An einem brennend heißen Augusttag habe ich am spanischen Strand Amanda kennengelernt: witzig, selbstsicher und so schön, dass ich nicht wusste, ob mein Hals wegen der Hitze oder ihretwegen so trocken war. Wir lächelten uns an und unsere Unterhaltung lief so gut, dass wir uns für den Abend verabredeten.
Doch schon beim Bestellen der Getränke hätte ich merken müssen, dass an diesem Abend der Wurm drin war:
Ich:
¡Una cerveza, por favor!
Barmann:
¿Una jarra, chico?
¡No, solamente una cerveza, por favor!
Barmann:
Während ich ab dem Moment krampfhaft versuchte, mich auf mein Spanisch zu konzentrieren, verpasste ich Amandas nächste Frage – und auch die Tatsache, dass ihr Lächeln am Abend häufig nicht mir oder meinen italienischen Augen galt, sondern signalisierte: »Ich warte auf eine Antwort!«
Das begriff ich allerdings erst später am Abend, als ich allein am Strand zurückwanderte und mich fragte: Wäre der Abend ohne Sprachbarriere anders verlaufen?
Konnte ich meine Gefühle in einer anderen Sprache einfach nicht »richtig« ausdrücken? Oder war ich »auf Spanisch« gar ein anderer Mensch als »auf Italienisch«?
Um Antworten zu finden, habe ich mit Jean-Marc Dewaele gesprochen. Der renommierte Sprachwissenschaftler und Autor hat seine Tochter 3-sprachig aufwachsen lassen. Außerdem zeigen seine Forschungsergebnisse, wie unsere Persönlichkeit beeinflusst und welches Potenzial sie hat. Dabei geht es um nichts Geringeres als um eine bessere Gesellschaft.
Zu Beginn war da der Flirt …
Wie würden Sie meinen missglückten Urlaubsflirt erklären: Bringen wir Emotionen tatsächlich anders zum Ausdruck, wenn wir eine Fremdsprache sprechen?
Jean-Marc Dewaele:
Ja, das ist ganz offensichtlich! Ich denke, es ist Teil der exotischen Anziehung, sich in eine Person zu verlieben, die eine andere Sprache spricht. Alles ist anders und aufregend. Am Anfang ist die Kommunikation dann relativ oberflächlich, weil wir die Feinheiten emotionaler Ausdrücke in der Fremdsprache nicht kennen. In Studien mit Menschen, , beschreiben die Teilnehmer das so: »Sex war die zu reden lernten wir später.«
Aber vor dem Sex müssen ein paar Worte gewechselt werden. Was, wenn wir Angst haben, in der fremden Sprache zu sprechen?
Jean-Marc Dewaele:(lacht) Dann brauchen wir einen weiteren Drink, um die verbalen Kommunikationsprobleme zu überwinden!
Meine Forschung zu dem Thema zeigt, dass die meisten interkulturellen Paare in den ersten Monaten ihrer Beziehung emotionale Kommunikationsprobleme haben, .
Was diese Paare gelernt haben, ist, dass der Partner eben Dinge tut, die ihnen selbst komisch erscheinen.
So erklärte mir in einer Studie eine japanische Teilnehmerin, dass ihr Freund aus dem »Westen« nicht verstehen könne, dass sie schweigt, wenn sie wütend ist. Er konnte zunächst einfach nicht nachvollziehen, dass Schweigen ein Zeichen von Wut sein kann. Fakt ist: In einigen Kulturen drücken die Menschen Wut nicht explizit aus, sondern kommunizieren sie über bestimmte non-verbale Verhaltensweisen.
»Wir können kulturelle Werte nicht so schnell wechseln wie die Sprache, die wir gerade sprechen.«
… und wie können wir kommunizieren, wenn der Partner schweigt?
Jean-Marc Dewaele:
Es geht nicht nur um Sprachen, sondern auch um Kulturen. In manchen Kulturen ist es in Ordnung, viel über die eigenen Gefühle zu sprechen – in anderen nicht. In letzteren wird von einem erwartet, den emotionalen Zustand des Gegenübers lesen zu können. So gilt es im Japanischen als unangemessen oder gar kindisch, über Gefühle zu sprechen.
