Hält die Koalition, was die Parteien versprochen haben? Wir haben bei Expert:innen nachgefragt
Ob Klimaschutz, Gleichstellung oder Digitalisierung: Die Ampelkoalition will »mehr Fortschritt wagen«. Doch was taugen ihre Pläne wirklich?
Olaf Scholz ist Bundeskanzler, die Mitglieder des neuen Kabinetts sind vereidigt, der Koalitionsvertrag beschlossene Sache. Grünes Licht also für die Ampel und ihre Vorhaben, die sie auf 177 Seiten festgehalten hat.
Anfang Dezember haben wir uns angeschaut,
ME/CFS: »Das Gesundheitssystem hat die Erkrankung jahrelang ignoriert«
von Lara MalbergerAls ich mit meinem Kollegen Marc Tiemann spreche, überziehen rasiermesserartige Schmerzen seinen Körper. Für unser Gespräch hat er sich trotzdem aufgerafft, denn das Thema, um das es geht, begleitet ihn schon seit mehr als 20 Jahren. Seitdem weiß er, dass er an Myalgischer Enzephalomyelitis bzw. dem Chronischen Fatigue-Syndrom
»ME/CFS wurde bei mir im Jahr 2000 diagnostiziert, ich habe es aber schon seit der Kindheit. Bis zur Diagnose hatte ich eine jahrelange Ärzteodyssee hinter mir«, erzählt mir der 43-Jährige. Schon als Kind sei er häufig abgeschlagen und schnell erschöpft gewesen, immer wieder plagten ihn starke Bauch-, Kopf- und Muskelschmerzen. Mit den Jahren verschlechterte sich sein Zustand, doch eine Diagnose blieb lange aus. Und damit auch angemessene Hilfe.
Obwohl in Deutschland mindestens 250.000 Menschen betroffen sind, ist ME/CFS hierzulande noch wenig bekannt – auch bei Mediziner:innen. Durch die Pandemie ändert sich das gerade ein bisschen. Denn die Forschung zeigt immer deutlichere Parallelen zwischen ME/CFS und den Symptomen einer Teilgruppe der
Eine zugelassene Behandlung oder Heilung gibt es bisher jedoch nicht. Weil bis heute so wenig über die Krankheit bekannt ist, fordern Betroffene und Mediziner:innen schon lange, dass mehr getan wird, um ME/CFS zu erforschen und den Erkrankten zu helfen. Der neue Koalitionsvertrag verspricht nun, genau das zu tun. So heißt es auf Seite 83:
Zur weiteren Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von Covid-19 sowie für das chronische Fatigue‐Syndrom (ME/CFS) schaffen wir ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen.
»Nachdem ich die eklatanten Missstände rund um ME/CFS jahrzehntelang selbst erfahren habe, macht es Hoffnung, dass sich nun endlich etwas bewegt«,
Da das Gesundheitssystem die Erkrankung jahrzehntelang ignoriert oder fehlklassifiziert hat, vegetieren viele Patient:innen in abgedunkelten Zimmern ohne Hilfe vor sich hin. Neben staatlichen Forschungsgeldern brauchen wir dringend mehr Aufklärung und eine angemessene Versorgung.
Ob die neue Bundesregierung dieser Forderung gerecht wird, müsse sich zeigen. »Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long Covid Deutschland haben in ihrer
Ambitionierterer Klimaschutz denn je, aber noch immer nicht genug
von Maria StichAnfang Dezember veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Econ die Ergebnisse einer von der
Die Analyst:innen untersuchten dafür die im Koalitionsvertrag angekündigten klimapolitischen Maßnahmen in den Sektoren Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft. In einer sektorübergreifenden Kategorie wurden zusätzlich Maßnahmen wie
Die größten Schwächen deckt die Studie in den Sektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft auf – die Formulierung von Zielen dazu bleibe viel zu unkonkret. Damit die im Klimaschutzgesetz bis 2030 festgeschriebenen Maßgaben erreichbar bleiben, muss vor allem hier nachgeschärft werden. »Dabei hat die Ampel keine Zeit zu verlieren! Die Bundesregierung muss nun mit dem angekündigten Klimaschutzsofortprogramm zeigen, wie sie die Lücken in diesen Sektoren schließen will«, fordert Christiane Averbeck.
