Ist Armut weiblich?
Meine Kollegin Katharina Wiegmann hat mir vorgeworfen, ich wäre auf dem Gender-Auge blind. Jetzt habe ich mir angeschaut, ob Frauen wirklich ein höheres Armutsrisiko haben und welche Rolle Sorgearbeit spielt.
»Als Frau musst du mit Mitte 20 deine Ausbildung oder dein Studium klar haben, danach wird es richtig schwer. Aber was ist mit Leuten, die mit 20 ein Scheißleben hatten?«
Inzwischen sind ihre Kinder 9 und 11 Jahre alt und damit etwas größer, aber ein beruflicher Neustart mit Ende 30 ist für Klausen extrem schwierig, zumal sie gesundheitliche Probleme hat. Wer wie sie einen holprigen Start hatte, bleibt schnell in Teilzeit- oder Minijobs stecken.
Solche Lebensgeschichten sind keine Seltenheit:
Sind Frauen per se stärker armutsgefährdet als Männer? Und wenn ja, was begründet dieses erhöhte Risiko? Was muss sich ändern, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen? Darum geht es in diesem Text.
Armutsrisiko Geschlecht? Auf den ersten Blick passt etwas nicht
Isoliert vom Armutsrisiko Geschlecht zu sprechen, wäre verkürzt; so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Legen wir die EU-Definition von Einkommensarmut an, nach der armutsgefährdet ist, wer
Schauen wir dann auf den Anteil der Haushalte von Alleinerziehenden, die armutsgefährdet oder arm sind, dann lag dieser Anteil zuletzt bei 42,7%. Und die Aufteilung hier ist ganz klar:
Die Soziologin Sonja Bastin von der Universität Bremen sagt: »Wenn man sich anschaut, wie sich das Lebenseinkommen für die aktuellen Generationen über die nächsten Jahrzehnte entwickelt, bis sie mit ihrem Berufsleben fertig sind, sehen wir nur noch einen kleinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, die keine Kinder haben, aber immer noch einen riesigen Unterschied zwischen Männern und Müttern.«
Und das zeigt sich am Ende bei der Rente. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat in einer Simulation die Entwicklung der Altersarmut bis ins Jahr 2036 simuliert.
Frauen haben also an 2 Punkten klare Armutsrisiken, die mehr mit den Geschlechterrollen als mit dem Geschlecht selbst zusammenhängen: Durch geringere Verdienste, die sich schon im Erwerbsleben zeigen, und im Alter, wenn die Rente nicht reicht. Warum die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen systemisch angelegt ist, zeigt ein Blick auf die sozioökonomischen Lücken, die zwischen Männern und Frauen in Deutschland klaffen.
Was zwischen Frauen und Männern steht: Die Gender-Gaps
- Das Gender-Pay-Gap:
- Das Gender-Care-Gap ist ein Indikator, den die
- Das Gender-Lifetime-Earnings-Gap: Eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums hat ausgerechnet, wie viel weniger Einkommen Frauen im Laufe ihres Lebens aus Erwerbsarbeit haben. Ergebnis: Frauen verdienen im gesamten Lebensverlauf durchschnittlich nur etwa halb so viel wie Männer. Je niedriger die Einkommensklasse, desto größer ist die Lücke: Bei den unteren 5% der Einkommensskala liegt die Lücke bei 69%, bei den oberen 5% dagegen nur bei 34%. Wenn Frauen keine Kinder haben, fällt die Lücke im Lebenserwerbseinkommen deutlich schmaler aus.
Ursache sind zum Teil alte, aber immer noch innig gepflegte gesellschaftliche Rollenbilder.
Welche Regelungen die finanzielle Ungleichheit der Geschlechter befeuern
Aber auch gesetzliche Regelungen machen es Frauen schwer, sich aus der patriarchalen Erwartungshaltung zu befreien. Mal abgesehen davon, dass es vielerorts das Kinderbetreuungsangebot beiden Elternteilen gar nicht ermöglicht, voll berufstätig zu sein, gibt es auch finanzielle Anreize, zu Hause zu bleiben.
