Darf ich fühlen, was ich gerade fühle?
Ohnmacht, Angst, Trauer: Der Krieg in der Ukraine löst starke Emotionen aus, auch bei uns. Doch vieles, was wir empfinden, scheint gerade unangemessen. Welche Gefühle uns jetzt bewegen und wie wir damit umgehen
Der Krieg in der Ukraine bestimmt jetzt seit über einer Woche die Nachrichten – und es gibt derzeit wenig Hoffnung, dass die russischen Angriffe bald enden werden. Mit jeder neuen Nachricht, jeder weiteren Eskalation wachsen auch die Angst, die Verzweiflung und Hilflosigkeit, auch bei Menschen, die nicht direkt von den Ereignissen betroffen sind. Dann wiederum gibt es Momente im Alltag, in denen die Welt in Ordnung zu sein scheint.
Egal was wir fühlen, irgendwie erscheint alles unangemessen angesichts des Leids, das Ukrainer:innen derzeit in ihrem Heimatland oder auf der Flucht aus dem Land erleben. Menschen dafür zu verurteilen, was sie empfinden, oder sich selbst schuldig für die eigenen Emotionen zu fühlen, hilft jedoch wenig. In diesem Text helfen wir dir zu verstehen, welche Emotionen uns jetzt bewegen, warum das völlig in Ordnung ist und wie du lernst, mit diesen Gefühlen umzugehen.
Angst vor dem Krieg: Warum es normal ist, sich jetzt zu sorgen
Ein Gefühl, das gerade viele Menschen teilen, ist Angst – auch in Deutschland. Doch warum fürchten wir uns, obwohl wir im Grunde gar nicht direkt betroffen sind? Zumindest nicht in dem Maße, wie die Menschen vor Ort oder jene, die Angehörige in der Ukraine haben. Ein Grund für unsere Sorgen und Ängste ist, dass wir nicht einschätzen können, wie groß die Bedrohung in der Ukraine für uns ist. »Wir haben keine Erfahrungswerte, mit deren Hilfe wir das Risiko einschätzen können.
Angst ist nicht gleich Angst.
Fühlen wir uns bedroht, reagiert das Angstsystem unseres Körpers. Das können wir zunächst gar nicht steuern: Als Sofortmaßnahme wird die
In der aktuellen Situation hilft sie uns allerdings wenig. Uns erreichen zu viele verschiedene Informationen, die es unserem Gehirn schwer machen, die Situation rational zu bewerten. Wir sorgen uns – ohne dass wir der Krise dadurch entkommen können.
Es setzt sich eine Spirale in Gang: Wir sind besorgt und beschäftigen uns mit dem Thema, um die Gefahr einordnen zu können. Das erregt uns noch weiter und wir haben das Gefühl, noch mehr in Erfahrung bringen zu müssen. Doch mehr Informationen helfen uns nicht dabei, das Problem zu lösen. Wir geraten hier in einen Kreislauf, der immer mehr Aufmerksamkeit zieht und kaum Raum für andere Gedanken lässt.
Doch was hilft uns dabei, diesem Kreislauf zu entkommen? Können wir unsere Ängste und Sorgen einfach beiseite wischen? »Auf gar keinen Fall«, sagt Keil. »Jetzt Angst zu haben ist völlig natürlich. Es hilft auch nicht, sich zu sagen, dass es anderen schlechter geht und wir deshalb keine Angst haben dürfen. Angst ist keine begrenzte Ressource«, meint er und rät: »Wenn ich feststelle, dass ich Angst habe, kann ich mich aber fragen, was hinter diesem Gefühl steckt. Das kann helfen, es zu überwinden und nicht zu erstarren oder in einen Teufelskreis zu geraten, in dem sich unser Informationsbedürfnis und unsere Sorgen gegenseitig verstärken.«
Um herauszufinden, wovor wir uns eigentlich genau fürchten, kann es helfen, mit anderen über unsere Ängste zu sprechen. »Oft fühlen wir uns schon besser, wenn wir sehen, dass wir nicht allein sind und andere sich auch sorgen«, sagt Keil. Über Sorgen zu sprechen könne zudem auch anderen Menschen helfen, sich zu öffnen: »Wer sich öffnet, durchbricht ein allgemeines ›Unter-den-Tisch-Kehren‹ der Sorgen. Gerade Männern, die vielleicht das Gefühl haben, sie dürfen keine Angst vor Krieg haben, kann das helfen.«
Hilflosigkeit: So kannst du der Ohnmacht entfliehen
Dass uns aktuell nichts anderes übrigbleibt, als aus der Ferne zuzusehen, wie die ukrainische Bevölkerung attackiert wird, bereitet uns nicht nur Sorgen, sondern lässt uns auch hilflos zurück. Die Meldungen in den sozialen Medien und Liveblogs vermitteln uns zwar das Gefühl, wir könnten das Geschehen in Echtzeit verfolgen. Doch es gibt einen Unterschied zwischen den Menschen, die vor Ort sind, und uns in der Ferne: Wir sind eben nicht dabei, wir können das Geschehen nicht beeinflussen.
