Sie ist 18 Jahre alt und will für die FDP in den Bundestag. Dies sind ihre Themen
Noreen Thiel kandidiert zum ersten Mal für den Bundestag. Sie will für eine andere Bildungspolitik und die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten kämpfen. Ihr Antrieb: eigene Erfahrungen
Sie wollen künftig über ihre eigene und unsere Zukunft mitbestimmen. Bei der Bundestagswahl treten längst nicht nur erfahrene Bundespolitiker:innen an, manche stehen am 26. September zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem schier endlos langen Wahlzettel. Manche sind abgesichert auf aussichtsreichen Listenplätzen, andere dagegen als Direktkandidat:innen in schwierigen Wahlkreisen. Wir stellen euch in den kommenden Wochen einige Menschen vor, die das hohe Haus demokratisch erobern möchten.
Was sind ihre Ziele und Hoffnungen? Was motiviert sie überhaupt, Politik zu machen? Die Gründe sind so vielfältig wie die Parteifarben der Bewerber:innen. Den Anfang in dieser Serie macht Noreen Thiel. Sie ist im brandenburgischen Spremberg geboren und war 17 Jahre alt, als sie die FDP überraschend zu ihrer Direktkandidatin im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg machte – einer Hochburg der Linkspartei.
Gesine Lötzsch von der Linkspartei hält hier seit 2002 das Direktmandat. Warum sich Noreen Thiel dennoch optimistisch in den Wahlkampf stürzt, sie Schule in Deutschland zentral organisieren will und weshalb sie ganz offen mit ihrer eigenen psychischen Erkrankung umgeht, erzählt sie hier im Interview.
Benjamin Fuchs:
Auf schreibst du, das Aufstiegsversprechen in Deutschland werde oft gebrochen: »Familiärer, finanzieller und sozialer Hintergrund bestimmen eben leider so stark wie in kaum einem anderen Land, wohin es für dich gehen kann.«
Noreen Thiel:
Als ich angefangen habe, mich für Politik zu interessieren, stand ich zwischen der FDP und SPD. Mir hat aber das Lebensgefühl der SPD total missfallen. Es war und ist so gar nicht jugendlich. Es hat mich nicht angesprochen, gerade weil es sehr versteift wirkte und mich als Individualistin nicht ansprach. An der FDP mag ich dieses Gefühl des Aufschwungs: Du bist selbstständig, kannst dich frei entfalten und darin habe ich mich wiedergefunden. Ich war von klein auf immer recht selbstständig.
Du sagst, dass du nicht die besten Startbedingungen hattest. Was meinst du damit?
Noreen Thiel:
Ich komme nicht aus einem akademischen Haushalt, wie man das vom Klischee-FDPler vielleicht erwartet. Meine Mama ist gelernte Friseurin, aber arbeitet nicht mehr in dem Beruf. Ich bin die erste im engeren Familienkreis, die studiert. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, gab es immer eine offene Kommunikation zwischen meinen Eltern und mir darüber, dass wir aufs Geld achten müssen und dass ich nicht die neueste Nintendo haben kann.
»Ich wurde in der Schule nie in dem gefördert, worin ich Talent habe«
Du schreibst, Wie würdest du das ändern wollen?
Noreen Thiel:
Was in Deutschland fehlt, ist ein förderndes Bildungssystem, das sich nicht so anfühlt, als sei es aus dem letzten Jahrhundert. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, gab es keine Lehrer, die mir geholfen haben, meinen Weg zu finden und ihn dann auch zu gehen. Die Lehrer waren oft sehr überfordert und spulten seit Jahren wie ein Rekorder dasselbe runter.
Schule muss Ziele klarer definieren. Nicht jeder muss unbedingt Abi machen. Eine Ausbildung oder ein Meisterabschluss sind völlig legitim und werden viel zu selten von Lehrern überhaupt ins Spiel gebracht. Auf dem Gymnasium heißt es aber immer: Du machst Abi und danach gehst du studieren.
Trotz erschwerter Startbedingungen hast du aber dein Abi geschafft, bist studieren gegangen, engagierst dich politisch … Zeigt das nicht, dass es doch geht?
