Von Twitter in den Bundestag: Jetzt machen Betroffene ihre Armut sichtbar
Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen berichten Menschen in Zehntausenden Tweets von ihren Erfahrungen mit Ausgrenzung, Scham und Stigmatisierung. Wir erklären, wie es zu der Aktion kam, und geben 5 Menschen Raum, ihre Geschichte zu erzählen.
Am Anfang stand ein Hashtag beim sozialen Netzwerk Twitter: #IchBinArmutsbetroffen. Die Userin @Finkulasa hatte ihn am 12. Mai unter einen ihrer Tweets gesetzt, in dem sie von ihrem Alltag als alleinerziehende Mutter berichtete:
Später fügte sie noch den Hashtag hinzu. Hinter @Finkulasa steckt Anni, 39 Jahre. Sie hat 2 Kinder und leidet nach einer belastenden Beziehung unter Depressionen. Perspective-Daily-Mitglieder kennen ihre Geschichte vielleicht aus der Artikelreihe über Armut in Deutschland. In meinem Text nannte ich sie damals Bettina Klausen.
Vor einem guten halben Jahr wollte sie nicht einmal ihren Vornamen nennen, aus Angst vor Stigmatisierung. Jetzt wagt sie sich einen Schritt weiter in die Öffentlichkeit, postete sogar ein Foto von sich. Bevor sie #IchBinArmutsbetroffen startete, hatte sich Anni über einen Artikel geärgert, der ihrer Meinung nach Hartz-IV-Beziehende pauschal abwertet, dieses Mal kamen aber die Vorwürfe direkt von einer Hartz-IV-Empfängerin. In dem Artikel des Magazins Focus berichtet eine Mutter von 3 Kindern aus ihrem Alltag. Die Überschrift lautet:
Anni und ihre Freundinnen machte der Artikel wütend. »Ich habe mit anderen betroffenen Frauen zusammen eine Whatsapp-Gruppe und da haben wir beschlossen, wir müssten mal schreiben: So ist es nicht.« Ihr Tweet schien einen Nerv zu treffen.
Die Inflation ist für viele Armutsbetroffene dramatisch
Immer mehr Menschen twitterten ihre Erfahrungen, Zehntausende Tweets kamen innerhalb weniger Tage zusammen.
Auch die Rentnerin Beate Behrens begann unter dem Hashtag zu twittern. Ihr Tweet schaffte es sogar bis in den Bundestag, wo ihn Linken-Chefin Janine Wissler vorlas, neben vielen anderen. »Ich werde nicht mehr still dulden. Ich will, dass ihr uns seht«, schrieb Behrens in ihrer Meldung.
Etwas scheint sich zu verändern: Der Hashtag trifft nicht nur bei Armutsbetroffenen auf Anteilnahme und Solidarität. Behrens, aber auch andere berichten im Gespräch, dass sie erstmals von Menschen aus der Mittelschicht Nachrichten bekommen, die Verständnis für die Situation der Betroffenen zeigen.
Warum bewegt ein simpler Hashtag auf einmal so viele Menschen zu Solidarität und Anteilnahme? Ein Grund ist, dass Menschen wie Anni und Beate Behrens nun offen von ihren Erfahrungen berichten, anstatt aus Scham möglichst unauffällig zu leben. Armut wird plötzlich sichtbar – auch für Menschen, zu denen Armutsbetroffene oft keinen Kontakt haben.
Dahinter steht neben der Ausgrenzung durch andere auch die Selbstausgrenzung aus einer Leistungsgesellschaft, in der Armut mit eigener Schuld verbunden ist. #IchBinArmutsbetroffen durchbricht diese Ausgrenzung, macht Armut selbstbewusst sichtbar und verdeutlicht durch die vielen unterschiedlichen Geschichten: Armut kann im Prinzip jede und jeden treffen.
Wer Betroffenen zuhört, bekommt genau diesen Eindruck – hinter der Armut steht oft ein menschliches Schicksal. Auch wenn die meisten nicht ihren vollen Namen nennen möchten, scheint sich ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln, die eigene Geschichte zu erzählen. Wir geben heute 5 Menschen, die unter #IchBinArmutsbetroffen twittern, Raum, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Menge der persönlichen Details, die sie preisgeben, haben sie selbst bestimmt.
