»Wir wollten nicht zu zweit in diesem Pärchending versauern!«
Umzug ins Mehrgenerationenhaus gegen Einsamkeit im Alter? Das sei nur einer von vielen Vorteilen, die diese Wohnform biete, sagt PD-Mitglied Mareile. Wir haben sie in ihrer WG aller Altersstufen besucht.
Die Dämmerung setzt schon langsam ein, wir nehmen Kurve um Kurve auf der Bundesstraße, bis wir schließlich Höxter erreichen. Rund 30.000 Einwohner:innen hat die Stadt im Weserbergland, der nächste Autobahnanschluss ist 40 Kilometer entfernt. Ein beschaulicher Ort mit viel Fachwerk, das örtliche Kloster Corvey ist UNESCO-Weltkulturerbe.
Trends werden hier eher nicht gesetzt. Das sagt zumindest Mareile, die uns heute zu sich nach Hause eingeladen hat: »Viele zukunftsgewandte Themen oder Konzepte, über die ihr bei Perspective Daily berichtet, kommen hier auf dem Land nicht an.« Sie erzählt, dass viele junge Leute wegzögen, während die Älteren zurückblieben.
Mareile und ihr Partner Felix haben sich bewusst für das Leben in Höxter entschieden. Und nicht nur das: Sie wollen ihr Leben auf dem Land mit Menschen verschiedenen Alters teilen. Seit 3 Jahren wohnen sie deshalb in einem Mehrgenerationenhaus in der Mitte des Ortes – die jüngste Bewohnerin ist eineinhalb Monate alt, der älteste 73 Jahre.
Welche Vorteile sehen sie in diesem ungewöhnlichen WG-Leben? Und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit das Zusammenleben funktioniert?
Kommunikation ist alles!
Das Haus in der Papenstraße ist in einem knalligen Rot gestrichen. Wir durchqueren den Garten und lassen uns von einem Bewohner des Hauses zu Mareiles und Felix Terrassentür dirigieren. Das Wohnprojekt besteht aus insgesamt 8 Wohnungen und einer im Jahr 2016 eröffneten Kita. Die Bewohnenden teilen nicht alles, sondern haben mit ihren eigenen Wohnungen Rückzugsorte, die nur ihnen gehören. Für einen Gemeinschaftsraum, Waschküche, Keller und Garten übernehmen sie gemeinsam die Verantwortung.
Mareile und Felix bewohnen knapp 60 Quadratmeter zur Miete, die für Höxter nicht ganz günstig sei,
Den Garten hätten sie dort zusammen genutzt und auch sonst viel Zeit miteinander verbracht, erzählt Mareile, die wie Felix nicht aus Höxter stammt. »Wir sind zugezogen, wollten Menschen treffen und nicht in diesem Pärchending zu zweit versauern.« Als sie sich ein bisschen vergrößern wollten, kam über Mareiles Chef der Kontakt zur Architektin des Wohnprojekts zustande, in dem sie heute leben.
Felix erzählt vom ersten Kennenlernen: »Wir wurden zu einer Art Bewerbungstreffen eingeladen, verbunden mit einem Ausflug.« Nach einem gemeinsamen Tag im Tierpark, einer Wanderung und Kaffee und Kuchen im Garten hat sich schnell geklärt: Mareile und Felix dürfen einziehen. »Wir wussten sofort, dass wir auf einer Wellenlänge sind.«
Über neue Bewohner:innen wird im Mehrgenerationenhaus Höxter gemeinsam entschieden,
Manchen seien die Räume zu selten gereinigt worden, andere wiederum sahen es nicht ein zu putzen, wenn kein Dreck sichtbar sei. Letztlich hätten sich die Wogen geglättet und man habe sich geeinigt, dass ein Reinigungsdienst monatlich diese Aufgabe übernimmt.
Einmal im Jahr engagiert die Hausgemeinschaft sogar eine externe Mediatorin, um Streitigkeiten wie diese zu lösen. Im Gespräch hat jede:r die Gelegenheit zu sagen, was unausgesprochen geblieben ist, aber vielleicht trotzdem im Inneren genagt hat.