Mit passivem Medienkonsum helfen wir weder uns selbst noch anderen.
Anders als beim sogenannten
Wie ein solches Engagement aussehen kann, hat zum Beispiel die Stadt Köln am Rosenmontag gezeigt. Der Karnevalsumzug wurde abgesagt, die Menschen zogen trotzdem durch die Stadt, mit ukrainischen Flaggen, blau-gelb bemalten Gesichtern und Plakaten mit Friedensbotschaften. Anschließend trafen sich viele Kölner:innen in ihren Stammkneipen, um über die Situation zu sprechen. Sie blieben nicht allein mit ihren Smartphones und den Nachrichten. Am Donnerstag demonstrierten Zehntausende Schüler:innen in deutschen Städten für Frieden in der Ukraine. Die Klimabewegung Fridays for Future hatte zu den Friedensdemos aufgerufen. Allein in Hamburg gingen nach Polizeiangaben 20.000 Menschen auf die Straße, nach Einschätzung von Fridays for Future waren es sogar 120.000.
Auf diese Weise können die Menschen spüren, dass andere ähnliche Gefühle haben und sie gemeinsam etwas tun können. Gemeinschaft, positive Emotionen und Feedback auf das eigene Handeln
Es gibt vieles, was du jetzt tun kannst.
Wer jetzt etwas tun will: Auch in vielen anderen Städten finden derzeit Demonstrationen statt,
Wenn du wissen willst, wie du dich sonst noch informieren und den Menschen vor Ort helfen kannst, hilft dir dieser Artikel, den die Perspective-Daily-Redaktion fortlaufend aktualisieren wird:
Mitgefühl: Warum dich die Lage in der Ukraine stärker bewegt als andere Konflikte
Der Krieg in der Ukraine löst in Europa eine ganz neue Betroffenheit aus – und eine Hilfsbereitschaft, wie wir sie vorher nur selten erlebt haben. Die Krise zeigt deutlich, dass es für uns offenbar einen Unterschied macht, wer von einer Katastrophe betroffen ist. »Das liegt unter anderem daran, dass uns die Ukraine geografisch sehr nah ist«, sagt Biopsychologe Keil.
Die Bilder aus der Ukraine kommen uns sehr vertraut vor. Die zerbombten Häuser könnten so auch in Berlin stehen. Die Bildsprache vermittelt uns eine deutlich stärkere Nähe und das führt dazu, dass wir uns stärker bedroht fühlen.
Doch nicht nur die geografische Nähe spielt eine Rolle. Viele Menschen in Deutschland fühlen sich den Betroffenen in der Ukraine stärker verbunden als Menschen, die aus Syrien oder Afghanistan vor dem Krieg flüchten müssen. In der Nachrichtensendung MBC News sagt eine Journalistin, die aus Polen sendet: »Um es ganz klar zu sagen, das sind keine Flüchtlinge aus Syrien, das sind Flüchtlinge aus der benachbarten Ukraine. […]
Das ist nur eines von vielen Beispielen, die deutlich hervorheben, dass Geflüchtete aus der Ukraine für viele Menschen in Europa und im Globalen Norden einen anderen Stellenwert haben. Berichte, denen zufolge Schwarze Studierende, die aus der Ukraine flüchten wollten, zunächst nicht über die Grenze gelassen wurden,
»Es gibt Forschung, die belegt, dass wir uns mit unserem Gegenüber eher identifizieren können, wenn wir uns optisch ähneln. Auch was Teil unseres Alltags ist, uns nahe scheint, bewerten wir positiver. Wenn ich in einer sehr homogenen Gesellschaft aufwachse, mein gesamtes Umfeld weiß ist, sehe ich weiße Menschen automatisch als meine Ingroup an«, erklärt Keil. »Habe ich viel Kontakt mit Menschen anderer Hautfarbe, ändert sich diese Wahrnehmung.«
Dass es eine psychologische Erklärung für diesen Impuls gibt, heißt nicht, dass unser Verhalten nicht rassistisch ist – im Gegenteil. Eine Ausrede, mit der sich rassistische Verhaltensweisen rechtfertigen lassen, ist es übrigens auch nicht. Umso wichtiger ist es, die eigenen Auffassungen zu reflektieren, findet Keil: »Es gibt kognitive Strategien, mit denen wir unser Verhalten beeinflussen können. Dazu gehört es, sich bewusst zu machen, dass Rassismus die eigene Wahrnehmung beeinflusst.« Sich das Problem bewusst zu machen und sich aktiv damit auseinander zu setzen, ist ein erster Schritt, der dabei helfen kann,
Die Ukrainer:innen erscheinen uns näher als noch vor ein paar Wochen.