Angenommen, wir verlieben uns in jemanden, der seine Liebe auf eine andere Art und Weise ausdrückt, als wir es gewohnt sind. Dann fragen wir uns vielleicht: »Liebt sie mich wirklich?!«
Und die Antwort lautet?
Jean-Marc Dewaele:
Ja, natürlich! – Aber sie drückt ihre . Wir können kulturelle Werte nicht so schnell wechseln wie die Sprache, die wir gerade sprechen.
Können wir das irgendwie beschleunigen, um wirklich »wir selbst zu sein«, wenn wir in einer Fremdsprache kommunizieren?
Jean-Marc Dewaele:
Dafür müssen wir uns authentischer Kommunikation aussetzen. In der Schule können wir zwar ein paar gute Ratschläge von unseren Lehrern bekommen, sie können uns aber nicht das Drehbuch für Liebe oder andere tiefe Emotionen wie extreme Wut liefern. Es ist etwas, was wir am eigenen Leib erfahren müssen.
Das können wir, indem wir beobachten, wie Menschen miteinander umgehen, auf sprachliche Muster hören, die für bestimmte Wörter im Blick haben und die Satzmelodie verfolgen. Drücken sie etwa Komplimente mit einem Die Sammlung solcher Kleinigkeiten macht die Botschaft vollständig.
… und dann kamen die Kinder!
Angenommen, ich hätte damals bei Amanda Erfolg gehabt: Unsere Beziehung hätte die ersten 9 Monate überlebt und das erste Kind, Maria, wäre unterwegs – wie sollten wir sie als mehrsprachiges Paar erziehen?
Jean-Marc Dewaele:
Meiner Meinung nach stellt jedes Paar mit Kindern fest, dass es nicht zwangsläufig die gleiche Vorstellung von der richtigen hat – ganz unabhängig davon, ob beide die gleiche Sprache sprechen.
Bedarf es Strenge oder doch lieber
Als Eltern kommt man um eine gewisse Spontaneität sowieso nicht herum. Trotzdem ist es wahrscheinlich schwieriger, wenn Partner verschiedene Kulturen oder Religionen mitbringen. Darum sind dann vorherige Absprachen besonders wichtig. Kinder erkennen sofort, wenn sich die Eltern uneinig sind. Sie lernen aber auch schnell, dass nicht nur verschiedene Sprachen sprechen, sondern auch ihre Gefühle auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken.
Wir 3 – Amanda, ich und unsere Tochter Maria – ziehen also nach Berlin und Maria geht dort auf eine deutsche Schule: Welche Sprache sollten wir dann zu Hause sprechen?
Jean-Marc Dewaele:
Ich ermutige und empfehle allen Eltern, zu Hause eine sogenannte zu sprechen.
Auch wenn das Kind nicht darin antwortet, heißt es: nicht aufgeben!
Dein fiktives Beispiel entspricht tatsächlich der idealen Situation: Wenn es zu Hause 2 Minderheitensprachen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Mehrheitssprache aus der Umgebung (oder Schule) draußen bleibt und das Kind 3-sprachig aufwächst.
Genauso war es bei meiner Tochter Livia. Ich spreche mit ihr Französisch, meine Frau Niederländisch, sie ist in London aufgewachsen und hat ihre 2 Minderheitensprachen am Leben erhalten. Auch in der Schule profitierte sie davon: Mit Französisch war sie bereits einer Sprache mächtig, die andere noch lernen mussten.
Sind Mehrsprachler die »besseren Menschen« …?
Beeinflussen denn die jeweiligen Sprachen, wie unsere Kinder und generell Mehrsprachler zwischen Sprachen wechseln?
Jean-Marc Dewaele:
Alle Sprachen sind erst mal gleichwertig. Der Unterschied besteht in der Wahrnehmung der Menschen, die die Sprache nutzen.
Wir können Sprachen auch später im Leben lernen. So wie ich mit 14 angefangen habe, Englisch zu lernen und es jetzt die dominante Sprache für meine wissenschaftliche Arbeit ist, während Französisch und Niederländisch für mich die wichtigsten Sprachen im familiären Austausch bleiben.
