Was jetzt noch für eine Impfpflicht spricht – und was dagegen
Erst wurde sie ausgeschlossen, dann sollte sie schnell kommen, jetzt ist alles wieder offen: Die Impfpflicht ist wohl das derzeit umstrittenste politische Thema in Deutschland. Wir erklären, was jetzt wichtig ist.
Mitten in der Omikron-Welle diskutiert Deutschland über eine allgemeine Impfpflicht – nachdem das lange Zeit als ausgeschlossen galt. An diesem Mittwoch steht das Thema auf der
Mehrere Gruppen von Abgeordneten haben Ideen für die Ausgestaltung der Impfpflicht vorgeschlagen.
Bei allen noch bestehenden Unklarheiten steht eine Frage im Zentrum der Diskussion: Ist eine allgemeine Impfpflicht wirklich sinnvoll und rechtlich auch umsetzbar? Die wichtigsten Argumente dafür und dagegen.
Was dafür spricht: Prävention ist immer noch wichtig
Dass eine Impfpflicht in der Lage ist, eine Krankheit auszurotten, zeigt das Beispiel der Pocken: Rund 100 Jahre, von 1874 bis 1976, waren die Menschen in Deutschland dazu verpflichtet, sich gegen das Virus impfen zu lassen. Die letzten Fälle von Pocken in Deutschland traten 1972 auf, mittlerweile gilt die Krankheit weltweit als ausgerottet. Lässt man die Emotionen und den Widerstand beiseite, die auch diese Pflichtimpfung begleiteten, lässt sich faktisch sagen, dass
Eine allgemeine Impfpflicht wäre rechtlich möglich.
Ausgeschlossen ist eine Impfpflicht allerdings nicht: Das Infektionsschutzgesetz sieht vor, dass sie
Während das Ziel bei den Masern ist, die Krankheit vollständig auszurotten, geht es bei der Impfung gegen Covid-19 darum, schwere Verläufe mit der Krankheit zu verhindern – und so einer Überlastung des Gesundheitssystems und der kritischen Infrastruktur vorzubeugen. Eins zu eins vergleichen lassen sich die beiden Situationen also nicht.
Trotzdem gibt es einige Gründe, die für eine Impfpflicht sprechen. Der wichtigste: Bislang schützt nichts so gut vor schweren Covid-19-Verläufen wie eine Impfung – immer mehr Daten bestätigen das.
Doch auch in der jüngeren Bevölkerungsgruppe ist ein Effekt durch Grundimmunisierung und Booster deutlich zu sehen:
Um die Pandemie einzudämmen, ging das Robert Koch-Institut zuletzt davon aus, dass in der Altersgruppe ab 60 Jahren mehr als 90% der Menschen geimpft werden müssten, in der Gruppe von 18–59 Jahren schlägt das RKI eine Impfquote von 85% vor. Die aktuellen Quoten liegen noch immer deutlich darunter. Die Impfpflicht, so die Hoffnung der Befürworter:innen, könnte das ändern.
Vermehrt diskutiert wird derzeit die Frage, ob ein milderer Verlauf von Omikron Impfungen und damit auch eine Impfpflicht überflüssig machen könnte. Um das zu beantworten, fehlen allerdings noch Daten. In der Vergangenheit hat sich zudem mehrfach gezeigt, dass vorsorgliches Handeln in der Pandemie sinnvoll sein kann. Zumal nicht auszuschließen ist, dass auf die mildere Omikron-Variante eine Virusmutante folgt, die wieder schwerere Verläufe hervorruft. Das betonte Virologe Christian Drosten in einem
Es könnte sein, dass diejenigen, die noch gar keine Immunität haben, sich zwar mit dem Omikron-Virus, wie es jetzt im Moment ist, infizieren könnten – ohne einen sehr schweren Verlauf zu kriegen. Aber es könnte ebenfalls sein, dass innerhalb von wenigen Wochen plötzlich eine Omikron-Virusvariante da ist, die wieder eine stärker krankmachende Wirkung mitbringt. Gegen diese Wirkung hätten diejenigen, die nicht geimpft sind, dann gar keinen Immunschutz. Dagegen könnte man auch nicht so schnell animpfen.
Davor, die Immunität durch natürliche Durchseuchung statt durch die Impfung zu erreichen, warnen auch andere Mediziner:innen. »Es ist eine Illusion, dass wir jetzt quasi in kurzer Zeit die Bevölkerung durch natürliche Infektionen immunisieren. Wenn das passiert, bricht nicht nur unser Gesundheitssystem, sondern auch unsere kritische Infrastruktur zusammen«, sagte etwa Immunologe Leif Erik Sander in einem Presse-Briefing des Science Media Centers. Wir brauchen also mehr Impfungen. Nur ist die Impfpflicht tatsächlich der richtige Weg, um das zu erreichen?
Der Deutsche Ethikrat hat sich im Dezember 2021
Richtig umgesetzt, so die Hoffnung, könnte eine Impfpflicht den Weg aus der Pandemie beschleunigen, die aktuellen Einschränkungen beenden und mittel- bis langfristig dazu beitragen,
Ein möglicher positiver Nebeneffekt der Pflicht: Menschen, die sich bislang nicht für eine Impfung entscheiden konnten, würde die Entscheidung abgenommen. So müsste sich niemand eingestehen, dass er oder sie die eigene Meinung geändert hat, denn das fällt vielen Menschen schwer. Die Impfpflicht könnte eine Ausrede zum Selbstschutz bieten.
Eine Impfpflicht kann allerdings nur dann gelingen, wenn sie auch richtig kommuniziert wird. Darauf weisen auch die Forschenden des Covid-Snapshotmonitoring (COSMO) hin. In der Befragung zeigte sich, dass die Einführung einer Impfpflicht nicht dazu in der Lage wäre, die Impfbereitschaft unter den Befragten zu erhöhen. Die Forschenden gehen allerdings davon aus, dass eine real bestehende Impfpflicht einen anderen Effekt haben könnte. Denn in der Realität würde das Umgehen der Pflicht bedeuten, Widerstand gegen ein Gesetz zu leisten –
Was dagegen spricht: Die Politik verspielt zunehmend das Vertrauen der Menschen
Die Frage nach einer Impfplicht lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Sicher ist, dass es in Deutschland noch immer zu viele Ungeimpfte gibt, um die bestehenden Coronamaßnahmen zurückzufahren und das Gesundheitswesen vor einer weiteren möglichen Überlastung zu schützen.
Mit einer allgemeinen Impfpflicht, so die Hoffnung vieler Politiker:innen, könnte dieses Ziel erreicht werden. Mit einer Erhöhung des Drucks auf Ungeimpfte, mit Sanktionen, mit Zwang also. Ganz abgesehen davon, dass die Erfolgsaussichten unklar sind, weil Erfahrungswerte aus anderen Ländern fehlen, wirft das Thema viele rechtliche, ethische und auch ganz praktische Fragen auf.
Um zum letzten Mittel einer Impfpflicht zu greifen, argumentiert der Deutsche Ethikrat, müssen deshalb hohe Voraussetzungen erfüllt sein:
- Eine Ausweitung der Impfpflicht müsse flankiert werden von einer Reihe von Maßnahmen, etwa mit sehr vielen niedrigschwelligen Impfangeboten und zwar flächendeckend in ganz Deutschland.
- Eine Impfpflicht müsse mit zielgruppenspezifischer, kultursensibler, mehrsprachiger und leicht verständlicher Information, auch über soziale Medien, verbunden sein.
- Die Politik soll laut Ethikrat bei der Umsetzung der Impfpflicht bewusst darauf hinwirken, Frontstellungen zwischen geimpften und nicht geimpften Menschen zu vermeiden.
Diese Forderungen zeigen, dass die zu niedrige Impfquote keineswegs nur auf den vermeintlich impfunwilligen Teil der Bevölkerung zurückzuführen ist. Man könnte genauso gut behaupten: Die deutsche Impfkampagne ist einfach nicht gut genug. Und um das zu kaschieren, müssen die Zahlen jetzt möglichst rasch mit einer Impfpflicht aufgebessert werden. Hätte die Regierung ihre Kampagne vorausschauend geplant, die Menschen umfassender informiert, sie systematisch zu Impfterminen eingeladen und die Zusammenarbeit mit Bundeswehr, Hilfsorganisationen, kommunalen Behörden und Initiativen besser koordiniert – dann wären jetzt mehr Menschen geimpft.
Doch statt eigene Fehler zu benennen und aufzuzeigen, wie sie künftig besser überzeugen wollen, arbeiten die politischen Akteur:innen ganz offen mit Schuldzuweisungen. Jüngstes Beispiel dafür ist Hendrik Wüst, NRW-Ministerpräsident. In der
Die Bundesregierung hat noch im Sommer eine Impfpflicht ausgeschlossen.
Auf Grundlage von Schuldzuweisungen eine allgemeine Impfpflicht einzuführen, ist nicht nur aus rechtlichen und ethischen Gründen problematisch. Ein Zeichen setzen zu wollen genügt als Argument nicht. Wenn die deutsche Politik in diesem Kommunikationsstil weiter an der Impfpflicht arbeitet, riskiert sie zum einen den Rückhalt in der Mehrheit der Bevölkerung, die aktuell noch dafür ist. Gleichzeitig treibt sie die Polarisierung in der Gesellschaft voran.
Die Vorzeichen, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen, waren in Deutschland nie gut: Die Bundesregierung hat eine verpflichtende Impfung von Anfang an ausgeschlossen, stets war vom Impfangebot die Rede. Noch bis in den Sommer 2021 hinein hieß es vonseiten beider Regierungsparteien: Es wird keine allgemeine Impfpflicht geben.
Natürlich konnte niemand vorhersehen, dass mit Omikron eine neue, noch ansteckendere Variante auftritt, gegen die die bestehenden Impfstoffe weniger wirksam schützen. Damit haben sich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine mögliche Impfpflicht verändert. Eine Impfpflicht kategorisch für alle Zeiten auszuschließen war ein Fehler, wie sich jetzt zeigt. Um diesen Fehler korrigieren zu können, ist es umso wichtiger, dass alle Menschen verstehen, warum es die Impfpflicht jetzt doch braucht, ab wann sie gilt, wie sie aussehen und durchgesetzt werden soll. Doch diese Klarheit lässt die Politik nicht erkennen.
Die Zustimmung zu einer allgemeinen Impfpflicht sinkt.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich bereits seit November für eine Impfpflicht einsetzt, hat zunächst angekündigt, dass diese spätestens Anfang März eingeführt werden soll. Wie sie genau aussehen soll, ist seitdem offen. Ein eigenes Konzept hat die Bundesregierung nicht vorgelegt und plant dies auch nicht mehr zu tun. Und auch den ambitionierten Zeitplan wird die Bundesregierung nicht halten können.
Nach der Orientierungsdebatte diese Woche wird erwartet, dass eine Abstimmung im Bundestag bis Ende März stattfinden könnte. Die Impfpflicht könnte dann frühestens im April im Bundesrat beschlossen werden. Die Umsetzung ist damit noch nicht geklärt. Einen Überblick über den Impfstatus der Bürger:innen, etwa in Form eines zentralen Impfregisters, hat der deutsche Staat nicht.
Bundeskanzler Scholz behauptete am Wochenende
Unter all diesen Voraussetzungen eine allgemeine Impfpflicht zu beschließen, samt der notwendigen Sanktionen, wird nicht leicht. Auch wenn die Debatte im Bundestag jetzt erst beginnt: Vielleicht hat die Politik die Chance, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen, bereits verpasst.
Titelbild: Diana Polekhina - CC0 1.0