Die Solidarität für die Ukrainer:innen zeigt noch etwas anderes: Während in den letzten Jahren Berichte, worin es um die Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte ging, eher wenig Aufmerksamkeit erfahren haben, scheint der gesamte Globale Norden mit den Kriegshandlungen in der Ukraine enger zusammenzurücken. Aus den »osteuropäischen Ausländern« werden plötzlich Verbündete, Europäer:innen.
Auch dieser Effekt hänge mit unserem Furchtsystem zusammen, erklärt Keil: »Je größer meine Furcht ist, desto enger wird mein Fokus. Wenn wir uns bedroht fühlen, fallen wir in ein Schwarz-Weiß-Denken. Auf der einen Seite stehen gerade die ›bösen Russen‹ und auf der anderen Seite die ›guten Europäer‹. Wir können nicht mehr differenzieren.« Bei vielen spiele hier auch das Stereotyp von »Russland als Bedrohung« eine Rolle, das aus Zeiten des Kalten Krieges stammt und nach wie vor Bestand hat. »Es hilft, sehr gut zu hinterfragen, woher unsere Einstellungen kommen«, sagt Keil. Denn pauschale Verurteilungen helfen auch jetzt niemandem weiter. Dazu zählt auch, Russ:innen nicht pauschal als Befürworter:innen des Krieges zu sehen – denn auch russische Menschen demonstrieren gegen Putin, sowohl in Deutschland als auch in Russland selbst.
Wir müssen es schaffen, Menschen nicht als Gruppen zu betrachten, denn damit entmenschlichen wir sie. Wir müssen jeden Menschen als Individuum sehen.
Trauer: Warum es wichtig ist, dieses Gefühl zu erkennen
»Die Welt, in der wir heute aufgewacht sind, ist eine andere«,
Wir trauern um einen »uneindeutigen Verlust«.
Trauer ist vielleicht nicht die erste Reaktion, woran du im aktuellen Kontext denkst. Doch auch bei Verlusten, die nicht so eindeutig und einschneidend sind wie zum Beispiel der Tod eines nahestehenden Menschen, können wir Trauer empfinden. Die amerikanische Psychotherapeutin Pauline Boss hat dafür den Begriff des
Weil wir nur Beobachter:innen in der Ferne sind, mag es auf den ersten Blick unangemessen erscheinen, das große, schwere Wort »Trauer« dafür zu beanspruchen, was wir fühlen. Wenn du in dich hineinhörst, stellst du aber vielleicht fest, dass es ganz gut zu deiner Traurigkeit, deiner Enttäuschung und deiner Wut passt.
Gar nichts zu fühlen heißt nicht, dass dir alles egal ist
Angst, Wut und Verzweiflung – die Reaktionen auf die Angriffe in der Ukraine prasseln von allen Seiten auf uns ein und viele Menschen erleben diese Emotionen auch selbst. Was ist aber, wenn du kaum etwas fühlst? Wenn du weißt, dass du eigentlich Angst oder Mitgefühl haben solltest, in dir aber nichts als Leere herrscht, hat auch das einen Grund und nichts damit zu tun, dass dir alles egal ist.
