Postwachstum: Eine neue Erzählung, wie wir leben wollen
Der Postwachstumstheoretiker Tim Jackson kritisiert das heutige Wirtschaftssystem als schädliches Auslaufmodell. Im Interview spricht er darüber, wie wir davon wegkommen und welche Rolle Erzählungen dabei spielen.
28. Oktober 2021
– 12 Minuten
KR Fonden
Brennende Wälder in Kanada, immer neue Temperaturrekorde in der Arktis und »Jahrhundertfluten«, die Deutschland bereits mehrfach im noch recht jungen 21. Jahrhundert heimgesucht haben.
Aus dem Zukunftsproblem ist ein Gegenwartsproblem geworden. Die Ursache: Die Art, wie wir Menschen leben und wirtschaften. Wir bauen holzen zu viele Wälder ab, All das verändert das Klima, Tag für Tag, scheinbar unaufhaltsam. Mit handfesten Folgen, nicht nur für Homo sapiens. Unser Tun sorgt auch dafür, dass die sehr schnell schrumpft.
Auf Veranstaltungen wie der im chinesischen Kunming oder der im schottischen Glasgow berät die Welt nun, wie es weitergehen soll. Was nötig wäre, ist eigentlich klar: Weniger Ressourcenhunger, mehr Naturschutz, ein dramatisch verringerter CO2-Ausstoß. Doch politisch gestaltet sich die Umsetzung dieser Pläne zäh.
Auch deswegen veröffentlichte der britische Tim Jackson vor gut 10 Jahren sein Buch Darin kommt er zu dem Schluss, dass die Wachstumsversessenheit der politisch Verantwortlichen ein zentrales Problem sei, welches das Leben auf der Erde immer weiter gen Abgrund treibt.
Was also tun angesichts dieser drängenden Probleme, ohne dabei in kopflosen Aktionismus oder in Schockstarre zu verfallen? Auf der Suche nach Antworten stellt Wachstumskritiker Jackson im Titel seines gerade erschienenen neuen Buchs die Grundsatzfrage: Seine Vision - nicht wirtschaftliche Kennzahlen sollen das Dasein der Menschen bestimmen, sondern konkrete Vorstellungen von einem guten Leben und einer gerechten Gesellschaft. Im Interview erklärt er, wie er das meint, welche Rolle Erzählungen in der Ökonomie spielen und was Politiker:innen aus der Erfahrung mit der Coronapandemie zurück in den Regierungsalltag nehmen können.
Benjamin Fuchs:
Ihr neues Buch stellt eine klare Frage: »Wie wollen wir leben?« Wie wollen Sie denn leben?
Tim Jackson:
Der Kern dessen, was ich in »Wie wollen wir leben?« versuche – was mich motiviert –, ist ein Gefühl, dass wir menschliches Potenzial verschenken. Dass wir uns in einem engen psychologischen Rahmen als egoistisch, hedonistisch und immer auf der Suche nach Neuem sehen. Im Grunde genommen einfach als Verbraucher. Die Umwelt ist dabei nicht das einzige Opfer. Es ist, als ob wir die wichtigste Gabe unserer Existenz verschenken. Es gibt etwas in der Vielfalt des menschlichen Lebens, das wir unseren Kindern nicht weitergeben. Das ist viel, viel wertvoller als der Konsumismus.
Wo sich Naturwissenschaft und Ökonomie treffen
Sie versuchen eine Postwachstumserzählung zu etablieren. Sie plädieren für mehr Kooperation und ein gutes Leben, das sich nicht so sehr an Materiellem bemisst. Wie wichtig sind Erzählungen und Geschichten, wenn wir unsere Lebensweise verändern wollen?
Tim Jackson:
Ich bin etwas vorsichtig mit der simplen Idee, dass wir uns nicht ändern können, bevor die Zukunft nicht exakt ausbuchstabiert ist. So funktionieren die Erzählungen über die Zukunft nicht. Aber ein Gespür für die Erzählung über uns selbst, über unser Leben, über unsere Beziehung zu unserer Welt – sogar für die Erzählungen, die die Wissenschaft bevölkern – ist entscheidend.