»Der Trend geht zum Tiny House, immer mehr Leute kapseln sich ab«
»Nicht drumherum reden, wenn jemand mal nicht zufrieden ist«, das sei wichtig, sagt Mareile. Die Konfliktpunkte, von denen sie erzählt, dürften allen bekannt vorkommen, die mit anderen Menschen zusammenleben: »Manche Leute werden nervös, wenn die Mülltonnen um 6 Uhr noch nicht draußen stehen, obwohl sie erst um 8 Uhr abgeholt werden. Wenn ich dann darauf angesprochen werde, nervt mich das.« Gerade die älteren Mitbewohner:innen, die schon in Rente seien, hätten eben ein bisschen mehr Zeit, sich über so etwas Gedanken zu machen, so die 32-Jährige.
Was zur zentralen Frage führt: Wie funktioniert das Zusammenleben zwischen Jung und Alt? »Es ist nicht das Konzept, dass die Jüngeren den Älteren helfen«, stellt Mareile klar, während wir an ihrem Wohnzimmertisch Gurken und Tomaten aus dem Gemeinschaftsgarten knabbern.
Darüber hatten wir uns während der Fahrt nach Höxter Gedanken gemacht – ob das Leben im Mehrgenerationenhaus bedeutet, dass die Jüngeren den Älteren helfen. Dazu gibt es in der Papenstraße eine klare Vereinbarung: Pflege wird nicht geleistet. Und obwohl Felix erzählt, dass er den älteren Mitbewohner:innen natürlich helfe, wenn ein Drucker eingerichtet werden müsse, klingt heraus, dass es vielleicht sogar eher die Jüngeren sind, die von den Älteren profitieren, wenn diese bei der Kinderbetreuung aushelfen oder auch mal für die Berufstätigen mitkochen. Ein Punkt, den er anspricht, wird oft nicht deutlich, wenn es um das Konzept Mehrgenerationenwohnen geht: »Wir sehen den anderen nicht als alte Person, sondern als Freund«, so Felix.
Trotzdem sei es schwer, jüngere Menschen davon zu überzeugen, sich von den klassischen Wünschen nach Haus, Auto und dem Leben nur mit dem Partner oder der Partnerin zu trennen.
»Diesen Gedanken wollte ich euch mitgeben: Es geht nicht darum, dass die Jüngeren den Älteren helfen oder umgekehrt«, sagt Mareile. »Es geht um die Gemeinschaft.«
Es geht darum, sich auszutauschen, mit verschiedenen Leuten unter einem Dach. Man ist bereit, mit anderen Leuten etwas zu teilen, Schwierigkeiten auszudiskutieren und im Alltag nicht ganz unabhängig zu sein. Der Trend geht zum Tiny House, immer mehr Leute kapseln sich ab. Ich bin dafür, dass die Leute mehr miteinander reden.
Das Wohnen im Mehrgenerationenhaus hat für Mareile ganz klar eine politische Dimension. Das Gemeinschaftsgefühl strahle nach außen.
Der Einpersonenhaushalt ist in Deutschland die häufigste Wohnform
Mehr Gemeinschaft kann diese Gesellschaft gerade gut gebrauchen, so scheint es zumindest. Seit einigen Jahren wird
Jede fünfte Person in Deutschland wohnt allein
Laut dem Statistischen Bundesamt betrug der
Längst nicht alle Menschen, die allein leben, fühlen sich einsam. Viele schätzen den Freiraum und die Unabhängigkeit. Doch mit zunehmendem Alter mehren sich einige Risikofaktoren. Das hat man auch im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erkannt:
Insbesondere bei Älteren über 80 Jahren besteht ein deutlich höheres Risiko einer sozialen Isolation, wenn zahlreiche andere Problemlagen dazukommen, die Einsamkeit begünstigen oder auslösen können. Dazu gehören zum Beispiel Schicksalsschläge, Erkrankungen, abnehmende körperliche Mobilität, mangelnde Mobilitätsangebote, zunehmende Altersarmut oder Migrationshintergrund.
Betroffene bräuchten Unterstützung,
Ein prominenter Fürsprecher des Konzepts ist der ehemalige Bremer Oberbürgermeister Henning Scherf. Als die Kinder aus dem Haus waren, sind er und seine Frau vor mehr als 30 Jahren mit einer kleinen Gruppe von Freund:innen in eine renovierungsbedürftige Stadtvilla im Bahnhofsviertel gezogen. Seitdem hat die Wohngemeinschaft einiges zusammen durchgemacht. Eine Ehe ist im Haus zerbrochen, 3 Menschen sind gestorben. Eine Frau, die an Krebs erkrankt war, wurde von der Gemeinschaft bis zu ihrem Tod gepflegt.
