Zeitwohlstand für alle! Wie wir endlich tun, was uns wirklich wichtig ist
Wie sähe ein Leben aus, in dem wir nicht ständig unsere Akkus wieder aufladen müssten? Perspective-Daily-Autor Stefan Boes denkt in seinem neuen Buch über eine Gesellschaft nach, in der wir genug Zeit für uns und für andere haben. Lies hier einen exklusiven Auszug.
Es gibt einen Zeitpunkt im Jahr, an dem besonders deutlich wird, dass viele unserer größten Wünsche aus einem Mangel an Zeit resultieren. In einigen Monaten, wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt, werden wir uns wieder unsere persönlichen Vorsätze für das neue Jahr überlegen. So, als wohne jedem Neujahrstag ein Zauber inne, der das Leben verändern kann.
Bei der Studie der DAK-Gesundheit fällt aber noch etwas anderes auf, was auf den ersten Blick wenig mit unserem Umgang mit der Zeit zu tun hat. Bei den Vorsätzen für das Jahr 2020 fand sich erstmals ein zuvor kaum genannter Wunsch weit oben in der Liste. Rund 2/3 der Befragten wollten noch etwas ändern: Sie fassten den Vorsatz, sich künftig umwelt- und klimafreundlicher zu verhalten. Die Umweltbewegung Fridays for Future hat im Jahr 2019 eine politische Jugend sichtbar gemacht. Doch es war jetzt die Mehrheit der Bevölkerung, die sich motiviert fühlte, nachhaltiger zu konsumieren. Viele schienen verstanden zu haben, dass die Ressourcen der Erde begrenzt sind und ihre Erschöpfung unsere Lebensgrundlage bedroht. Das Ziel einer ökologischen Lebensweise war in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Unser Problem mit der Zeit scheint ähnlich gelagert zu sein. Die Vorsätze, weniger Stress zu haben und die Zeit sinnvoller zu nutzen, deuten auf den Wunsch hin,
In unserem Leben ist der Faktor Zeit die wichtigste Währung, die wir haben und mit der wir handeln. Wir können uns nie sicher sein, wie groß unser Depot an Zeit ist, das uns letztlich wirklich zur Verfügung stehen wird. Gerade deswegen ist es so wichtig, dass Sie Ihre Zeit optimal nutzen. Statt sie für die falschen Menschen oder die falschen Dinge auszugeben, die Ihnen nicht guttun, seien Sie sparsam.
Auf dem Buchmarkt versprechen zahlreiche Autor:innen Techniken, um das eigene Zeitmanagement zu optimieren. Der vielsagende Titel einer Publikation lautet beispielsweise: »7 nachhaltige Prinzipien und 24 konkrete Methoden, mit deren Hilfe du dein Zeitmanagement verbessern kannst und langfristige Effekte für dein Leben erzielst«. Oder die Ratgeber erklären uns, wie wir unsere Produktivität steigern und unsere Selbstorganisation verbessern können. Es gibt sogar »Erfolgreiches Zeitmanagement für Dummies«, der schlecht organisierte Menschen in zeitsparende mit perfekter Tagesplanung verwandelt. Die Idee ist immer die gleiche: Wer ein erfolgreiches Leben führen will, muss effizient mit der eigenen Zeit umgehen. Denn wenn wir sie schlecht genutzt haben, ist sie für immer verloren.
Obwohl diese Denkweise sehr verbreitet ist, zeigt sich beim genaueren Blick auf die Zeit, dass sie nicht ganz zutrifft. Denn anders als natürliche Ressourcen wie Kohle oder Öl, die sich durch ihren Verbrauch erschöpfen, bleibt die Zeit immer gleich. Wir können ihr nichts entnehmen wie einer Kohlehalde. Sie wächst auch nicht nach wie ein Wald. Wir können sie nicht sammeln oder sparen. Zeit fließt dahin, unbeeindruckt davon, wie wir sie nutzen. Egal was und wie schnell wir etwas machen: Es ist nicht möglich, Zeit zu gewinnen, ebenso wenig, wie wir sie verlieren können.
Auf der ständigen Suche nach Sinn und Erfüllung erschöpfen wir unsere eigenen Ressourcen.