Gewalt gegen Frauen nimmt zu. Reichen die Pläne der Ampel, um sie zu stoppen?
von Katharina WiegmannJede Stunde werden in Deutschland durchschnittlich 13 Frauen Opfer von Gewalt in der Partnerschaft, alle 2 1/2 Tage wird eine Frau von ihrem Partner oder einem Ex-Partner getötet. Soweit die offizielle Statistik des Bundeskriminalamts für 2020, es muss jedoch
Laut Koalitionsvertrag soll unter anderem die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen »vorbehaltlos« umgesetzt werden.
Was genau die Istanbul-Konvention ist und warum Rechte in ganz Europa ein Problem mit ihr haben, kannst du in diesem Artikel nachlesen:
Vorbehalte hatte die vorherige Bundesregierung gegen Artikel 59 der Konvention. Darin geht es um den Schutz und die Rechte gewaltbetroffener Migrantinnen. Was das in der Praxis bedeutet, erklärt die feministische Historikerin und Autorin Franziska Benkel, die zu
Dass Gewalt laut Koalitionsvertrag künftig »ressortübergreifend« verhütet und bekämpft werden soll, bewertet Benkel positiv: »Das zeigt, dass partnerschaftliche Gewalt als strukturelle Gewalt anerkannt werden soll und Gewaltschutz auch beinhaltet, dass Lohn- und Fürsorgearbeit diskriminierungsfrei sein müssen.«
»Nach aktuellen Schätzungen fehlen mehr als 14.600 Schutzplätze für Frauen« – wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, 2019
Wichtig findet Benkel außerdem, dass die Koalition explizit die Finanzierung von Frauenhäusern anspricht,
(Endlich) ein Aufbruch für die Digitalisierung
von Dirk WalbrühlEs ist schon ein wenig peinlich, dass Deutschland im Jahr 2021 nach wie vor
Die neue Bundesregierung will hier endlich aushelfen und nutzt im Koalitionsvertrag das Wort »digital« auffallend häufig, inklusive prominentem Platz des Themas gleich nach der Präambel.
Doch was will sie konkret angehen? Im Mittelpunkt der Pläne steht die Versorgung mit den neuesten Standards Glasfaser und 5G – Grundlagen, ohne die Zukunftstechnologien wie selbstfahrende Autos unmöglich wären. Löblich: Vor allem die »weißen Flecken« sollen angegangen werden, also aktuell vom Netzausbau abgeschnittene Regionen abseits der großen Städte. Dafür will die Bundesregierung mehr Geld an die Kommunen verteilen. Leider fehlt ein konkreter Zeitplan und wie genau ein
Dazu sollen Behörden die Verwaltung endlich umfassend digital gestalten und auch so kommunizieren, etwa im Bereich der »öffentlichen Ausschreibungen«. Auch können demnächst Bürger:innen Petitions- und Gesetzgebungsverfahren auf einem neuen Portal online einsehen und kommentieren. Dabei verpflichtet sich der Staat zum Nutzen verschlüsselter Kommunikation und zur externen Überprüfung der IT-Sicherheit von Behörden und der Förderung offener Standards (Open Source) und der Netzneutralität. Das sind interessante Punkte, die nach der Formulierungshilfe
Vielleicht liest sich deshalb die digitale Agenda des Koalitionsvertrages tatsächlich wie ein neuer Aufbruch. Doch ausgerechnet zu den Themen staatlicher
Positiv am Koalitionsvertrag ist zum Beispiel die
Barrierefreies Gesundheitswesen: Hat die Regierung wirklich einen Plan?
von Stefan BoesIn den nächsten 4 Jahren
Andere Ziele sind denkbar unpräzise formuliert: Etwa sollen Pressekonferenzen »baldmöglichst« in Gebärdensprache übersetzt werden und Angebote in Leichter Sprache »ausgeweitet« werden. Ganz offen bleibt, wie die Ampelkoalition ein »barrierefreies Gesundheitswesen« schaffen will. Dafür kündigt sie nicht viel mehr als einen Aktionsplan bis Ende 2022 an, was bei Inklusionsaktivist:innen auf Unverständnis stößt:
Wir brauchen nicht den 48. Aktionsplan zum Thema Gesundheit, wir brauchen Taten. Bis heute gibt es nicht einmal einheitliche Erhebungen und Standards, mit denen Informationen zur Barrierefreiheit von Arztpraxen für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung gestellt werden.