Noreen Thiel:
Nicht jeder Mensch hat so viel wie ich. Ich bin erst nach der Schule aus dem Kreis rausgekommen, in dem ich aufgewachsen bin. Also raus aus der kleinen Welt in Cottbus, wo ich gewohnt habe, und hin zu Menschen, die in größeren Dimensionen und Möglichkeiten gedacht haben und auch mich unterstützt haben. So konnte ich mehr aus mir machen. Ich bin trotz der Schule und nicht dank der Schule da, wo ich bin. Ich wurde in der Schule nie in dem gefördert, worin ich Talent habe. Während ich Schülerin in der Oberstufe war, habe ich meine Wochenenden in Berlin mit Politik verbracht. Meine Lehrer haben mir gesagt: Du wirst dein Abi nicht schaffen, aus dir wird nichts.
Du gehörst zu einer Generation, die den Klimawandel voll mitbekommen wird. Warum FDP und nicht Fridays for Future?
Noreen Thiel:
Ich denke, dass Fridays for Future sich mehr von linksradikalen Gruppierungen wie abgrenzen sollte. Andererseits ist das schon eine unglaublich wichtige Gruppierung, um der Welt aufzuzeigen: Wir haben da ein Thema und das ist wichtig und wir können jetzt nicht noch 10 Jahre herumdoktern, bis es zu einer Lösung kommt. Solche Gruppen sind dazu da, um auf wichtige Themen aufmerksam zu machen, vielleicht auch Forderungen zu stellen. Aber die Gesetze werden in den Parlamenten von Parteien gemacht und deswegen engagiere ich mich in einer Partei.
»Wir setzen auch beim Klimaschutz auf die Überzeugungskraft«
Wie wichtig findest du es, auch für eine Partei wie die FDP, die Klimakrise in der Politik mitzudenken?
Noreen Thiel:
Es ist unheimlich wichtig. Man muss anerkennen, dass es eines der wichtigsten Themen unserer Zeit ist und dass jede Partei da ihre Ideen hat. Die eine ist besser und die andere ist schlechter. Aber man muss nicht gleich, nur weil eine Idee nicht der eigenen Ansicht entspricht, diese grundsätzlich als falsch und schädlich deklarieren. Die FDP hat ein ziemlich gutes Klimaprogramm, die Grünen aber auch. Nur setzen wir auf völlig andere Dinge bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen. Das sehen die Grünen sehr anders. Und das ist auch in Ordnung. Es bringt nichts, Klimapolitik gegen den Willen der Menschen zu machen. Wenn du Menschen zu etwas zwingst, bewirkst du nichts.
Deutschland ist ein altes Land, die meisten Politiker:innen sind deutlich älter als du. Warum sollten auch junge Menschen auf der großen Bühne Politik machen?
Noreen Thiel: Ich als 18-Jährige kenne die Probleme von 12–18-Jährigen aber weitaus besser als ein 60-Jähriger. Ich erlebe diese Dinge gerade selbst, ich bin Teil davon. Das große Problem für mich in der Politik ist, dass ich wegen meiner Lebenserfahrung unterschätzt werde. Ich will Bildungspolitik machen. Politik für junge Menschen, damit die sich nicht über das aufregen müssen, worüber ich mich die letzten Jahre so aufgeregt habe. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Fridays for Future war ja ein Paradebeispiel dafür, dass jungen Menschen in Deutschland zu lange nicht zugehört wurde.
Du arbeitest jetzt neben dem Marketingstudium im Bundestag. Was machst du da?
Noreen Thiel:
Zum einen betreue ich die Social-Media-Kanäle von Jens Brandenburg, und für die FDP-Fraktion arbeite ich auch im Social-Media-Team. Nebenbei arbeite ich auch selbstständig auf Auftragsbasis im Bereich Medienproduktion.
Wie bekommt man denn einen Job im Bundestag?
Noreen Thiel:
Eine gute Freundin, die ich von den JuLis (Junge Liberale) und aus dem Parteikomplex kenne, arbeitet auch dort. Sie wusste, dass ich nach dem Abi einen Job suchte, hat mich vorgeschlagen und dann hat es gleich gepasst.
Du bist jetzt Bundestagsdirektkandidatin in Oft bekommen ja eher verdiente Parteimitglieder einen Zuschlag. Wie bist du mit 18 Jahren Bundestagskandidatin geworden?