Beate Behrens, 67 Jahre
»Als Janine Wissler meinen Tweet im Bundestag vorgelesen hat, dachte ich, ich bekomme keine Luft mehr. Ich kam von der Tafel, habe meine Sachen ausgepackt und dann habe ich die Nachricht bei Twitter bekommen. Ich habe mir das Video angesehen und den Rest des Abends geheult. Es ist ganz egal, wer es vorliest, aber das hat mir gezeigt: Es sieht dich jemand! Das alles überrollt mich gerade wie eine Lawine, deswegen bin ich so aufgeregt. Da kommt jetzt endlich Verständnis, auch von Gutverdienenden.
Ich habe Multiple Sklerose. Seit 2013 kann ich gar nicht mehr arbeiten. Ich habe 32 Jahre gearbeitet, davon 22 Jahre in Vollzeit. Lange im kaufmännischen Bereich und dann, als meine Konzentrationsfähigkeit nachließ, in einer Bäckerei. Jetzt bin ich Rentnerin und lebe von 770 Euro. 2018 hatte ich einen schweren Schub. Meine Ärztin sagte mir damals, ich müsste noch am gleichen Tag ins Krankenhaus. Meine Ärztin hatte mir einen Taxischein gegeben. Das Geld dafür musste ich aber vorstrecken. Ich hatte mich nicht getraut, ihr zu sagen, dass ich keine 20 Euro habe. Das Geld habe ich mir dann von Freunden geliehen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu mir kommen mussten. Es hat 2 Tage gedauert, bis ich im Krankenhaus war. Es war lebensgefährlich.
Heute bin ich da selbstbewusster. Ich hoffe, dass wir jetzt einen so langen Atem haben, dass das dauerhaft überschwappt, auf Medien, Parteien und Organisationen. Wir halten jetzt zusammen.«
Sandra, 26 Jahre
»Ich studiere Geschichte und Politik, habe davor aber auch gearbeitet, eine Friseurinnenausbildung und den Meister gemacht. Damit gehöre ich zu den ungefähr 2% der Studierenden in Deutschland, die ohne Abitur studieren. Das ist auch meiner sozioökonomischen Herkunft geschuldet. Ich bin in Armut aufgewachsen, von klein auf. Meine Familie ist durch die Krebserkrankung meines Vaters in die Armut gerutscht.
Mit 9 Jahren wurde ich Halbwaise und meine Mutter war auf einmal alleinerziehend. Es blieben Schulden von der Krebstherapie meines Vaters, das wird ja nicht alles übernommen. Als es bei mir in der Grundschule um die Empfehlung für die weiterführende Schule ging, habe ich keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen, obwohl ich gute Noten hatte. Mein einziges schlechtes Fach war Mathe, da hatte ich eine Vier. Die Begründung war, dass meine Mutter mich als Alleinerziehende ja nicht so gut unterstützen könnte.
Für meinen Meisterbrief nach der Ausbildung musste ich Schulden aufnehmen, insgesamt 10.000 Euro Meister-BAföG. Das war sehr viel Geld für mich, vor 2 Jahren habe ich es abbezahlt. Ich habe ein Jahr lang Fachabi gemacht und dann das Studium begonnen. Zurzeit lebe ich von 850 Euro monatlich, als Corona anfing, hat kaum jemand nach studentischen Aushilfen gesucht. Studentische Armut wird gerne romantisiert und deswegen nicht ernst genommen – aber sie ist für mich auch im Studium Realität. Unser System ist so aufgebaut, dass Menschen durch Krankheit oder andere Umstände in Armut rutschen können. Warum bekämpft man Armut nicht?«
Karl, 65 Jahre
»Ich bin Dr. der Naturwissenschaften (Biologie). Nach der Promotion habe ich eine Stelle an der Uni gehabt. Die war befristet, ich wollte nicht wie viele andere Kollegen in den Pharma-Außendienst gehen. Ich habe mich dann im Bereich Werbemittel selbstständig gemacht. Da bin ich etwas naiv rangegangen und habe eine falsche Entscheidung getroffen, die mich viel Geld gekostet hat und die mir lange nachhing. Ich habe neben der Selbstständigkeit regelmäßig Nebenjobs gehabt und bin damit ganz gut zurechtgekommen.