Wenn wir von einem schonenderen Umgang mit der Zeit sprechen, könnte es also helfen, nicht länger von der Zeit als Ressource zu sprechen. Jedenfalls nicht im Sinne eines natürlich vorhandenen Mittels, auf das wir zurückgreifen, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Das, was wir erschöpfen, ist nicht die Zeit. Wir verbrauchen keine Sekunden und Minuten. Das, was wir verbrauchen, sind unsere körperlichen, psychischen und geistigen Ressourcen, mit denen wir unseren Alltag bestmöglich bewältigen wollen. Wir benötigen Zeit, über die wir frei verfügen können, um diese Ressourcen zu erhalten oder zu erneuern.
Ein nachhaltiger Lebensstil ist zu einem der wichtigsten Vorsätze einer Mehrheit der Bevölkerung geworden. Würden wir aber den Maßstab einer nachhaltigen Lebensweise auch dann anlegen, wenn es um die Frage geht, wie wir mit der Zeit umgehen, dann müssten wir uns eingestehen, dass wir bislang kein besonders zeitökologisches Leben führen.
Die Grenzen unseres Wachstums
Unser Verständnis von Zeit ist ein ökonomisches, wie die Beispiele aus der Ratgeberliteratur zeigen. Dass Zeit knapp ist, ist eine Prämisse, auf der unsere Lebensplanung beruht. Das gilt für beide Bereiche, die im Wesentlichen unseren Alltag prägen: die Arbeit und das Private. Wir sind sehr darauf bedacht, beides voneinander zu trennen. Allerdings wird das immer schwieriger, weil mobiles und digitales Arbeiten zunimmt und ständige Erreichbarkeit erwartet wird. Trotzdem stellen wir uns unser Leben meistens als duales System vor, in dem wir entweder arbeiten oder Freizeit haben.
Diese Vorstellung führt dazu, dass die Arbeitswelt der Arbeit vorbehalten ist, also der Leistung, der Anstrengung, der Produktivität und natürlich der finanziellen Absicherung. Die Freizeit hingegen ist all den Dingen vorbehalten, die wir sonst noch im Leben tun wollen. Vorausgesetzt, wir haben überhaupt so etwas wie Freizeit und die nötigen Ressourcen, um das zu tun, was wir möchten. Aber ob der finanzielle Wohlstand ausreicht oder nicht: Leider nimmt die Arbeit meistens so viel Raum ein, dass die übrig bleibende Freizeit nicht gerade einem Leben in Zeitwohlstand gleicht. Schließlich bestehen auch in diesem Bereich einige Pflichten.
Ständig versuchen wir unsere Akkus wieder aufzuladen.
Die Folge ist, dass wir nicht nur in unserem Job Zeitmanagement betreiben. Längst denken wir auch in unserer Freizeit in Kategorien wie Nutzen, Produktivität und Effizienz. Genau wie die Arbeit ist auch das Privatleben zielorientiert. Die Zeit, die wir haben, um unsere Ziele zu erreichen, ist auch hier knapp. Beide Bereiche sind voll mit Aufgaben – und der Wunsch, einmal richtig zu entspannen, ist nur ein weiterer Punkt auf unserer To-do-Liste. Je länger er möglichst weit unten auf dieser Liste steht, je länger unsere Kraftreserven reichen, desto besser –
Also brauchen wir, dieser Denkweise folgend, neben einem idealen Zeitmanagement noch eine zweite Sache für ein gelingendes Leben: permanente Leistungsfähigkeit.
Sie kritisiert, dass die Ursachen unseres enormen mentalen Energieverbrauchs zwar außerhalb von uns liegen – Globalisierung, der flexible Arbeitsmarkt, Internet und Smartphone –, dass es für die Bewältigung dieser kollektiven Probleme aber individuelle Lösungen braucht. Die Gesellschaft erschöpft uns. Doch die Verantwortung dafür, dies hinter uns zu lassen und genügend Energie, Motivation und Enthusiasmus zu entwickeln, liegt bei uns selbst.
Praktischerweise hat sich die seit Jahren wachsende Entspannungswirtschaft dafür etwas einfallen lassen: Yoga, Meditation, Retreats in Klöstern und natürlich die zahlreichen Apps und Gerätschaften, die unsere Körperfunktionen überwachen. Vielleicht helfen auch schon die neuen Laufschuhe, mit denen wir eine Runde durch den Wald joggen, suggeriert uns die Werbung. Doch selbst das,
Der Kapitalismus hat die Fähigkeit, die Kritik, die sich an ihn richtet, aufzugreifen und zu verinnerlichen. Das behaupten die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello und der Soziologe Luc Boltanski in ihrem 1999 erschienenen Buch »Der neue Geist des Kapitalismus«. Sie beziehen sich in ihrer Analyse vor allem auf die Zeit ab etwa 1968, als es einen starken Aufschwung der Kapitalismuskritik gab. Weite Teile der Gesellschaft strebten nach mehr Autonomie. Menschen wollten frei und authentisch leben, mobil und spontan sein und ihre Kreativität entfalten. Das kapitalistische System hatte dafür bisher wenig Raum gelassen. Doch es konnte die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, die ideologischen Veränderungen und den Schöpfungs- und Freiheitsdrang der Menschen bewältigen.
