Unsere Technik geht unter die Haut
Intelligente Kontaktlinsen, Gehirn-Implantate und Computer, die wir mit unseren Gedanken lenken – all das kommt auf uns zu. Aber macht es uns zu besseren Menschen?
Der Wecker klingelt und du schlägst die Augen auf. Eine Grafik mit deinen Blutwerten erscheint unter der Zimmerdecke. Blutzucker, pH-Wert , Insulin – alles im grünen Bereich. Du drehst dich noch einmal um. »Was ist in den Nachrichten heute?«, murmelst du und klickst dich mit einem Augenzwinkern durch die Schlagzeilen, die über die weiße Wand fliegen. Während du Kaffee aufsetzt, scrollst du mit dem Blick durch deine Kontaktliste, und als du dich an den Tisch setzt, sitzt deine Freundin dir schon gegenüber. Sie lacht dich an und beißt genüsslich in ihr Käsebrötchen. Dabei sitzt sie in einer anderen Küche, 500 Kilometer entfernt.
Das klingt nach Science-Fiction? Dabei sind wir heute gar nicht mehr so weit von diesem Szenario entfernt. Technologien sind schon jetzt fester Bestandteil unseres täglichen Lebens. Google Maps erweitert unseren Orientierungssinn, Assistenzsysteme wie Siri oder Cortana organisieren unseren Alltag. Jede erdenkliche Frage beantwortet uns das Internet in Sekundenschnelle. Dabei profitieren wir vom gesammelten Wissen der Menschheit. Wir nutzen Whatsapp oder Skype, um digital zu kommunizieren, und
Wollen wir, dass Mensch und Maschine weiter miteinander verschmelzen?
Der Moment, in dem unsere Interaktion mit Technologie die nächste Grenze überschreitet – unsere Haut – ist nicht mehr weit. Wissenschaftler auf der ganzen Welt forschen mit Hochdruck an Technologien, die in den menschlichen Körper integriert werden: »Smarte« Kontaktlinsen, die Informationen in unser Sichtfeld projizieren, Gehirnimplantate, durch die wir Roboterarme steuern können, oder »Hirnschrittmacher«, die unsere geistige Fitness erhöhen. Diese Technologien könnten die Art, wie wir leben, nachhaltig verändern. Gleichzeitig bringen sie ethische Bedenken mit sich, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten, bevor die neuen Produkte über die Ladentheke in unser Leben geschwemmt werden.
Zeit, einen Schritt zurückzutreten und zu fragen: Wollen wir, dass Mensch und Maschine weiter miteinander verschmelzen? Sind wir bereit, zu
4 bevorstehende technologische Entwicklungen zeigen beispielhaft all das Potenzial, das in der Verschmelzung von Mensch und Technologie steckt – aber auch die Herausforderungen, auf die unsere Gesellschaft wird reagieren müssen.
Google Glass und Co: Bedroht Technik unsere Privatsphäre?
Was passiert, wenn in Zukunft digitale und analoge Wirklichkeit verschwimmen und eins werden?
Das Smartphone begleitet viele von uns heute auf Schritt und Tritt, es ist immer nur einen Handgriff entfernt. Mit demütig gebeugtem Nacken treten wir ein in eine digitale Parallelwelt, in der ganz eigene Gesetze gelten.
Augmented Reality (»Erweiterte Realität«) heißt die Technologie, die diese Vision real werden lässt. Alles, was du auf dem Display deines Smartphones siehst, erscheint direkt in deinem Sichtfeld. Nicht nur Informationen, sondern auch digitale 3D-Objekte, sogenannte Hologramme, werden in den analogen Raum projiziert. Als Architekt kannst du so durch das Modell eines geplanten Gebäudes in Echtgröße laufen und als Arzt das Gehirn eines Patienten untersuchen, das vor dir im Raum schwebt. Oder eben mit deiner Freundin am Küchentisch sitzen, ganz egal wo sie gerade ist.
Das erste Augmented-Reality-Produkt, welches im Frühjahr 2014 auf den Markt kam, war die berüchtigte Datenbrille Google Glass. Mark Hurst warnte im Februar 2013:
Die Größen der Tech-Branche forschen aktuell an solchen Datenlinsen. Einige Modelle sollen Daten aber nicht nur anzeigen, sondern auch erheben: Googles Kontaktlinse soll beispielsweise Blutwerte aus der Tränenflüssigkeit des Nutzers ermitteln und diese automatisch an ein Smartphone senden.
Was bedeutet Privatsphäre in einer Welt, in der es Alltag wird, dass unsere Blicke und Worte aufgezeichnet werden?
Hirn-Computer-Schnittstellen: Wer ist schuld, wenn etwas schiefgeht?
Stelle dir vor: Du sitzt aufrecht, weiße Krankenhauswände umzingeln dich. Du spürst den Druck von vertrauten Händen auf deinen Schultern. Du willst dich umwenden, willst etwas sagen, doch deine Muskeln gehorchen dir nicht. Seit dem Unfall vor 3 Monaten bist du gefangen in deinem eigenen Körper. Du heftest den Blick an den Monitor vor dir, über den eine endlose Folge von Buchstaben flimmert, und konzentrierst dich. Nach langer Anstrengung erscheint ein E auf dem Bildschirm. Wenn auch langsam, beginnst du Buchstabe für Buchstabe zu sprechen – und trittst wieder mit der Außenwelt in Kontakt.