Dann kam 2009 eine Krebserkrankung. Da bin ich 2 Wochen ausgefallen und hab gleich Kunden verloren. Als ich dann 4 Wochen in Reha war, sind weitere abgesprungen. Obendrein ging ein größerer Kunde in die Insolvenz und hat viele Aufträge und ausstehende Forderungen mitgenommen. Die haben dann gefehlt, da wurde es sehr, sehr eng. Ich habe versucht, Rücklagen fürs Alter aufzulösen, um damit den Laden noch aufrecht zu erhalten. Als die Pandemie kam, war endgültig Schluss. Da musste ich dann wirklich ins Arbeitslosengeld II.
Ab Juni bin ich in Rente, dann bleiben mir die Grundsicherung und 170 Euro von einem Nebenjob bei einem Online-Labor-Journal. Der Job ist wichtig für mich, die 170 Euro machen schon eine Menge aus. Ich hoffe, dass ich hier noch bis 70 und vielleicht noch ein paar Jahre weiter machen kann. Ich finde die Aktion bei Twitter toll. Man fühlt sich ein bisschen besser, es wirkt auf mich überwiegend solidarisch. Wenn wir jetzt nicht lauter werden, dann ändert sich gar nichts.«
Nis, 34 Jahre
»Ich habe nicht das Gefühl, dass ich selbstbestimmt handlungsfähig bin und fühle mich im System gefangen. Durch meine Krankheiten kann ich nicht geregelt arbeiten und nur wenig hinzuverdienen. Ich arbeite etwas als freiberufliche Autorin. Das geht von zu Hause aus, es sind diese üblichen 100 Euro, die man bei Hartz IV als Freibetrag hat, ohne dass etwas abgezogen wird. Mehr verdiene ich in dem Job aber auch nicht. Ich fühle mich hilflos, weil ich nicht weiß, wie es ab Mitte des Monats finanziell weitergehen soll, dieses ständige Rechnen ist belastend.
Ich habe in meiner Kindheit viele Gewalterfahrungen gemacht. Deswegen leide ich an einer Posttraumatischen Belastungsstörung und an Depressionen. Als ich etwa 20 war, kam eine Panikstörung dazu. Langfristig möchte ich wieder in eine Vollzeitbeschäftigung, schließlich habe ich mal eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Das war wegen meiner Erkrankung nicht einfach, aber es war einfacher, stressfreier, als in Armut zu leben. Ich will nicht auf Dauer in diesem System feststecken.
Bei dem Hashtag twittere ich auch mit, weil es viele Vorurteile gibt, die auf die allermeisten gar nicht zutreffen und die aber dafür sorgen, dass wir Diskriminierungserfahrungen machen. Es tut gut, Rückmeldungen zu bekommen, von Menschen, denen das alles vorher nicht so klar war und die jetzt zuhören. Zurzeit gibt es ein starkes Machtgefälle im System, wir brauchen mehr Augenhöhe.«
Markus, 45 Jahre
»Ich bin ursprünglich gelernter IT-System-Kaufmann, das mache ich aber nicht mehr, aus gesundheitlichen Gründen. Ich war selbst von 2013 bis 2016 im 100%igen Hartz-IV-Bezug. Da habe ich erfahren, wie Menschen über einen Kamm geschert werden und nicht wirklich geschaut wird, was denn das Potenzial des Einzelnen ist und wie man sich gerne entwickeln möchte. Das ist im System Hartz nicht möglich.
Momentan habe ich eine Teilzeitstelle, bei der ich 20 Stunden pro Woche arbeite. Wenn wir bisher an der Armutsgrenze entlang geschliffen sind, sind wir jetzt durch die steigenden Kosten in der Armut angekommen. Wir müssen seit Längerem erstmals wieder Lebensmittelgutscheine annehmen. Zur Tafel können wir nicht gehen, die Wartezeit liegt in unserer Gegend zurzeit bei etwa einem halben Jahr. Vermutlich wird meine Stelle im August wegbrechen. Dann sieht es richtig schlecht aus. Letzten Monat ist mir eine Waschmaschine kaputtgegangen, das hat noch mal richtig reingehauen.