Die Pandemie hat in den letzten 2 Jahren viele Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht und das wieder und wieder – ohne Pause oder Raum für Erholung. Manche Menschen haben deshalb einfach keine Kapazitäten mehr für große Emotionen. Die gefühlte Teilnahmslosigkeit muss aber nicht bedeuten, dass ihnen das Leid der Ukrainer:innen egal ist. Sie ist ein Zeichen dafür, dass sie zuerst einen Weg finden müssen, um wieder etwas zu fühlen. Wie das gehen kann, erfährst du in diesem Text:
Wenn die Apathie anhält oder deinen Alltag beeinträchtigt, solltest du dir Unterstützung suchen. Am Ende des Artikels findest du eine Liste mit Hilfsangeboten, woran du dich wenden kannst.
Es geht dir gut? Kein Grund für Schuldgefühle
Für die meisten von uns geht das Leben trotz allem normal weiter. Vielen Menschen gelingt es, sich zwischendurch vom Alltag ablenken zu lassen und ab und an Momente der Freude und der Leichtigkeit zuzulassen. Besonders in diesen unbeschwerten Momenten meldet sich manchmal eine Stimme im Kopf, die fragt: »Wie kann ich mich freuen und lachen, während die Menschen in der Ukraine um ihr Leben bangen?«
Wir empfinden Schuld, weil es uns gut geht. Schuldgefühle sind eine normale Reaktion, die auftritt, wenn wir Glück gehabt haben und verschont geblieben sind, während andere Menschen leiden. Die extreme Ausprägung dieser Schuldgefühle wird in der Psychologie als
Gegen diese Schuldgefühle kann ein Ansatz aus der Psychotherapie helfen:
Es gibt Platz für jeden Schmerz.
Nur weil du dich zwischendurch gut fühlst, bist du also nicht automatisch empathielos. Eigentlich keine weltbewegende Idee und vollkommen logisch, aber in der Realität fallen wir allzu häufig in eine Entweder-oder-Denkweise zurück, der zufolge du dich entweder mit der Ukraine solidarisieren oder über den Frühling freuen kannst. Aber eben nicht beides. Sich aktiv daran zu erinnern, dass das nicht zutrifft, und wir durchaus zum Sowohl-als-auch-Denken fähig sind, kann dabei helfen, uns aus ewigen Gedankenspiralen zu befreien.
Sowohl-als-auch-Denken heißt aber auch, dass wir jeder Person das Recht auf ihre eigene Erfahrung zugestehen. Wir müssen unsere eigenen Gefühle und unseren Schmerz nicht unterdrücken, weil es anderen Menschen schlechter geht. Sowohl-als-auch-Denken heißt in diesem Fall, dass es Platz für jeden Schmerz gibt: Weil eine Person in der Ukraine gerade ihr Haus verloren hat, macht das deinen Alltag in der Pandemie nicht weniger schwierig. Es heißt nur, dass jemand in der Ukraine sein Haus verloren hat, was furchtbar ist, aber nichts an deiner Situation ändert.
Beides kann gleichzeitig passieren und wahr sein, ohne dass die eine Erfahrung den Schmerz der anderen Erfahrung negiert. Für die Menschen in der Ukraine ändert es nichts, dass du dich gut oder schlecht fühlst. Im Gegenteil, wenn es dir gelingt, dich trotz allem gut zu fühlen, dann hast du mehr Energie, die du auch für andere einsetzen kannst.
Wenn du psychologische Hilfe, Beratung oder Unterstützung suchst, findest du hier einige Adressen, woran du dich wenden kannst:
- Befindest du dich in einem Notfall, hast du beispielsweise Suizidgedanken? Dann zögere nicht und wähle den Notruf (112) oder wende dich an das Krisentelefon (0800-1110111 und 0800-1110222). Ein muslimisches Seelsorgetelefon ist rund um die Uhr unter 030-443509821 erreichbar.
- Das Info-Telefon Depression erreichst du unter 0800-3344533.
- Psychotherapeutische Praxen beraten und behandeln auch während der Coronapandemie. Um einen ersten Termin zu bekommen, können sich Patient:innen direkt an eine Praxis in ihrem Umkreis wenden. Außerdem hilft die bundesweite Hotline 116 117 dabei, einen freien Termin zu finden. Auch der elektronische Terminservice kann weiterhelfen.
- Die »Nummer gegen Kummer« hilft Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in psychischen Krisen.
Kinder- und Jugendtelefon: 0800-116111, Elterntelefon: 0800-1110550
Titelbild: Annie Spratt / Unsplash - CC0 1.0