Mit dem Zug durch Europa – was geht und wo die Bahn entgleist
Ein Eisenbahnaktivist wagt das Abenteuer und fährt nur auf Schienen rund um die Ostsee. Auf seinem Trip merkt er deutlich, woran das europäische Zugnetz krankt. Doch er hat auch Lösungen im Gepäck: Denn alle Länder könnten voneinander viel lernen.
Es ist 8 Uhr. Die Wetteranzeige auf dem Handy zeigt 2-stellige Minusgrade an. Verschlafen schaut Sebastian Wilken aus dem Fenster seines Schlafabteils auf Schnee. Eigentlich sollte die schwedische Winterlandschaft an ihm vorbeiziehen, stattdessen schaut er auf die weißbedeckten Gleise des Örtchens Bollnäs. Der Zug steht. Und weit gekommen ist er anscheinend auch noch nicht. »Wir haben einen Lokschaden«, erklärt Sebastians hellwacher Abteilgenosse, der eilig seine Sachen zusammenpackt: »Wir können auf eine Reservelok warten oder mit Ersatzbussen weiterfahren, doch viele sind schon voll oder weg.« Kurz darauf sprintet der Mann zum Busbahnhof.
Noch im Halbschlaf entscheidet sich Sebastian dafür, zu warten. Nur keinen Stress. Im Zug gibt es genug Decken, um sich warm zu halten – die Temperaturen sinken, da mit der Lok auch der Strom und die Heizung ausgefallen sind. Den Urlaub will der Physiker nach seiner anstrengenden Promotion genießen und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Gar nicht so einfach auf einer Nordeuropareise mit der Bahn.
»Momentan ähnelt das Zugsystem in Europa eher einem Flickenteppich.« – Sebastian Wilken, Zugaktivist
Sebastian Wilken ist in 6 Wochen einmal um die Ostsee gefahren.
Beides brauchen wir, wenn Zugfahren eine wirkliche, umweltfreundlichere Konkurrenz zum Fliegen werden soll.
Auf seiner Reise hat er erlebt, wo es am europäischen Zugverkehr hapert, was es für ein funktionierendes Zugnetz in Europa braucht – und wie man am
Rund um die Ostsee: Wie man die richtige Verbindung findet und bucht
Wer Sebastians erste Tagesetappe in die Onlinebuchungsmaske der Deutschen Bahn eingibt (von Oldenburg bis nach Göteborg in Schweden), bekommt sofort eine Verbindung angezeigt: 12 Stunden, 3 Umstiege, ab 60 Euro. Das geht ja noch.
Keine Preisauskunft ist allerdings für Sebastians nächstes Etappenziel möglich: Örebro, das schon etwas weiter in Schweden liegt. Eine Verbindung wird dennoch vorgeschlagen.
»Für Leute, die sich nicht auskennen, kann das eine ganz schöne Hürde sein«, sagt Sebastian. Eine europäische Zugreise mit einem Klick selbst zu buchen, ist kaum möglich. Dafür gibt es (noch) keine Plattform. Jeder Bahnanbieter hat seine eigene, und selbst die beste Option, länderunabhängige Reiseplattformen wie Omio oder Trainline, zeigen nicht alle Verbindungen an,
Sebastian selbst ist mit einem Interrail-Ticket gefahren. Dies ermöglicht Reisenden eine bestimmte Anzahl an Tagen im Monat oder auch den ganzen Monat – je nach Ticket –,
Das Buch hat Karten mit den Bahnverbindungen für jedes Land. Das gibt mir Inspiration, denn dann sehe ich erst einmal, wo ich überall hinkann. Es gibt mir ein Gefühl dafür, was überhaupt möglich ist.
Auf zum Polarkreis! Wie Schweden Umsteigen entspannter macht
Sebastian lässt sich in den Ohrensessel sinken. Nachdem er es trotz Verspätung der Deutschen Bahn am ersten Reisetag und 5 Umstiegen durch Dänemark nach Göteborg geschafft hat, entspannt er sich nun im Ohrensessel der schwedischen Regionalbahn und streckt die Beine aus. So viel Beinfreiheit ist er in der zweiten Klasse nicht gewohnt. Abgerundet wird sein positiver Eindruck von den freundlichen Mitarbeiter:innen und dem frisch gebrühten Kaffee von einem mobilen Bordverkauf. Er ist auf dem Weg in Richtung Polarkreis nach Norwegen. Bis er dort ankommt, muss er noch 8-mal umsteigen, mit einigen Zwischenstopps und Übernachtungen wohlgemerkt. Die Landschaft wird immer verschneiter.