Es gibt also verschiedene »Sprachdomänen«. Gibt es da noch andere Beispiele?
Jean-Marc Dewaele:
Ein Beispiel für eine solche ist der Umgang mit Zahlen und Kopfrechnen: Ich würde wetten, dass du gedanklich noch auf Italienisch rechnest, auch wenn du eine deutsche E-Mail-Adresse hast. Stimmt’s?
»Wir behalten eine Vorliebe für unsere erste Sprache – besonders wenn es um emotionale Themen geht.«
Ertappt! Wenn ich versuche, in meinen Fremdsprachen Deutsch, Englisch, Französisch oder Spanisch schnell zu zählen, wird es wirklich schwierig.
Jean-Marc Dewaele:
Genau das habe ich auch wissenschaftlich untersucht und konnte zeigen, dass mehrsprachige Menschen typischerweise in der Sprache Kopfrechnen, in der sie ihren Mathematikunterricht hatten.
Erst nach einer Weile sind Mehrsprachler (wenn überhaupt) in der Lage, in der Sprache ihres neuen Wohnortes zu rechnen – zumindest wenn es um kleine Summen geht.
Das zeigt auch, dass wir sprachlich flexibel sind: Unsere Sprachpräferenz kann sich in bestimmten Bereichen mit der Zeit verschieben. Aber wir behalten eine Vorliebe für unsere erste Sprache – besonders wenn es um emotionale Themen geht.
Bei mir ist das vor allem beim inneren Monolog der Fall. Ist der einfach zu »faul« für eine Fremdsprache?
Jean-Marc Dewaele:
Die Sprache unserer inneren Monologe ändert sich nicht so schnell. Wenn wir uns vor dem inneren Auge an Gehörtes und Gesagtes erinnern, ist das wie ein Echo unserer sozialen Interaktionen. Dazu in der Lage zu sein, lernen wir sehr schnell, aber es dauert, bevor das in einer anderen Sprache vonstattengeht.
Und welche Rolle hat Mehrsprachigkeit dabei? Ich frage mich oft (auf Italienisch), wie sich die vielen Sprachen in meinem Kopf auf mein Verhalten auswirken.
Jean-Marc Dewaele:
Tatsächlich zeigen meine Forschungsergebnisse, dass Menschen, die mehrsprachig aufwachsen, in einer Reihe von Persönlichkeitstests systematisch anders abschneiden als solche, die nur mit einer Sprache aufwachsen.
Zum Beispiel?
Jean-Marc Dewaele:
Mehrsprachler sind durchschnittlich lockerer, aufgeschlossener, haben eine höhere kulturelle Empathie und sind sich bewusster, dass nicht alle Werte, die sie in einer Sprache oder Kultur haben, von allen Menschen dieser Welt geteilt werden. Umgekehrt ist es für Einsprachler, die nur eine Kultur kennen, schwieriger, sich vorzustellen, dass manche Menschen anders denken als sie.
Gibt es denn auch einen Unterschied zwischen den Sprachen, der dafür sorgt, dass es ein »italienisches Ich«, ein »französisches Ich« und ein »deutsches Ich« gibt?
Jean-Marc Dewaele:
Wenn du oft zwischen Sprachen springst, wechselst du auch bestimmte Verhaltensweisen, so wie ihr Italiener beispielsweise dafür bekannt seid, . (lacht)
Wenn du also von Deutsch auf Italienisch wechselst, wirst du vielleicht feststellen, dass deine Hände plötzlich hochgehen. Weil du aber gelernt hast, dass Deutsche ihre Hände beim Reden eher ruhig halten, bremst du die Bewegungen und kontrollierst sie stärker, wenn du zurück ins Deutsche wechselst.
Ändert sich in dem Moment dann auch die Persönlichkeit?
Jean-Marc Dewaele:
Ich denke, eher nicht. Vielleicht nimmst du wahr, dass du dich ein wenig anders verhältst, aber ich würde sagen, es ist das gleiche »Du«, das da spricht.
»Es ist einfach absurd zu behaupten, wir müssten an irgendeiner reinen, idealen Sprache und Kultur festhalten.«
Sie erwähnen zahlreiche positive Folgen von Mehrsprachigkeit – gibt es auch negative?