Die Wissenschaft hat ein Problem: Sie ist komplex und deswegen nicht leicht verdaulich. Je tiefer unser Wissen ist, desto schwieriger ist es, den Inhalt zu verstehen. Um ein Teil der Gesellschaft zu sein und die Welt zu informieren, muss Wissenschaft besser nach außen kommunizieren und in Metaphern und Erzählungen sprechen.
Inwiefern?
Tim Jackson:
In der Wissenschaft geht es nicht nur um das Generieren von Wissen, sondern auch darum, eine Erzählung zu schaffen, die von der Gesellschaft akzeptiert und dann in eine Zukunftsvision integriert wird. Gleichzeitig nimmt die Wissenschaft aber auch Anleihen bei der Gesellschaft, um diese Erzählung zu entwickeln. Eine Wechselwirkung also.
So hat in seiner Evolutionstheorie Anleihen bei sozialen Normen gemacht, die aus der frühen industriellen Revolution stammen. und die Ökonomie sagte, dass es immer so sein würde. Aufsatz »Über das Prinzip der Bevölkerung« besagte, dass man die Ärmsten ohnehin niemals retten könne und man Hilfen für sie daher auch gleich abschaffen könne. Das ist eine Form von Erzählung und Metapher, die sehr mächtig wurde, denn sie beeinflusste die Evolutionstheorie.
Die Ökonomen haben sich dann wiederum auf die Evolutionstheorie gestützt, um ihre eigene Ansicht zu untermauern, dass der beste Mechanismus für den Markt der Wettbewerb sei. Ein Paradebeispiel für eine schiefgelaufene Erzählung, die sich verselbstständigt hat. Es zeigt uns, wie wichtig dieser Prozess der Erzählung für unser wissenschaftliches Verständnis der Welt ist.
Wir müssen uns dessen bewusst sein und die Erzählung infrage stellen, wenn sie schiefläuft und bestimmte Aspekte der realen Welt nicht berücksichtigt werden. Die Biologin hat Teile dieses Narrativs widerlegt, indem sie gezeigt hat, dass es in der Evolution nicht nur um Konkurrenz, sondern auch um Kooperation geht.
»Wir müssen raus aus dem ›Kampf- oder Fluchtmodus‹«
Die sogenannte hat eine Erzählung der Leistungsgesellschaft, des freien Marktes und der Eigenverantwortung
Wäre eine solche Strategie ein lohnendes Vorbild für eine Postwachstumserzählung von Kooperation und dem guten, nachhaltigen Leben?
Tim Jackson:
In gewisser Weise möchte ich mit »Wie wollen wir leben?« etwas Ähnliches erreichen, auch wenn meine Herangehensweise nicht so strategisch durchdacht ist wie das, was die Mont-Pèlerin-Gesellschaft gemacht hat.
Sollten wir als Postwachstumsbewegung – falls es eine gibt – bewusster versuchen, eine solche Erzählung zu schaffen? Möglicherweise ja. Ich habe zunehmend das Gefühl, dass dieses Narrativ systematisch nach Vorbild der neoliberalen Erzählung aufgebaut werden könnte. Ich sehe meine eigene Rolle darin, den Raum für ein Gespräch zu schaffen, in dem ein Narrativ entstehen kann.Tim Jackson, Autor
Die konventionelle Erzählung herauszufordern, mit einer Erzählung, die zugänglich ist und eine Debatte anstößt. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich die richtige Person dafür bin. Aber ich stimme zu, dass man strategisch ein Narrativ unterstützen könnte, das ein Gegennarrativ zum Neoliberalismus ist – und dass es einen Bedarf dafür gibt.
Auf der anderen Seite braucht es eine Menge Zeit, solche Erzählungen zu entwickeln und breitenwirksam zu etablieren. Glauben Sie, dass die Menschheit genug Zeit dafür hat?
Tim Jackson:
Das ist schwer zu sagen, aber wir können zumindest sofort damit anfangen. Eine der Botschaften des Buches: In Situationen, in denen wir denken, nicht genügend Zeit für ausreichende Veränderungen zu haben, werden wir handlungsunfähig. Wir gleichen dann dem Reh vor dem Scheinwerfer, das erstarrt und seiner Handlungsfähigkeit beraubt ist. Diesen Zustand zu vermeiden, ist extrem wichtig.