Noreen Thiel:
Ich wusste, dass die FDP Lichtenberg noch niemanden für den Wahlkreis hatte und habe scherzhaft zu meinem Freund gesagt, dass es lustig wäre, wenn ich mit 17 für den Bundestag kandidieren könnte, haha. 2 Wochen später bekam ich einen Anruf, ob ich mir die Kandidatur vorstellen könne. Irgendein Dritter habe mich empfohlen und gesagt: »Die kann das, die ist gut. Lass sie mal machen.« Nach einer Bedenkzeit habe ich dann zugesagt. Eine Woche später wurde ich mit 100% gewählt.
Was für eine Verbindung hast du zu Lichtenberg?
Noreen Thiel:
Als ich letztes Jahr nach Berlin gezogen bin, habe ich zuerst in Lichtenberg gewohnt. Jetzt wohne ich in Marzahn, eine U-Bahn-Station weiter. Ich habe Lichtenberg zu schätzen gelernt in seiner Diversität. Ich habe die Probleme, wie die unzuverlässige ÖPNV-Anbindung nach Berlin-Mitte oder die schwierige Suche nach einem neuen Arzt als Zugezogene, auch selbst mitbekommen. Daraus kann ich für meine politische Arbeit auch Ziele und Verbesserungsvorschläge ableiten.
»Mein Wahlkampfziel ist, junge Menschen zu motivieren und zu begeistern«
Zuletzt hat Gesine Lötzsch von den Linken mit 34,8% das Direktmandat geholt. Der letzte FDP-Kandidat bekam 3,4%. Das sieht nach einem ziemlich dicken Brett aus und du stehst auch nicht auf der Landesliste der FDP. Wie schätzt du deine Chancen ein?
Noreen Thiel:
Klar, ich habe keine realistische Aussicht auf ein Mandat. Es ist für mich in Ordnung, wenn es nicht direkt mit dem Bundestag klappt. Mein Wahlkampfziel ist eher, junge Menschen zu motivieren und zu begeistern. Zum einen für liberale Politik, aber auch für Politik generell. Ich will zeigen: »Hey, da sind nicht nur alte Leute, sondern es gibt auch junge Leute mit neuen Ideen, die etwas bewegen wollen. Und wenn du willst, kannst du das auch.« »Diese Menschen haben es verdient, mehr von dem zu behalten, was sie sich erarbeitet haben«
Was möchtest du tun, um diesen Wahlkreis zu vertreten?
Noreen Thiel:
Mit meinen Themen Bildung, psychische Gesundheit und sozialer Aufstieg kann ich für den Bezirk unglaublich viel auf Bundesebene leisten. Es geht darum, Bildung deutschlandweit auf eine Ebene zu heben, sodass es völlig unabhängig ist, wo du herkommst, um deinen Weg zu gehen. Bildung und sozialer Aufstieg gehören für mich zusammen. Und damit auch deren Kinder. Der Staat ist super aufgebläht und braucht diese Menge an Steuergeldern nicht.
Für andere Bereiche, wie Bildung, wird aber durchaus Geld gebraucht. Man könnte doch auch denjenigen, die sehr viel besitzen, mehr wegnehmen als denen, die wenig haben, und denen, die wenig haben, mehr Förderung zukommen lassen.
Noreen Thiel:
Das könnte man natürlich. Ja, man kann darüber streiten, inwiefern welche Art von Steuern und Abgaben legitim ist. Aber wenn du super hohe Steuern in Deutschland für Großunternehmen erhebst, dann hauen die ab. Und dann können wir gucken, wo wir mit der Wirtschaft bleiben. So funktioniert Globalisierung und das muss uns bewusst sein. Reichensteuern sind populär, aber in meinen Augen auch Schwachsinn.
Die FDP hat in der letzten Regierungsbeteiligung bis 2013 vor allem den Eindruck hinterlassen, eine wohlhabende Klientel zu bedienen, Stichwort das Mehrwertsteuersenkungen für Hotelübernachtungen brachte. Wie denkst du darüber?
Noreen Thiel:
Als die FDP 2013 aus dem Bundestag geflogen ist, hat sie gelernt, dass man eben nicht nur wirtschaftsorientierte Politik betreiben kann, sondern dass Politik aus wesentlich mehr Themen besteht. Ich habe zur FDP gefunden, weil ich gesehen habe, dass es auch um Bildung, Soziales, Digitales geht. Ich war unglaublich stolz, als die FDP auf dem Bundesparteitag psychische Gesundheit in ihr Wahlprogramm geschrieben hat. Es ist für mich absolut keine Selbstverständlichkeit, dass eine deutsche Partei das Thema in den Fokus rückt.