»Die vielen Umstiege machten mir nichts aus«, erinnert sich Sebastian. Die Züge in Schweden, Norwegen und Finnland seien in der Regel überaus pünktlich, daher funktioniert es meistens reibungslos. Die vielen Wechsel kommen daher, dass es nicht allzu viele Zugverbindungen in Skandinavien gibt. Norwegen, Finnland und Schweden sind sehr weitläufige Länder,
So erklärt sich der Hobbyfotograf auch, weshalb Göteborg, eine Stadt, die etwas größer ist als Nürnberg, nur wenige Male am Tag per Bus und Bahn erreichbar ist. Trotzdem scheint das in Schweden – so wie Sebastian – nur wenige Menschen zu stören.
»Ihre Lösung heißt Kundenservice«, erklärt Sebastian. Die vielen Umstiege und das Warten würden durch den Komfort in den Bahnen und den Bahnhöfen wieder wettgemacht. Selten hat Sebastian so geräumige und bequeme Sitzräume erlebt, die auf die Bedürfnisse der Reisenden zugeschnitten sind, wie in Nordeuropa.
Hier sind die Züge nicht auf Effizienz getrimmt, wie in Deutschland. Fast jeder Regionalzug hat ein Bordbistro und jeder Fernzug ein Bordrestaurant. Es gibt ruhige Ecken, Plätze, wo man arbeiten oder sich unterhalten kann. Manche Züge haben sogar ein richtiges Familienabteil mit Rutsche und Spielmöglichkeiten für Kinder, wie es sie auch in der Schweiz gibt. Anstatt Menschen unendlich dicht in den Zug zu packen, gibt man Menschen Raum für ihre Bedürfnisse – Raum, in dem sie sich wohlfühlen können.
Am Polarkreis ist er dann auch noch angekommen und hat sogar Polarlichter gesehen.
Hinüber nach Finnland: Wie Grenzübergänge eine Herausforderung bleiben
Nach einem Abstecher zu den
Doch aufgepasst: An jeder Seite der Haltstelle hängen 2 Uhren mit unterschiedlichen Uhrzeiten. Finnland ist Schweden nämlich eine Stunde voraus. Die finnischen Busse fahren nach der Zeit ihres Landes, obwohl der Busbahnhof offiziell auf schwedischem Gebiet liegt. Sebastian checkt 3-mal die Pläne, damit er die verschiedenen Zeiten auch richtig im Kopf hat. Nach etwas Wartezeit bringt ihn ein finnischer Bus zum nächsten Bahnhof, von wo er in die Stadt Rovaniemi reist, die offizielle
»Der Grenzübergang war kompliziert, weil es 2017 zwischen Schweden und Finnland noch keine grenzüberschreitende Zugverbindung gab, doch das ändert sich langsam«, so Sebastian. Inzwischen fährt der Zug an die Grenze zum Bahnhof von Haparanda, und an einem Gleis nach Tornio wird gearbeitet.
Der Hintergrund: Finnland hat eine andere Spurweite, also einen anderen Schienenabstand, und ein
Damit ist Finnland keine Ausnahme.
Darum gibt es so wenige Züge, die durch mehrere Länder in Europa fahren, und Reisende müssen an Grenzübergängen oft umsteigen. Loks und Personal müssen ausgetauscht werden.
Eine Lösung wäre ein einheitliches europäisches Eisenbahn-Verkehrsleitsystem (kurz ERTMS). Daran arbeitet die Europäische Kommission bereits seit Ende der 80er-Jahre.
Nun hat sich die EU zum Ziel gesetzt, bis 2030 zumindest 9 Kernnetzkorridore damit auszustatten. Diese Fernstrecken verbinden Europa von Großbritannien bis nach Frankreich, Deutschland bis nach Portugal und Griechenland sowie Italien bis nach Skandinavien. Bis 2050 sollen auch andere Strecken folgen,
An den bestehenden unterschiedlichen Schienenabständen lässt sich nicht viel machen. Es gibt bereits Züge, die technisch so ausgestattet sind, dass sie für Grenzverkehre auf verschiedenen Schienenbreiten und mit unterschiedlichen Stromspannungen fahren. Sie sind jedoch teuer und selten. Umsteigen an Grenzen wird also auch in Zukunft normal bleiben. Schade eigentlich, denn so wirkt Europa ein Stück weit weniger verbunden.
Nachtzugerlebnisse in Skandinavien: Wie die Bahn mit dem Flugzeug konkurrieren könnte – wenn sie wollte
Kommen wir zurück zum Lokschaden im eisigen Nirgendwo. Das Abteil ist leer, die Ersatzbusse sicher schon fort. Doch anders als sein weghastender Mitreisender hat Sebastian keinen Zeitdruck – er muss erst am Abend im Hostel in Östersund einchecken. Also holt er sich gemütlich Kaffee und Frühstück an einem kleinen Kiosk am Bahnhof. Danach kuschelt er sich für eine weitere Stunde unter die Decke. Inzwischen ist er fast allein im Zug, denn durch den Lokschaden sind ja der Strom und somit auch die Heizung ausgefallen. Die Ersatzlok soll in 2 Stunden kommen.