Hier geht es um die Eigenschaft des über die ich im Buch ausführlich schreibe. Es geht darum, sich dem Gefühl zu widersetzen, in einer Gefahr zu sein, in deren Angesicht man erstarrt. Und das funktioniert durch eine Art Selbsttraining, das sich auf die eigenen Fähigkeiten konzentriert, die wir in bestimmten Situationen zielgerichtet anwenden können.
»Es geht darum, in einen Flow-Zustand zu kommen«
Wie kann das aussehen?
Tim Jackson:
Im Sport werden psychologische Erkenntnisse dazu genutzt. Es geht darum, in einen zu kommen und nicht im zu verharren, andererseits aber auch nicht so entspannt zu sein, dass Handeln unmöglich bleibt.
Es geht darum, den Punkt zu finden, an dem wir in der Welt auf die richtige Art und Weise handeln; unabhängig davon, ob es erfolgreich sein wird. Unabhängig davon, ob wir Zeit haben oder nicht. Und unabhängig davon, was in der nächsten Zeit kommt. Es geht weit über die unmittelbare Notlage, in der wir zu stecken scheinen, hinaus. Und gleichzeitig sehe ich es auch als unsere beste Antwort auf die Unmittelbarkeit dieser Notfälle.
Sie haben das Buch unter dem Eindruck der Coronapandemie geschrieben. Regierungen waren gefordert, schnell zu handeln, Geld bereitzustellen, Löhne zu sichern. Wie soll es jetzt weitergehen, ohne in ganz alte Muster von Sparzwängen und Sozialstaatsabbau zurückzufallen?
Tim Jackson:
Mich ermutigt das Ausmaß, in dem es den Regierungen möglich war, einen so großen Teil der Maschinerie des Kapitalismus beiseitezuschieben. Existenzen wurden geschützt, Krankenhäuser gebaut, Unternehmen und insbesondere Arbeitnehmer unterstützt und eine Kultur geschaffen, die der Gesundheit der Menschen die höchste Priorität einräumte. Das ist eine wichtige Ressource, wenn wir darüber nachdenken, wie es weitergehen soll.
Das, was wir während der Pandemie aufgebaut haben, war in gewisser Weise eine Rettungsboot-Wirtschaft: Das Schiff ging unter – und alle suchten nach Halt und Sicherheit. Das war eine ziemlich unangenehme Situation, in der wir unsere Beziehungen zueinander ganz klar ändern mussten, um in den Rettungsbooten zu überleben. Gerade scheint es fast so, als ob wir versuchen würden, möglichst viele Bestandteile unserer alten Lebensweise zurück auf das Schiff zu packen, um dann an das alte feste Land zu kommen.
All das geschieht aber, ohne über die Veränderungen nachgedacht zu haben, die in einer Welt nach der Pandemie notwendig sind. Wir sollten an den Werten und Lektionen festhalten, die wir in dieser Situation entwickelt haben. Wir sollten uns das Gefühl bewahren, dass unser Leben in gewisser Weise auf dem Spiel steht.Tim Jackson, Autor
Diese Zeit hat aber auch viele Menschen bestätigt, die sagen: Für Wohlstand braucht es Wachstum, sonst geht alles den Bach runter. Befürchten Sie, dass diese Zeitspanne ein Rückschlag für den Postwachstumsgedanken sein könnte?
Tim Jackson:
Das ist in meinen Augen ein Argument dafür, nicht zu eifrig über auf der einen und Wachstum auf der anderen Seite zu reden. Es geht nicht darum, irgendwo einen Knopf zu finden und ihn so zu drehen, dass Wachstum und Output vermindert werden. Es geht um die tieferen Lektionen, die wir gelernt haben – über den Schutz der für uns wichtigsten Lebensbereiche, unsere Lebensqualität und letztlich über den Schutz unseres Planeten. Diese Lektionen sollten im Mittelpunkt stehen.
Das Ziel, neoliberale Wachstumsparadigmen zu bekämpfen, ist ein wichtiger Teil einer neuen Erzählung. Aber es ist immer auch eine Ablenkung von den Fragen, wie wir eigentlich stattdessen leben wollen und wie die Form von Wirtschaft aussieht, die uns das ermöglichen soll.