Jean-Marc Dewaele:
Einige Leute argumentieren, dass wir an unserem nationalen Horizont festhalten sollten und den nicht mit Fremdsprachen und .
Für mich klingt das wie ein Witz, weil keine Kultur und keine Sprache »rein« ist. Alle Sprachen haben sich schon immer gegenseitig beeinflusst. Seit es Menschen gibt, gab es Migration. Es ist einfach absurd zu behaupten, wir müssten an irgendeiner reinen, idealen Sprache und Kultur festhalten.
Ich gehe davon aus, jeder mehrsprachige und multikulturelle Mensch würde dem zustimmen. Fremde Wörter, Werte und Kulturen sind keine Bedrohung für die nationale Identität. Im Gegenteil: Sie sind eine Bereicherung der nationalen Identität.
… und schafft die EU eine »bessere Gesellschaft«?
Wäre unsere Gesellschaft also besser, wenn möglichst viele Menschen mehrere Sprachen sprächen?
Jean-Marc Dewaele:
Ja, auf jeden Fall! Genau das ist eins der Ziele der Europäischen Union. Die EU empfiehlt nachdrücklich, dass die Schüler, Auszubildenden und Studenten in den verschiedenen Mitgliedstaaten neben ihrer Landessprache am besten auch 2 Fremdsprachen lernen sollten – also nicht nur Englisch.
Wenn jeder mehr Sprachen lernen würde, wären unsere Gesellschaften wahrscheinlich toleranter gegenüber ihren Nachbarn und würden sich weniger Sorgen um die potenzielle Bedrohung durch andere Sprachen und Kulturen machen.
Die EU hilft uns also über Mehrsprachigkeit dabei, eine bessere Gesellschaft zu schaffen?
Jean-Marc Dewaele:
Ja. Und sie lehrt uns außerdem rezeptive Mehrsprachigkeit. Das bedeutet, dass wir nicht zwangsläufig die Sprache des Gegenübers sprechen müssen, es aber ausreicht, wenn wir sie verstehen. Wenn das Gleiche für das Gegenüber gilt, .
Dieses sogenannte kann überall stattfinden – vom Sprachunterricht in der Schule bis hin zu politischen Diskussionen im Europäischen Parlament. Wenn jeder versucht, die Sprache des anderen zu verstehen, kann das eine positive Gruppendynamik schaffen.
Haben wir dann nicht das Problem, dass keiner mehr eine Sprache »richtig« sprechen kann?
Jean-Marc Dewaele:
Nein, im Gegenteil – hier zeigen die Forschungsergebnisse, dass Kinder, die ihre zu Hause gesprochene Sprache beherrschen, in der Regel besser in der Landessprache oder der entsprechenden Schulsprache abschneiden.
Es ist auch falsch, anzunehmen, dass wir Einwanderer für eine bessere Integration zwingen müssen, die Sprache ihres Gastlandes in den eigenen 4 Wänden zu sprechen.
Stattdessen ist es viel besser, die Kinder zu ermutigen, ihre Muttersprache zu benutzen, um darin gut lesen und schreiben zu können. Dann sind sie in der Lage, daraus in der Schule Vorteile zu ziehen, weil die .
Kann das ihre Tochter Livia bestätigen?
Jean-Marc Dewaele:(ruft auf Französisch seiner Tochter zu) »Möchtest du etwas über die Vorteile von Mehrsprachigkeit sagen?«
… nein, sie kann gerade nicht – aber ich schicke eine Liste zu!
Lade Komponente...
Das Interview erschien ursprünglich am 28. August 2018. Für den Start der Urlaubssaison haben wir es für euch aus dem Archiv geholt – damit die Sprache beim nächsten Sommerflirt nicht mehr als Barriere wahrgenommen wird.
Daniel Peyronel ist mit 3 Sprachen in Italien aufgewachsen. Nach seinem Studium der Humangeographie in Frankfurt und einem Redaktionspraktikum bei Perspective Daily hat er Wissenschaftsjournalismus in Paris studiert, wo er seit 2018 lebt und heute als freier Journalist tätig ist.