Diesen Zustand einer vollständigen Lähmung bei vollem Bewusstsein nennt man Locked-in-Syndrom. Die Ursache ist meist eine Verletzung des Hirnstamms, der die Brücke zwischen den Nervenbahnen im Körper und dem Gehirn darstellt.
Über
Unsere Umwelt manipulieren durch die Kraft unserer Gedanken – das bietet vollkommen neue Möglichkeiten zu handeln.
Auch gesunde Menschen könnten in Zukunft von dem Verfahren profitieren. In einem
Doch was passiert, wenn das Resultat nicht der Absicht des Denkers entspricht? Der Gelähmte fällt die Treppe hinunter, weil der Computer die Hirnsignale fehldeutet. Du führst eine Banktransaktion über Gedanken aus und der Computer überweist die Million auf das falsche Konto. Wer ist für die Konsequenz der Handlung verantwortlich? Du? Der Hersteller? Oder der Computer? Je mehr wir uns auf Technologien verlassen, desto schwieriger wird es, rechtliche Verantwortung festzulegen,
Gehirnstimulation: Kann ich noch mithalten?
Jetzt stelle dir vor: Die Welt um dich herum existiert nicht mehr. Da sind nur du und ein weißes Blatt vor dir, das du mit geschliffenen Wörtern füllst. Es ist dir immer schwergefallen, dich in Klausuren auf deine Aufgabe zu fokussieren. Ein Rascheln hier, ein flüchtiger Gedanke da.
Ist es fair, durch Medikamente die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern? Ähnliche Fragen könnten sich auch bei Zukunftstechnologien stellen, wie bei der Tiefen Hirnstimulation. Dieses Verfahren wird heute vor allem
Tiefe Hirnstimulation ermöglicht einem Parkinson-Patienten, kontrollierte Bewegungen auszuführen.
Zählen auch Bildung, gute Ernährung und Sport, die alle nachweislich die geistigen Fähigkeiten erhöhen, als unnatürliche Eingriffe?
Denken wir etwas weiter, tun sich Fragen auf, die weniger leicht zu beantworten sind:
Werden unsere erlernten Fähigkeiten überflüssig?
Kaum jemand kann heute noch ein Huhn rupfen, einen Teppich knüpfen oder eine Vase töpfern. Im Laufe der Geschichte haben Menschen sich immer wieder Fertigkeiten angeeignet, die durch neue Technologien obsolet wurden – und denen wir nicht unbedingt hinterhertrauern.
Dennoch ist die Gefahr, Fähigkeiten zu verlieren, in der aktuellen
Die Mensch-Maschine-Philosophie
Neben all diesen Argumenten, die für oder gegen die Verschmelzung von Mensch und Computer sprechen, bleibt ein gewisses Unwohlsein bestehen. »Das ist nicht natürlich!« oder »Das ist nicht so gewollt!« waren Reaktionen, auf die ich bei Diskussionen mit Freunden und Verwandten in der Recherche zu diesem Artikel häufig gestoßen bin. Sie enthalten eine wichtige Frage: »Verändert es unsere Identität als Mensch, wenn die Technik immer tiefer in unser Leben eindringt?«
Werden wir immer technischer, wenn unsere Interaktion mit Technologien enger wird? Und gibt es einen Punkt, ab welchem wir mehr Maschine sind als Mensch? 2 populäre Theorien gibt es dazu. Eine stammt von dem amerikanischen Unternehmer Ray Kurzweil. Die andere vertritt Nick Bostrom, Professor für Philosophie an der Universität Oxford.
»Die technologische Evolution ist eine Fortsetzung der biologischen Evolution.« – Ray Kurzweil
»Das vielleicht Klügste, was die menschliche Spezies tun könnte, ist daran zu arbeiten, sich selbst klüger zu machen.« – Nick Bostrom
Die Visionen von Kurzweil und Bostrom sind verwandt. Beide streben eine Verschmelzung von Mensch und Maschine zu einer neuen, überlegenen Spezies an. Sie sehen den Menschen als eine Art
Auch gegen Kurzweils Überzeugung, dass wir unseren biologischen Körper durch eine Maschine ersetzen können, wendet Janina Loh sich entschieden.
Für Janina Loh sind Technologien keine »Hilfsorgane«, die wir anlegen. Die Kernthese ihrer Philosophie: »Technik gehört per se zum Menschen dazu.«
Wir Menschen haben schon immer Werkzeuge verwendet, um unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu erweitern und Schwächen auszugleichen. Wir machten uns Steine zunutze, um Feuer zu machen, wir entwickelten das Rad und die Dampfmaschine, den Computer und das Smartphone.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, die Welt in einer romantisierten Form ohne Technik wahrnehmen zu können.« – Janina Loh
Ebenso sehr wie unser Handeln bestimmen menschliche Erfindungen unser Verständnis von der Wirklichkeit. Trinken wir Cola oder nehmen die Pille, so verändert das unsere Hirnaktivität. Virtuelle soziale Netzwerke ändern die Art, wie wir Beziehungen führen. Werbung verändert unsere Bedürfnisse. Definiert man Technik so weit, dass es all diese Dinge einschließt, sind wir alle
Wenn wir als Gesellschaft aktiv an der Technikentwicklung teilhaben und diskutieren, was wir wollen und was nicht, können kommende Technologien unser Leben bereichern. Denn Technik und Mensch – das gehört zusammen.
Mit Illustrationen von Lukas Oleschinski für Perspective Daily