Du möchtest den Bildungsföderalismus abschaffen. Wo siehst du ansonsten noch Bedarf?
Noreen Thiel:
Es ist wichtig, dass wir in der digitalen Realität dieses Jahrhunderts ankommen. Dieser Papierkrieg muss beendet werden. Wenn ich an meine Schulzeit denke, war das Digitalste daran die Pause, weil ich dann mein Handy benutzen durfte.
Und wir sollten unbedingt weg vom Denken, dass wir menschliche Lexika ausbilden, die alles auswendig können und am Ende dann doch nur »Bulimie-Lernen« betreiben – Informationen schnell lernen und dann wieder vergessen. Ich habe das gehasst, abgrundtief. Weil mir das, was ich gelernt habe, zum einen nicht interessant vermittelt wurde und es mich zum anderen auch nicht wirklich interessiert hat. Aber ich musste es lernen, um es wiedergeben zu können. Nicht der Zugang zu Wissen ist ein Problem, sondern es fehlt an Techniken, um mit der Masse an Information umzugehen.
Lass uns über psychische Gesundheit sprechen, eines deiner zentralen Felder. Warum ist dir das Thema so wichtig?
Noreen Thiel:
Es liegt an persönlicher Betroffenheit. Ich bin selbst seit 2016 in Therapie, psychisch krank entsprechend schon länger. In den letzten Jahren Therapie habe ich damit zu leben gelernt. Mir ist es ein Anliegen, andere zu ermutigen und auf die Situation dieser Menschen aufmerksam zu machen. Es wird so unglaublich viel tabuisiert, stigmatisiert und runtergespielt. Dabei gibt es eine Masse von Menschen, die psychische Erkrankungen haben. Wir brauchen eine bessere Versorgung und bessere Hilfsangebote im therapeutischen psychologischen Rahmen.
Darf ich fragen, worum es bei dir konkret geht?
Noreen Thiel:
Es ist eine Essstörung, die nicht weiter definiert werden kann. Es war wohl zwischenzeitlich eine Anorexie. Aber es ist zusätzlich noch etwas anderes. Dann habe ich diverse Phobien, Ängste und depressive Episoden.
»Irgendjemand muss doch anfangen, über psychische Erkrankungen zu sprechen!«
Fällt es dir schwer, darüber zu sprechen?
Noreen Thiel:
Mir ist es nicht schwergefallen, ehrlich gesagt. Ich habe irgendwann mit meinem Therapeuten gesprochen und er hat gesagt: »Wenn du irgendwann mal Politik machen willst, erzähl’s keinem. Die machen dich fertig. Die zerlegen dich.«
Und dann dachte ich mir: Ja gut, dann mache ich das trotzdem. Und wenn alle so viel Bock darauf haben, mich fertigzumachen, dann sollen sie das bitte machen. Aber irgendjemand muss doch anfangen.
Was muss passieren, damit es künftig anders läuft?
Noreen Thiel:
Wir brauchen Entstigmatisierung und Aufklärung: Du musst dich nicht dafür schämen, wenn du psychisch krank bist, denn du kannst nichts dafür. Ich wünschte, ich hätte es nicht. Aber es ist ein Teil von mir und das muss ich akzeptieren.
Außerdem brauchen wir mehr Therapeuten. Und das passiert im Wesentlichen, wenn wir am Versorgungsschlüssel anpacken. Der wurde 1990 beschlossen und deckt definitiv nicht die aktuellen Fälle an ab.
Was wünschst du dir für die Zeit bis Ende September?
Noreen Thiel:
Wenn ich mir aktuell Twitter anschaue, hoffe ich auf einen fairen Wahlkampf, bei dem nicht auf Äußerlichkeiten oder irgendwelchen äußeren Merkmalen rumgehackt wird, wie wir es jetzt schon erleben. Aber ja, ich hoffe und freue mich auf einen Wahlkampf, in dem es um Inhalte geht und nicht darum, wer heute schon wieder falsch geatmet hat.
Hier findest du das Interview mit Seija Knorr-Köning von der SPD, die dieses Jahr ebenfalls zum ersten Mal für den Bundestag kandidiert – in den nächsten Wochen bis zur Wahl folgen weitere Gespräche.
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!