Die Diskussionen über Postwachstum und Degrowth sind oft sehr theoretisch und für Außenstehende schwer zu verstehen: Sehen Sie wesentliche Unterschiede zwischen dem, was Degrowth-Verfechter:innen wollen, und dem, wofür Sie eintreten?
Tim Jackson:
Ich sehe viele Gemeinsamkeiten, in dieser Sprache, der Terminologie, der Arbeit, die dort geleistet wird. Der Ansatz hat sich ganz klar als eine Art absoluter Gegensatz zum wachstumsbasierten Modell etabliert, weil Degrowth-Vertreter es als die einzige Möglichkeit sehen, es erzählerisch herauszufordern.
Postwachstum ist für mich eine etwas andere Art des Denkens.
Es geht darum anzuerkennen, dass jedes soziale System vorübergehend ist und dass wir in einem leben, das bereits Vorboten für sein Ende zeigt. Postwachstum ist eine Art, darüber nachzudenken, was danach passiert.Tim Jackson, Autor
Ich denke, beides sind wichtige Strategien und für viele Menschen sind sie einander ähnlich.
»Die Aufgabe ist, den Raum für ein Gespräch über Werte zu schaffen«
Ungleichheit schafft viel Platz für Ängste, die manchmal instrumentalisiert werden, um Fortschritt zu verhindern. Glauben Sie, dass die zunehmende soziale Ungleichheit in Europa den Wandel erschwert?
Tim Jackson:
Ich glaube, beides ist der Fall: Ungleichheit macht Veränderung sowohl schwieriger als auch einfacher. Wenn Ungleichheiten offensichtlich werden, dann wird es einfacher, weil sichtbar wird, dass eine Veränderung notwendig ist. Aber es gibt auch einen Punkt, an dem die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen mit einer Ungleichheit der demokratischen Teilhabe einhergeht und die Politik auf die Interessen der Reichen ausgerichtet ist. Wenn die demokratische Macht der Macht des Geldes folgt, wird es schwieriger und Ungerechtigkeiten vertiefen sich.
Einige Leute, mich eingeschlossen, waren von dem Buch und der Art, wie Sie es geschrieben haben, überrascht. Es ist eher philosophisch, kein konkreter Fahrplan. Warum haben Sie sich für einen philosophischen Schlenker entschieden, anstatt den Weg in eine bessere Welt aufzuzeigen?
Tim Jackson:
Ich glaube, der philosophische Schlenker zeigt den Weg. Ich hatte eine ziemlich umfangreiche Wegbeschreibung geschrieben, besonders in der zweiten, aktualisierten Ausgabe von »Wohlstand ohne Wachstum«. Ich habe davon aber mitgenommen, dass das allein nicht reicht, um tiefere Diskussionen und tiefe Selbsterkundung auszulösen.
»Wohlstand ohne Wachstum« spricht immer noch ein ziemlich kleines Publikum an, das sich der Probleme bereits bewusst ist. Diese Menschen engagieren sich und suchen nach einer Art magischem Rezept, das den Weg für eine Politik ebnet, die alles zum Guten wendet. Aber dieser Prozess ist nicht linear. Damals hatte ich die Idee, die Argumente überzeugend und lesbar zu formulieren. Gleichzeitig wollte ich spezifische Hinweise für die notwendige Politik formulieren. Ich hatte erwartet, dass es ganz schnell zu Veränderungen führen würde.
Warum klappte es nicht so schnell?
Tim Jackson:
Es funktioniert nur, wenn die Gesellschaft selbst bereit ist, sich zu ändern. In gewisser Weise war »Wie wollen wir leben?« für mich also eine Möglichkeit, von diesem ersten Prozess Abstand zu nehmen und anzuerkennen, dass es damit nicht getan ist. Die tiefere Aufgabe ist es, den Raum für ein Gespräch über Werte zu schaffen.
Mein nächstes Buch wird sicherlich wieder spezifischer und fokussierter sein, aber es wird auch aus den Ressourcen dieser philosophischen Abzweigung schöpfen. Es ist klar, dass ein oder 2 Bücher oder gar eine Person allein die Welt nicht umkrempeln werden – erst in der Summe der Beiträge kommt es zu einem Prozess der Veränderung.
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!