An dem besagten Reisetag hatte der Nachtzug am Ende 8 Stunden Verspätung – etwas, was er nicht einmal als Stammkunde der Deutschen Bahn kenne, scherzt er. »Doch es war eine absolut beeindruckende Fahrt, die ich sonst nie erlebt hätte. Und in dem Moment, in dem ich aussteige, bekomme ich eine SMS der schwedischen Bahn, die mir mein gesamtes Geld zurückerstattet. Ohne dass ich danach gefragt habe«, erinnert sich der Reisende.
Grundsätzlich waren die Nachtzüge seiner Reise bequem und gut ausgestattet, schwärmt Sebastian: vom Flaschenwärmer auf der Toilette bis hin zu magnetischen Milchkännchen im Bordrestaurant. Es sind viele kleine Details, die Gästen das Leben leichter machen.
Der Zugaktivist will die Option, nachts zu reisen, nicht mehr missen. Leider wurde das europäische Nachzugnetz in den 90er-Jahren von den Billigflügen verdrängt. Heute sind nur noch
Ich glaube, das ist noch das Nachwirken auf das Effizienztrimmen. Die Deutsche Bahn sollte 2006 an die Börse. Man hat alles weggestrichen, was nicht absolut notwendig war, um den Gewinn zu maximieren. Es wurden keine Ausweichstrecken mehr gebaut und bestehende Infrastruktur wurde zurückgebaut, sodass die Bahn heute nicht mehr flexibel reagieren kann und nur noch gerade so funktioniert.
Das erklärt auch, wieso es ständig wegen jeder kleinsten Störung zu Verspätungen und Ausfällen kommt. Doch Sebastian hat eine Idee, wie die kostspieligen Nachtzüge wieder zurückkehren könnten: ein europäischer Schlafwagenpool.
Für einzelne Länder lohnt es sich fast nicht, Nachtzüge Jahre im Voraus in Auftrag zu geben, vor allem wenn sie nur saisonal in den Urlaubsmonaten eingesetzt werden. Hier könnte eine Nachtzugflotte der EU aushelfen, deren Züge von den einzelnen Anbietern je nach Bedarf geliehen oder geleast werden können.
Daran glaubt auch die Initiative
Mit dem Bus durch das Baltikum: Was passiert, wenn die Schienen aufhören …
Es gibt sogar europäische Länder, die sich bisher dem Bahnverkehr verschlossen haben.
»Man muss schon ein extremer Nerd sein, um in den 3 baltischen Ländern Zug zu fahren«, scherzt Sebastian. »Es gibt fast nur schlechte Verbindungen.« Dafür können alle, die sich auf den Zug einlassen, hier und da noch eine urige und charmant klappernde Diesellok aus Zeiten der Sowjetunion erwischen. Gewagt hat es Sebastian dennoch und erinnert sich heute gern daran.
Langsam rollt der Bus in Kaunas ein, der zweitgrößten Stadt Litauens. Beeindruckt schaut Sebastian auf den riesigen Busbahnhof. »Was für eine Kathedrale des Omnibusverkehrs!«, schreibt er später
Grund für die Busbeharrlichkeit des Baltikums liegt in seiner Geschichte: Während der fast 50-jährigen Besetzung durch die Sowjetunion wurde die Schiene fast nur dafür genutzt, Güter zwischen Russland und den baltischen Häfen auszutauschen. Die Bedürfnisse der Menschen, die oft in der Nähe ihrer Arbeitsstätte wohnten, wurden durch Busse und Straßenbahnen versorgt. Dadurch haben die Länder auch heute noch eine
Doch es wird bereits seit Jahren an einer besseren Zuganbindung der baltischen Staaten nach Europa gearbeitet: der Rail Baltica. Das EU-Projekt wird zu 85% von der EU finanziert und wird dann Polen, die baltischen Staaten und – durch einen Tunnel – eventuell sogar Finnland miteinander verbinden. Eigentlich soll es 2026 fertiggestellt werden, doch das wird nichts.
Sebastians Reise macht klar: Wir brauchen einen europäischen Zugverkehr. Jedes Land hat dabei seine eigenen natürlichen Gegebenheiten und geschichtlichen Herausforderungen, wie bestehende Infrastruktur, Naturschutzgebiete und Gebirge. Damit muss gearbeitet werden. Das muss jedoch nicht schlecht, sondern kann sogar gut sein. Denn nur durch ihre Unterschiede können die Länder voneinander lernen. Dafür müssen sie jedoch endlich zusammen und nicht gegeneinander europäisch denken.
Mit Illustrationen von Aelfleda Clackson für Perspective Daily