Scherf hat einige Bücher zum Thema Mehrgenerationenwohnen geschrieben, auch in Interviews spricht er immer wieder
In diesem Interview mit dem MDR erzählt Henning Scherf unter anderem, warum gemeinschaftliches Wohnen auch für Leute mit wenig Geld attraktiv sein könne:
Was man für ein Wohnprojekt mitbringen muss? Lust zum Anpacken – und einen extrem langen Atem
Zurück nach Höxter. Felix muss los, er betreibt chinesische Kampfkunst und bietet heute im Gemeinschaftsraum des Hauses einen Kurs an. Draußen ist es inzwischen dunkel. Mareile fragt: »Wollt ihr noch rüber zu Peter? Der hat ein schönes Fotoalbum!« Wollen wir!
Wir durchqueren also wieder den liebevoll angelegten Garten mit den Hochbeeten, der Kinderschaukel und den Bänken und klopfen an der Terrassentür schräg gegenüber.
Peter und seine Frau Dagmar gehören zu den älteren Bewohner:innen des Mehrgenerationenhauses – und zu denjenigen, die seit Anfang an dabei sind. Sie sitzen in der Wohnung von Bärbel und Klaus bei einem Bier zusammen und freuen sich über unseren Besuch.
Man muss die 4 nicht lange bitten, von der Geschichte des Hauses und ihrer Gemeinschaft zu erzählen. Das besagte Fotoalbum liegt schnell auf dem Tisch und alle sprechen ein bisschen durcheinander, während sie sich daran erinnern, wie sie in der Anfangsphase selbst mit angepackt haben und Tapeten von der Wand des alten Hauses kratzten (bevor die Architektin dann beschloss, dass die Wand doch komplett wegkann). Es klingt nach viel Arbeit und danach, als müsse man bei einem solchen Projekt einerseits Lust zum Anpacken, andererseits einen extrem langen Atem mitbringen. 3–4 Jahre hat sich die Gruppe jeden Monat getroffen, bevor es überhaupt losging mit dem Kauf und dem Umbau des Hauses. Insbesondere jüngere Leute würde das abschrecken.
Kennengelernt haben sich die Mitglieder der Kerngruppe bei einer Veranstaltung der örtlichen Volkshochschule zum Thema Mehrgenerationenwohnen, daraus habe sich dann eine Interessengruppe von rund einem Dutzend Personen gebildet, inklusive Architektin.
Das Haus gehörte zu diesem Zeitpunkt der Stadt, »eine ziemlich marode Bude«, wie einer der heutigen Bewohner sagt. Kein Wunder, denn es ist schon mehr als 300 Jahre alt. Früher war es ein Adelshof, später diente es als Pfarrhaus, zeitweise auch als Schule. Die Gruppe fragte bei der Stadt nach, ob diese das Haus verkaufen würde – nach einigem Hin und Her klappte der Deal. 1,4 Millionen Euro investierte die Gruppe in Kauf und Umbau. Aus heutiger Sicht ein Schnäppchen. Aber auch jede Menge Arbeit, von der die Runde am Tisch sagt, dass sie sie zusammengeschweißt hätte.
Was hat die älteren Bewohner:innen dazu motiviert, sich mit anderen zusammenzuschließen, mit Menschen wie Mareile und Felix, die einer ganz anderen Generation angehören? WG-Erfahrung hätten sie keine gehabt, erzählen Peter und die anderen; bevor sie in der Papenstraße einzogen, lebten die Mitglieder der Gruppe im Eigenheim oder zur Miete.
Auch für sie war es in erster Linie der Wunsch nach Gemeinschaft. »Mehrgenerationenwohnen gibt es ja schon immer, nur eben innerhalb der Familie. Hierher sind wir freiwillig gekommen, das ist eine ganz andere Grundlage.« Bereut hätten sie es, nach eigener Aussage, noch keine Sekunde.
Mit Illustrationen von Aelfleda Clackson für Perspective Daily