. Wenn ich Vorträge in anderen Regionen Deutschlands halte, ist man beeindruckt, wie weit wir hier sind. Einen sensationellen Unterschied zu anderen Regionen gibt es hier erst mal nicht.« Entscheidend war, was die Steinfurter in den vergangenen 20 Jahren aus ihren durchschnittlichen Grundvoraussetzungen gemacht haben.
Besonders ist die Beteiligung der Bevölkerung: Bei Infoveranstaltungen füllen sich mühelos die größten Hallen des Kreises. Wetter schätzt, dass sich Hunderte, peripher Tausende Menschen einbringen. »Die Akteure kennen sich untereinander, das hat was von Klassentreffen.« Von Menschen, die sich gegen die Transformationsprozesse stellen, weiß Wetter spontan nichts.
Die Streber vom Kreis Steinfurt
Unseren letzten Termin an diesem Tag haben wir bei einer Gemeinde, die sich sogar überdurchschnittlich stark engagiert: In Saerbeck, einem Ort von 7.200 Einwohnern. Die Wintersonne steht tief über dem gefrorenen Münsterland. Hinter dem Beifahrerfenster tauchen eine alte Windmühle und ein modernes Windrad auf; während wir fahren, verschieben sich die Perspektiven gegeneinander. Der Fahrspaß weicht langsam dem Blick auf die Reichweiten-Anzeige. Wir ärgern uns, dass wir erst beim Abschied erfahren haben, dass vor Christof Wetters Institut eine Ladesäule für unser Elektroauto gewesen wäre. Die Sonne klettert hinter kahlen Laubhainen den Horizont hinunter.
Der Himmel ist abendrot, als wir in Saerbeck ankommen. »NRW-Klimakommune«, heißt uns das Ortsschild willkommen. Die Gemeinde will schon
Die Einstiegsfrage, was aus seiner Sicht die wichtigsten Meilensteine in Sachen Nachhaltigkeit seien, ist keine, die der Amtschef in wenigen Sätzen beantworten kann. Die ersten Schritte datiert der parteilose Wilfried Roos auf 2002, als die Schulen begannen, Turnhallen und Räume anhand der Belegungspläne automatisiert zu beheizen und zu beleuchten. Auch die Folgen der Erderwärmung waren früh Thema: »Wir haben in Saerbeck 2 Bäche, die potenzielle Gefahrensituationen bei Starkregen-Ereignissen darstellen«, sagt Roos. Seit 2004 gibt es einen »Retentionsraum mitten im Ort«, also eine beckenartige Freifläche, die statt der Keller volllaufen kann.
Als Vorbereitung auf einen NRW-weiten Wettbewerb reichten die Bürger 150 Vorschläge ein, wie die Gemeinde nachhaltiger werden kann. Einige fanden Eingang in ein Konzept, das der Gemeinde vor 60 Kontrahenten 2009 zum Titel »NRW-Klimakommune« verhalf. Jetzt startete Bürgermeister Roos eine Kampagne, die die Bürger zur energetischen Sanierung ihrer Häuser motivieren sollte: Er beauftragte einen Leistungskurs der Gesamtschule, Infoschreiben zu formulieren. »Die enorm hohe Rücklaufquote von 40% zeigte, die Leute haben es kapiert«, sagt Roos heute. Viele Haushalte beauftragten Handwerker, mittlerweile gibt es auch ein Nahwärme-Netz, die »gläserne Heizzentrale«. Auf den Dächern der Saerbecker liegen so viele
Elektrizität und Wärme sind in Saerbeck also schon lange vor 2030 ziemlich nachhaltig, in Sachen Mobilität sieht Roos noch Nachholbedarf: »Da haben wir dieselben Probleme wie überall im Land.« Die Autoindustrie sei in der Pflicht, Roos selbst fährt einen Hybrid-BMW, »aber wenn ich da einen größeren Kofferraum will, bleibt mir bei dem Hersteller kaum eine Wahl.«
Ein Großprojekt der Gemeinde ist der Bioenergie-Park – ein in Folge des
Für den Bioenergie-Park investierten die Saerbecker Bürger in eine Genossenschaft, gemeinsam mit weiteren lokalen Trägern sammelten sie 70 Millionen Euro ein. Wilfried Roos sagt, die Unterstützung aus dem Kreis sei nicht allzu groß – andererseits wurde zum Beispiel die »gläserne Heizzentrale« aus Steinfurter Fördermitteln finanziert.
Abfahrt, zur Ladestation
Als wir uns von Roos verabschieden, hat unser Elektroauto nichts von einer gläsernen Heizzentrale: Ehrlich gesagt, trauen wir uns auf den verbleibenden 64 Kilometern Reichweite erst gar nicht, die Heizung anzudrehen. Bis Münster sind es zwar nur gut 30 Kilometer, aber man weiß ja nie. Liegen bleiben mit einem E-Auto ist bestimmt nicht schön und es nützt auch nichts, wenn der ADAC mit einem Kabel überbrückt. Wir sind erleichtert, als wir die Redaktion erreichen und den Wagen an die 220-Volt-Steckdose hängen. Es ist noch einiges zu tun in Sachen Energiewende. Schön, wenn es Vorbilder gibt.
Dies ist der erste Teil unserer Doppelreportage aus dem Landkreis Steinfurt. Welche Faktoren zum Erfolg beigetragen haben und was davon auf andere Regionen übertragbar ist, liest du morgen bei Perspective Daily.
Besten Dank an das BMW Autohaus Hakvoort in Münster, das uns das Elektroauto für diese Recherche kostenlos zur Verfügung gestellt hat.
Titelbild: David Ehl - copyright
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Die Website der Kampagne des Landkreises Steinfurt.