Constantin Grosch kritisiert, dass die Gesundheitsversorgung nicht allen Menschen gleichermaßen offenstehe. »Durch mangelnde Barrierefreiheit, fehlendes Wissen um seltene Erkrankungen und unzureichende Kommunikationsmöglichkeiten können Menschen mit Behinderungen noch immer die medizinische Grundversorgung nicht in vollem Umfang wahrnehmen«, heißt es
Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wird sich nicht nur daran messen lassen müssen, ob er ein guter Pandemiemanager ist. In seine Bilanz wird auch einfließen, ob das unscharf formulierte Ziel des barrierefreien Gesundheitssystems in 4 Jahren erreicht ist.
Wie groß die Aufgabe ist, zeigt eine Erhebung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung:
Ein barrierefreier Zugang zu Gesundheit umfasse die Behandlung in verständlicher Sprache, verfügbare Gebärdensprachdolmetschung, flexible Untersuchungseinrichtungen und Personal, das im Umgang mit Menschen mit Lernbehinderungen und Mehrfachbehinderungen geschult sei, heißt es in der Mitteilung der Sozialheld*innen. Praxen müssten in der Lage sein, Menschen mit Behinderung adäquat zu versorgen, sagt Constantin Grosch. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Kleine Reformen statt echtem Neuanfang im Migrationsrecht
von Maria StichGleich zu Beginn des entsprechenden Kapitels verspricht der Koalitionsvertrag der Ampel einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik, »der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird.« (S. 137) Ein großes Versprechen, das sich in den Vorhaben auf den folgenden Seiten nur teilweise widerspiegelt.
Auf der Habenseite stehen Verbesserungen beim Familiennachzug und beim Bleiberecht sowie die Abschaffung von Arbeits- und Ausbildungsverboten. An anderen Stellen weist der Koalitionsvertrag aber Lücken auf. »Tief enttäuscht sind wir, dass die Regierung die bis zu 18-monatige Isolierung in den Erstaufnahmeeinrichtungen nicht antastet«, kritisiert beispielsweise der Geschäftsführer von
Für Burkhardt entscheidet sich die Zukunft des Asylrechts aber nicht allein in Deutschland, sondern vor allem auf EU-Ebene. Positiv bewertet er, dass sich die Koalition hier klar zur Rechtsstaatlichkeit bekennt – was in der EU nicht mehr selbstverständlich sei.
Jegliche finanzielle Unterstützung für Staaten wie Polen, Ungarn, Griechenland und Kroatien muss eingestellt werden, wenn die Pushbacks dort weitergehen. Kein Euro aus deutschen oder EU-Mitteln darf in den Bau neuer Mauern und Festungsanlagen fließen.
»Alle beschlossenen Gesetzesänderungen müssen nun in einem 100-Tage-Programm gesetzlich auf den Weg gebracht werden«, fordert Günter Burkhardt weiter. Allerdings:
Der Personentransport auf der Schiene muss 6-mal so schnell wachsen wie bisher. Geht das überhaupt?
von Désiree SchneiderDie vorherige Bundesregierung hatte sich 2018 zum Ziel gesetzt, die Zahl der Bahnreisenden bis 2030 zu verdoppeln – also von
Die Ampelkoalition hat nun noch einen draufgelegt: Sie will die
»Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aus unserer Sicht aber machbar«, sagt Markus Sievers, Pressesprecher der Allianz pro Schiene. Der genaue Fahrplan sei im
Der politische Wille ist da, die Ziele sind formuliert – und es sind gut messbare Ziele. Nun liegt es an der neuen Regierung, in konkreten Programmen genügend Geld für die Umsetzung der Projekte bereitzustellen – auch damit die Fahrpreise bezahlbar bleiben.
Mit Illustrationen von Aelfleda Clackson für Perspective Daily