Während einer Ehe wird es denjenigen Partner:innen, die ähnlich viel oder weniger verdienen – oft sind das Frauen – durchaus schmackhaft gemacht, auf eine Vollzeitbeschäftigung zu verzichten.
- In der gesetzlichen Krankenversicherung können Berufstätige ihre Partner:innen beitragsfrei mitversichern. Sind diese allerdings selbst sozialversicherungspflichtig Arbeitnehmende, arbeiten also mehr als im Minijob, müssen sie sich selbst versichern.
Und noch ein Gap, das Ungleichheit im Alter verursacht
Alles, was wir bisher gesehen haben, läuft auf ein Resultat hinaus: Frauen sparen im Durchschnitt deutlich weniger Rente an als Männer. Wie viel, zeigt das Gender-Pension-Gap. In Deutschland liegt es laut einer Statistik der OECD bei 46%. Das bedeutet, in Deutschland haben Frauen ein um 46% geringeres Alterseinkommen als Männer.
Nach einigen Jahren in Vollzeit kamen damals die Kinder, sie trat beruflich kürzer. Nach der Scheidung von ihrem Mann arbeitete sie in Teilzeit weiter, zog ihre beiden Söhne allein groß. »Hier auf dem Land sieht es mit der Kinderbetreuung schlecht aus. Manchmal habe ich mein Kind morgens vor der Betreuungszeit vor den Kindergarten gestellt, wenn noch ein paar Minuten fehlten. Oder ich hatte Glück und der Hausmeister war etwas früher da.« Bei Aktionstagen erwartete man von Rösler, dass sie selbstverständlich länger blieb, und wenn das Kind krank war, blieb kaum etwas anderes übrig, als ihre Mutter um Hilfe zu bitten oder das Telefon neben das kranke Kind zu legen.
Von der Bank wechselte sie in die Personaldisposition, als die Finanzkrise kam, verlor sie ihre Stelle. Eine neue Anstellung in ihrem Beruf fand sie in dem ländlichen Raum, in dem sie lebt, nicht mehr. Was sie fand: Arbeit als Fahrerin und Baumpflegerin sowie kleinere Nebenjobs. »Ich hätte gern ein duales Studium in sozialer Arbeit gemacht, aber ich konnte mich nicht 3 Jahre lang mit einem Lehrlingsgehalt finanzieren.« Jetzt, mit über 50 Jahren, gelte sie auf dem Arbeitsmarkt als alt. Rösler findet nur noch befristete Anstellungen und hat noch mehr als 10 Jahre Arbeit vor sich. »Getränkekisten schleppen und Schnee räumen – das schaffe ich körperlich nicht mehr bis zur Rente.«
Die Gaps schließen
Die Kombination dieser ganzen Faktoren, die ich bisher beschrieben habe, brachten die Soziologin Jutta Allmendinger im Jahr 2017 in einem Interview zu einer mittlerweile berühmten Beschreibung unserer Gegenwart.
Der Heiratsmarkt bezahlt Frauen besser als der Arbeitsmarkt.
Soll heißen: Wenn sich eine Frau für Kinder entscheidet, ist es finanziell meist lukrativer, bei ihrem Mann zu bleiben, bis der Tod die Ehe scheidet. Dass es in der überwiegenden Mehrzahl die Frau ist, die in diese Situation gerät, hängt zum einen mit der Erziehung und dem gesellschaftlichen Frauenbild zusammen und zum anderen damit, dass Männer in der Regel diejenigen sind, die ein leicht höheres Einkommen haben – auch schon in der Phase, in der es oft um Familienplanung geht.
Weniger Erwerbs- und mehr Sorgearbeit aufseiten der Mutter ist da ein naheliegender Schritt. Soziologin Sonja Bastin setzt sich für ein grundsätzliches Umdenken bei der gesellschaftlichen Verteilung der Sorgearbeit ein. Wenn sich Mutter und Vater die Sorgearbeit gerechter aufteilen, sei schon viel erreicht, aber das genüge nicht, da dies sonst zum Nachteil für beide zusammen werden kann: »Es gibt diesen Begriff der Motherhood Penalty, also der Mutterschaftsstrafe, aber wenn wir keine grundsätzliche Lösung für die Verteilung von Sorgearbeit finden, dann haben wir am Ende eine Parenthood Penalty.«
Deswegen hat Sonja Bastin das
Denn obwohl sie »private Sorgearbeit« heißt, verlässt sich das ganze Wirtschaftssystem derzeit darauf, dass irgendwie arbeitender Nachwuchs entsteht und dass Menschen zu Hause gut umsorgt werden, um daraufhin wieder tatkräftig ins Büro zu gehen, und dass jene, die diese Haus-, Pflege-, Erziehungs- und emotionale Arbeit leisten, auch noch vollumfänglich zur Erwerbsarbeit erscheinen. Bisher tauchen diese gesellschaftlichen Kosten aber nicht adäquat in den Bilanzen der Unternehmen auf, merkt Wissenschaftlerin Bastin an.
Die Soziologin Jutta Allmendinger schlug zuletzt die Einführung einer 32-Stunden-Woche für alle vor. Um zumindest die Ungleichverteilung von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit – und die damit einhergehenden Gefahren, wie zum Beispiel Altersarmut, zu vermindern. Meiner Kollegin Katharina Wiegmann sagte sie dazu im Interview: »Wenn wir uns den Gender-Pay-Gap oder den Care-Gap anschauen, gehen wir immer davon aus, dass wir diese Lücken schließen, indem Frauen noch mehr wie Männer werden, wenn sie auch 39 Stunden arbeiten. Das ist irgendwie gesetzt. Weshalb denken wir nie darüber nach, wie Männer mehr wie Frauen werden?«
Was sich ändern muss
Die 32-Stunden-Woche erinnert vom Umfang her ziemlich an die 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich, die vor allem in der politischen Linken immer wieder Thema ist.
Derzeit ist es Alleinerziehenden ohne starke Familienanbindung kaum möglich, im Schichtdienst zu arbeiten oder Jobs zu übernehmen, die zu Randzeiten stattfinden. Auch Grundschulkinder werden zum Beispiel im Konzept des Offenen Ganztags in Nordrhein-Westfalen in der Regel nur bis 16 Uhr betreut. Die Gesellschaft muss also mehr Geld in die Hand nehmen, zum einen, um traditionelle Frauenberufe besser zu bezahlen, und zum anderen, um das bestehende Angebot der Kinderbetreuung deutlich auszuweiten.
Das plant die Ampel
Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung enthält durchaus Vorschläge, die Alleinerziehenden helfen könnten, einige ihrer Probleme zumindest abzumildern.
Aber auch mit einem besseren Weiterbildungsangebot ohne finanziellen Druck könnte Frauen wie Bettina Klausen und Christine Rösler geholfen werden. Zugleich dürften Unternehmen profitieren, die unter Fachkräftemangel leiden. Bisher mussten Arbeitssuchende praktisch jede sich bietende Arbeit annehmen, um aus Hartz IV herauszukommen. Das soll sich jetzt ändern – ein Schritt in Richtung mehr Freiheit für Qualifizierung, die auch den persönlichen Interessen und Fähigkeiten entspricht.
Der im Amt bleibende Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) rief kürzlich die Losung aus, Deutschland zu einer Weiterbildungsrepublik zu machen.
Bettina Klausen möchte gerne studieren und noch mal durchstarten, wenn es ihr gesundheitlich wieder besser geht. Vielleicht kommen diese Maßnahmen für sie noch rechtzeitig. Die 39-Jährige hadert mit dem Leben, das sie in ihren 20ern und frühen 30ern führte, als sie sich alleine um ihre Kinder kümmern musste, keine Ausbildung machen konnte und in Armut abrutschte. »Ich würde gerne meine Rente selbst sichern. Und mit einer Ausbildung oder einem Studium und einem guten Gehalt wäre da jetzt noch einiges möglich«, sagt sie.
Titelbild: Tyler McRobert - CC0 1.0