Die Firmen erkannten, dass sich die Kritik verwerten ließ: »Die Forderung nach Autonomie wurde in die neuen Unternehmensstrategien integriert. So war es möglich, die Arbeiter erneut in den produktiven Prozess einzubinden«, schreiben Boltanski und Chiapello. Folglich sei ein wachsender Anteil der Profite »durch die Ausbeutung innovativer und imaginativer Ressourcen« zustande gekommen, vor allem im wachsenden Bereich der Dienstleistungen und der kulturellen Produktion. Die Konsumgüter seien zahlreicher und vielfältiger geworden, weil Standardisierung und Massenproduktion nicht mehr dem Zeitgeist entsprochen hätten, so die Autor:innen.
Der Kapitalismus macht aus dem Wunsch nach Besitzlosigkeit ein Produkt, das die Menschen besitzen wollen.
Eine ähnliche Entwicklung ist heute, in einer Zeit, in der nachhaltiges Wirtschaften und Konsumieren an Bedeutung gewinnt, wieder zu beobachten. Dass Konsumverzicht eigentlich die beste Lösung wäre, kann die kapitalistische Wirtschaft erneut für sich nutzen. Wünsche nach Entspannung, Nichtstun, digitalem Minimalismus und Lebensweisen, die von Einfachheit und Ordnung geprägt sind, zeigen die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus an. Dieser ist aber so mächtig, dass er die Sehnsüchte einfach aufgreift, sich daran anpasst und neuen Profit daraus schlagen kann.
Die Bedürfnisse werden identifiziert, sie führen zu Marktideen, neuen analogen und digitalen Produkten und Vertriebswegen – und schließlich zu Nachfrage und Konsum.
Selbstverwirklichung in der Emotionskultur
Aber handelt es sich hierbei wirklich nur um effizienzsteigernde Mittel zum Zweck der Entspannung? Für den Soziologen Andreas Reckwitz steckt mehr dahinter. Dass wir selbst banale Tätigkeiten wie einen Waldspaziergang mit größter Bedeutung aufladen und in ein termingebundenes Ereignis verwandeln, ist ein gesellschaftliches Phänomen, das Reckwitz als Positivkultur der Emotionen beschreibt:
Idealerweise sollten sämtliche Segmente des Alltagslebens nicht (nur) Mittel zum Zweck sein, sondern um ihrer selbst willen getan werden und dadurch erfüllend und subjektiv sinnstiftend sein.
Wir seien auf der ständigen Suche nach Sinn, Erfüllung, Erlebnis und Entfaltung. Doch dabei seien wir auch stets konfrontiert mit der Kehrseite dieses Anspruchs.
Ein geplanter Waldspaziergang soll also nicht nur erholsam sein, sondern auch als sinnstiftend empfunden werden. Die Positivkultur der Emotionen und die Sehnsucht nach Entfaltung in allen Lebensbereichen haben laut Reckwitz jedoch inzwischen ihre Grenzen erreicht. Nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stößt das Modell des Wachstums an ökologische Grenzen. Auch für jede:n Einzelne:n ließen sich Grenzen des Wachstums konstatieren. »In diesem Sinne wäre eine weniger enttäuschungsanfällige Lebensform auch eine ökologischere – ökologisch im Verhältnis zu den endlichen psychischen (und körperlichen) Ressourcen des Subjekts«, schließt Reckwitz daraus.
Es ist nicht länger zu übersehen, dass die Ökonomie der Entspannung eine Reaktion auf eine erschöpfte Gesellschaft ist, die sich vor allem nach einem Ausgleich zum stressigen Alltag sehnt. Scheint es daher nicht sinnvoll, die eigenen Ansprüche an unsere Lebensgestaltung zu hinterfragen und dem bisherigen ökonomischen Zeitverständnis einen zeitökologischen Lebensstil entgegenzusetzen?
Titelbild: Nguyen Thu Hoai - CC0 1.0