Dazu kommt die Stigmatisierung im Alltag. Wenn man etwa mit Gutscheinen oder Kleingeld einkaufen muss, dann wird man schon mal blöd angeguckt. Das Problem ist häufig, dass den Leuten unterstellt wird, sie wollten sich in die soziale Hängematte legen und gar nichts mehr zur Gesellschaft beitragen. Dabei ist es genau umgekehrt. Die Menschen möchten gerne Teilhabe, die möchten gerne halbwegs in Würde durch den Tag und finanziell durch den Monat kommen. Wir müssen jetzt auch mal die Stimme erheben und zeigen, dass es politisch anders gehen muss.«
Per »#Ticketpaten« zur Großdemonstration
Aus den Berichten von Sandra, Beate, Markus und den anderen wird klar: Gesehen, wahrgenommen zu werden, ist ein erster Schritt, was sie aber alle fordern, ist ein Mitspracherecht, wenn es darum geht, das eigene Leben zu gestalten, und echte gesellschaftliche Teilhabe. Natalie Schöttler und Konstantin Seefeldt möchten die Betroffenen dabei unterstützen. Die beiden haben »EineSorgeWeniger« mitgegründet, eine Stiftung, die armutsbetroffenen Menschen per Twitter Hilfe vermittelt. Oft gehe es um Elektrogeräte, aber immer häufiger auch um Essen, wie beide erzählen.
Dabei planen die Organisator:innen auch mit dem 9-Euro-Ticket, das es vielen überhaupt erst möglich macht, deutschlandweit zu einer Demonstration zu fahren. Was für viele Menschen, die keine Armut kennen, fast unvorstellbar ist: Selbst die 9 Euro bedeuteten für Armutsbetroffene eine finanzielle Kraftanstrengung, die sie nicht stemmen könnten, erklären Natalie Schöttler und Konstantin Seefeldt. Sie haben deswegen die Aktion »#Ticketpaten« gestartet. Unter diesem Hashtag setzen Menschen, die das Ticket nicht bezahlen können, eine Nachricht bei Twitter ab. Wer Geld übrig hat, kann dann eine Person kontaktieren und ihr ein Ticket schenken.
Die Idee dahinter: Armutsbetroffene und Nichtbetroffene zusammenbringen und vernetzen. »Das ist für manche auch eine Möglichkeit zu reflektieren«, sagt Natalie Schöttler. »Man liest dann plötzlich auch die Gründe, warum sich manche ein 9-Euro-Ticket nicht leisten können und was sie damit machen würden. Dann fängt es vielleicht auch an, im Kopf zu rattern.« Es gehe darum, dass Nichtbetroffene Solidarität zeigten, sagt Konstantin Seefeldt und erinnert sich an die Zeit der Einführung von Hartz IV. Damals habe es große Proteste von Betroffenen in Berlin gegeben, sie hätten aber kaum Beachtung gefunden. Mit einer breiteren Solidarität in der Bevölkerung könne es jetzt vielleicht anders laufen, hofft er. »Mangelnde gesellschaftliche Teilhabe heißt immer auch mangelnder Kontakt zu Nichtbetroffenen. Wenn dann auch noch finanzielle Mittel fehlen, ist es sehr schwer, auf sich und seine Probleme aufmerksam zu machen.« »EineSorgeWeniger« will deshalb auch helfen, Spenden für die Organisation der Demo zu sammeln. Denn auch Transparente, Plakate, Ausdrucke kosten Geld, das die Betroffenen nicht haben.
Kleiner Hashtag, große Wirkung?
Ein kleiner Hashtag hat das alles ins Rollen gebracht und bei etlichen Nichtbetroffenen ein erstes, tieferes Bewusstsein für die tatsächlich existierende Armut in Deutschland geschaffen. »Man merkt, wie das vielen Betroffenen guttut. Für manche war das ein riesiger Schritt, zum Beispiel ein Foto von sich zu posten, und jetzt sprechen sie mit Medien über ihre Geschichte, wollen noch mutiger sein. Es ist so schön, das mitzuerleben«, sagt Natalie Schöttler.
Anni, die den Hashtag gestartet hat, denkt auch schon in Richtung Demonstration, kann sich vorstellen, zusammen mit anderen nach Berlin zu fahren. »Von mir aus schnalle ich mir auch einen Stuhl unter, damit ich mich zwischendurch setzen kann«, sagt sie mit Blick auf ihre Rückenschmerzen. Denn so wie es jetzt sei, könne es einfach nicht mehr weitergehen.
Redaktionelle Mitarbeit: Mathis Gilsbach
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily