Wie der Markt Krankenkassen gelehrt hat, Gesunde zu bevorzugen
Zu Beginn der 90er-Jahre hielt der Neoliberalismus Einzug in unser Gesundheitswesen: Eine tiefgreifende Reform machte aus Krankenkassen profitorientierte Unternehmen. Jetzt will die Politik das selbst geschaffene System zähmen.
Ob am Bushäuschen, auf Werbebannern bei Sportevents oder online – wahrscheinlich bist auch du schon in deinem Alltag auf Werbung einer Krankenkasse gestoßen. Häufig sind auf Plakaten und Bannern vor allem solche Motive zu sehen:
Na, fühlst du dich angesprochen? Dann ist es wahrscheinlich, dass du genau zu der Zielgruppe gehörst, die Krankenkassen lieben. Du bist vorzugsweise:
- Jung.
- Sportlich.
- Gut ausgebildet.
- Einkommensstark.
- Wohnst in einer wirtschaftlich starken Region.
- Hast keine oder wenige Vorerkrankungen.
Du erfüllst viele dieser Punkte? Herzlichen Glückwunsch: Du bist das, was Krankenkassen ein »gutes Risiko« nennen. Das heißt, du kostest sie nicht viel – und wirst es wahrscheinlich auch zukünftig nicht. Denn je jünger und besser ausgebildet du bist, desto wahrscheinlicher ist es, dass du gesund und ausgewogen lebst. Natürlich rein statistisch gesehen. Doch du bist nicht nur auf der Ausgabenseite günstig für die Kassen, sondern auch auf der Einnahmenseite. Schließlich zahlst du mehr Beiträge, je mehr du verdienst.
Neben diesen beliebten Kassenpatient:innen gibt es noch eine andere Gruppe, zu der du gehören könntest. Hast du bisher eher Ärger mit den Kassen gehabt? Wurden Leistungen nicht übernommen, die dir eigentlich zustehen? Oder wurde dir gar schon einmal dezent nahegelegt, dass du vielleicht
Unsolidarisch und ungerecht? Ja. Schließlich sollen die Krankenkassen dem Namen nach für die Kranken da sein, nicht für die Gesunden. Wie kann es sein, dass das in der Realität oft anders aussieht, und wie lässt sich das ändern? Hierum soll es in Teil 2 der Artikelserie zum Gesundheitssystem gehen. Du erfährst, wie gesetzliche Krankenkassen funktionieren,
Gesundheitspolitik in den 90er-Jahren: Aus der Sackgasse zum Wendepunkt
Zu Beginn der 90er-Jahre macht sich unter den Politiker:innen in Deutschland Resignation breit: Ende der 80er-Jahre hatte CDU-Kanzler Helmut Kohl noch vollmundig eine »Generalüberholung der sozialen Krankenversicherungen« versprochen, die die rasant steigenden Gesundheitskosten dämpfen sollte.
Doch statt diejenigen zu belasten, die von dem System profitierten, nämlich Apotheker:innen, Ärzt:innen und die Pharmaindustrie, wurden die Gesundheitskosten umverteilt – und zwar von den Krankenkassen auf deren Versicherte. Diese mussten künftig wesentlich mehr aus eigener Tasche bezahlen, vor allem für Medikamente, Brillen, Hörgeräte und Zahnersatz. Sprich: Leistungen, die kein Luxus, sondern notwendig sind.
Einen gewichtigen Anteil daran hatte neben den einflussreichen Berufs- und Lobbyverbänden der oben genannten Profiteuer:innen des Systems auch die FDP. Die im Volksmund damals häufig als »Ärzte- und Apothekerpartei«
Die Blockadehaltung erzürnte die Union derart, dass der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) offen drohte: Entweder klappe »die gewaltige Aufgabe, die vor mir liegt«, oder »im Superwahljahr 1994 fressen die Rekordkosten [für das Gesundheitssystem] Arbeitnehmern und
Du hast den ersten Artikel der Serie über den Mythos der Kostenexplosion im Gesundheitswesen verpasst? Dann kannst du ihn hier nachlesen und erfahren, warum die Politik der Kostendämpfung scheiterte:
Besonders Arbeiter:innen litten unter den hohen Abgaben an die gesetzlichen Krankenkassen. Sie wurden je nach ihrer Tätigkeit verpflichtend bestimmten Kassen zugewiesen. Meist mussten Arbeiter:innen in die Pflichtkasse ihres Betriebs oder ihrer jeweiligen Berufsgruppe gehen, während Angestellte je nach Job eine von 7 Ersatzkassen wählen konnten. Die Beitragssätze zu den unterschiedlichen Kassen unterschieden sich zudem erheblich; die Spannbreite betrug zwischen 8% und 16,8% des Einkommens – bei gleichen Leistungen. Arbeiter:innen waren dabei oft von höheren Sätzen betroffen, obwohl sie im Schnitt weniger verdienten.
Diese Ungerechtigkeit führte Ende der 80er-Jahre zu einer Klage seitens einiger Pflichtversicherter vor dem Bundesverfassungsgericht. Da die Erfolgsaussichten groß waren, war die Politik gezwungen, das System der Krankenkassen grundlegend zu reformieren.
Die politische Pattsituation rund um das Gesundheitswesen sowie der Druck der Bevölkerung förderte schließlich eine zu diesem Zeitpunkt ungewöhnliche Allianz zutage. 1992 griff Kohl persönlich zum Hörer und wandte sich an den damaligen Oppositionsführer der SPD, Björn Engholm, um Gesprächsbereitschaft über die unterschiedlichen Vorstellungen einer Gesundheitsreform zu signalisieren. Der erste Schritt zu einem parteiübergreifenden Kompromiss zwischen den Regierungsparteien und der SPD, die sich innerhalb weniger Monate einig wurden. Am Ende stand die erste grundlegende Organisationsreform der gesetzlichen Krankenversicherung seit über 100 Jahren:
Doch wie sollte das genau aussehen?
Aus Patient:innen werden Kund:innen
Das wohl wichtigste Instrument der Reform war, dass sich Versicherte fortan ihre Krankenkasse selbst aussuchen durften. Auf diese Weise wurden diese von rein bürokratischen Behörden zu Unternehmen, die fortan auf dem »Gesundheitsmarkt« in Konkurrenz zueinander stehen sollten.
Die Reform fußte auf der Annahme, dass Leistungserbringer wie Ärzt:innen oder Krankenhäuser und die Krankenkassen aus eigenem Antrieb nicht hinreichend an einer hochwertigen und vor allem effizienten Versorgung ihrer Patient:innen interessiert sind. Stattdessen würden sie ihre Arbeit in erster Linie an ihren finanziellen Eigeninteressen ausrichten und sich wie egoistisch-nutzenmaximierende Individuen verhalten.
Um das Gesundheitssystem steuern zu können, wollte der Staat die Akteure wie Marktteilnehmende und Unternehmen behandeln und auf finanzielle Anreize setzen, um sie zu mehr Effizienz zu zwingen. Verhalten sie sich nicht gemäß den Anreizen, droht die Pleite. Der Markt würde regeln, was der Staat nicht konnte, so die Hoffnung. Diese Sichtweise ist klar in der neoliberalen Denkschule verankert, die den Zeitgeist beherrscht(e) und Wettbewerb und Markt zum Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Teilbereiche stilisiert.
Das Versprechen: Am Ende gewinnen alle. Ineffizienzen und verkrustete Strukturen werden beseitigt, die Verwaltungen werden verschlankt und effizienter gemacht und am Ende freuen sich sogar die Patient:innen. Schließlich müssen die Leistungserbringenden, seien es Ärzt:innen oder Krankenkassen, künftig um ihre »Kund:innen« konkurrieren und mit der besten Leistung überzeugen.
Für die Krankenkassen bedeutet das eine existenzielle Bedrohung. Hatten sie bisher durch die feste Zuweisung von Versicherten eine Bestandsgarantie, müssen sie nun dafür sorgen, dass ihr Beitragssatz im Vergleich zu ihren Konkurrenten möglichst niedrig ist, da ihnen ihre Kund:innen sonst weglaufen. Um dies zu erreichen, müssen sie also möglichst effizient wirtschaften und attraktive Leistungen bieten – so zumindest die Erwartung an den sogenannten Qualitätswettbewerb.
»Dass finanzielle Anreize dazu anregen können, die Effizienz der Krankenversorgung zu erhöhen, ist zunächst eine durchaus plausible Annahme«, schreibt der Gesundheitsexperte Thomas Gerlinger in seiner wissenschaftlichen Bestandsaufnahme »Gesundheitsversorgung zwischen Solidarität und Wettbewerb«
Wettbewerb zwischen den Krankenkassen – aber anders als geplant
Wenn sich aus der Geschichte der politischen Reformen des Gesundheitswesens aus den letzten 30 Jahren etwas lernen lässt, dann vor allem das: Ein finanzieller Anreiz kann sich im Nachhinein schnell als ein Fehlanreiz herausstellen. Die einleitend umrissenen Konzepte »guter« und »schlechter« Risiken (sprich: Menschen) sind ein Paradebeispiel dafür. Erhofft hatten sich die politischen Entscheider:innen einen Qualitätswettbewerb. Was sie bekamen, war ein Wettbewerb um die gesündesten und wohlhabendsten Versicherten. Denn: Wer kosteneffizient arbeiten soll, möchte möglichst junge, fitte Gutverdienende zu seinen »Kund:innen« zählen. Alte und chronisch Kranke hingegen auf keinen Fall, denn deren Behandlung ist teuer und ihre Kassenbeiträge gering,
Was aus dieser Anreizstruktur folgt, nennen Fachleute »Risikoselektion«. Dass es wahrscheinlich zu einer solchen kommen würde, war wohl auch den verantwortlichen Gesundheitspolitiker:innen bewusst. Daher sollte ein Rosinenpicken von guten Risiken durch 2 Maßnahmen verhindert werden: Einerseits wurden die gesetzlichen Kassen dazu verpflichtet, jede:n Versicherte:n, der beitreten wollte, auch aufzunehmen. Andererseits wurde zusammen mit der freien Kassenwahl ein Risikostrukturausgleich (RSA) eingeführt. Dieser sollte sicherstellen, dass die Kassen, die anteilig teurere Versicherte haben, als Ausgleich auch mehr Geld aus den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung erhalten.
Doch die Ausweichreaktionen folgten prompt. Da der Risikostrukturausgleich nur Alter und Geschlecht der Versicherten berücksichtigte, nicht aber den allgemeinen Gesundheitszustand und etwaige chronische Erkrankungen, kam es zwar wie geplant zu Wettbewerb zwischen den Kassen – aber eben nicht mittels Qualität, sondern zulasten kranker Menschen. Zwar konnte offiziell kein Versicherter abgelehnt werden, doch es fanden sich andere Wege, um die Risiken zu mildern. Die Liste der Tricks ist lang:
[Zu den Instrumenten der Risikoselektion] zählen zum Beispiel selektiv platzierte Werbung bis hin zu selektiver Aufforderung zum Kassenwechsel, spezielle Angebote für gute Risiken, Unannehmlichkeiten für unerwünschte Versicherte, Unterschiede in der Servicequalität in Abhängigkeit vom Krankheitsrisiko (z. B. gezielte Öffnung und Schließung von Geschäftsstellen), möglicherweise auch der Abschluss von Versorgungsverträgen, die unter Qualitätsgesichtspunkten fragwürdig sind.
Wer bis heute im Mittelpunkt der Werbung der Krankenkassen steht, lässt sich allerorts beobachten, ob im Netz oder am Werbeplakat an der Bushaltestelle: Junge, sportliche Menschen, die technikaffin sind und mit höherer Wahrscheinlichkeit gut verdienen. Zudem insbesondere Frauen, die nachweislich gesünder leben und sich risikoärmer verhalten.
Ob Werbebanner im Fußballstadion, auf Plakaten oder im Netz: Die Konkurrenz um die besten Risiken kostet eine Menge Geld. So ist die Gesamtsumme der Werbeausgaben der Kassen seit der Einführung der freien Kassenwahl im Jahr 1995 förmlich explodiert: von 61 Millionen Euro im Jahr 1995 auf
Hinzu kommt, dass die meisten Krankenkassen noch weitere Zusatzleistungen auffahren, um attraktiv für die lukrativen Zielgruppen zu sein. Sie bieten spezielle Bonusprogramme an, bezuschussen Fitnesstracker oder übernehmen alternative Heilmethoden ohne wissenschaftlich nachgewiesenen Nutzen, wie etwa Homöopathie. Werden diese Ausgaben für Zusatzleistungen hinzugerechnet, ergibt sich die stolze Summe von 1,5 Milliarden Euro – Tendenz seit Jahren steigend.
Auch wenn einige der hier gebotenen Leistungen medizinisch sinnvoll erscheinen, wie etwa Präventionskurse in Yoga oder für Rückengesundheit, bleibt fraglich, inwiefern Rentner:innen oder weniger technikaffine Menschen von derartigen Zusatzleistungen profitieren. Klar ist hingegen, dass dieses Geld an anderen Enden fehlt – vor allem für die Menschen, die aufgrund schwerer und chronischer Erkrankungen dringend darauf angewiesen sind.
Chronisch Kranke unerwünscht?
Wie es Menschen ergehen kann, die den Krankenkassen als »schlechtes Risiko« erscheinen, zeigt der
Mastozytose gilt als nicht heilbar, doch immerhin können die Symptome durch Medikamente gelindert werden. Der behandelnde Arzt der Uniklinik stellte für Maria und ihre Tochter daher eine Aufstellung der Arzneien zusammen, die ihre Beschwerden lindern sollten. »Ich bin damals frohen Mutes von der Uniklinik gekommen, denn ich habe dort ja endlich medizinisch bestätigt bekommen, was wir für eine Erkrankung haben und vor allem, was wir brauchen, um unsere Symptome zu lindern«, erinnert sich Maria.
Doch die Freude darüber, dass sie endlich wusste, was mit ihnen los war, hielt nur kurz. »Mein Hausarzt sagte mir, dass er mir die Medikamente verschreibe – aber nur einmal pro Quartal.« Als sie entgegnete, dass sie die Arzneien aber fortlaufend bräuchten, lehnte der Mediziner ab. Diese seien zu teuer und wenn er sein Budget überschreiten würde, müsse er am Ende des Quartals aus eigener Tasche dafür haften.
Maria wandte sich also an ihre Krankenkasse, ungläubig darüber, dass die medizinisch notwendigen Medikamente nicht bei ihrem Arzt zu bekommen waren. Doch der Mitarbeiter der Barmer zweifelte die Notwendigkeit der Medikamente an. »Er sagte zu mir: ›Ziehen sie doch einfach Windeln an, das funktioniert auch.‹« Maria blieb nichts anderes übrig, als unterschiedliche Ärzt:innen aufzusuchen, die bereit waren, ihr die benötigten Medikamente zu verschreiben. »Das ging etwa 6 Monate lang gut.
Dann bekam ich einen Anruf von der Krankenkasse. Eine Frau meldete sich am Telefon und gab direkt zu Beginn des Gesprächs zu verstehen, dass sie von höchster Stelle der Barmer anrufe. Sie sprach sehr schnell und in einschüchterndem Ton; warf mir vor, dass ich mir Medikamente erschleiche und der Solidargemeinschaft so Schaden zufüge. Daher würde eine Klage auf mich zukommen, und zwar im Umfang von 20.000 Euro. Mein einziger Ausweg sei es, sofort die Kasse zu wechseln.«
Maria war zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihrer Erkrankung frühverrentet, ihre Tochter gerade einmal 14 Jahre alt. Als sie am Telefon trotz des Anrufs aus heiterem Himmel dagegenhielt, dass sie bei einer anderen Krankenkasse dasselbe Problem bevorstünde, blockte die Mitarbeiterin der Barmer ab.
Die Mitarbeiterin der Krankenkasse sagte, dass alles, was medizinisch nötig sei, von einem Arzt verschrieben werden müsse. Wenn dieser nicht dazu bereit wäre, dann wäre die Therapie eben auch nicht nötig.
Erst als sie einen Fachanwalt für Medizinrecht einschaltete, der mithilfe
Die Krankenkasse Barmer bestreitet, dass Mitarbeitende in der Vergangenheit bei Versicherten anriefen, um sie zum Kassenwechsel zu bewegen. Auf Anfrage teilte ein Sprecher mit, dass bei der Barmer keinerlei Risikoselektion stattfinde. »Versicherungsberechtigte Personen genießen einen umfassenden Versicherungsschutz, unabhängig von ihrem Alter oder ihrer
Der Sprecher weist darauf hin, dass die Barmer den Fall nicht kenne und sich diesen gerne genauer ansehen würden. Dazu sei allerdings der Name der Versicherten nötig, um zu den konkreten Vorwürfen Stellung nehmen zu können. »Dies wäre bereits aus Gründen der journalistischen Fairness angebracht, um mögliche Aussagen der Person nicht unkommentiert zu lassen.« Das ist nachvollziehbar, jedoch aus Gründen des journalistischen Quellenschutzes nicht möglich.
So eindrücklich Marias Fall die Folgen des Wettbewerbs und der Risikoselektion illustriert, sind ähnliche Praktiken im großen Stil nicht nachgewiesen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass sich die Kassen (und auch Ärzt:innen), wenn auch in diesem Fall widerrechtlich, lediglich in den Anreizstrukturen bewegen, die ihnen von der Politik vorgegeben wurden.
Dass es sich jedoch nicht um einen Einzelfall handelt, zeigt eine Reportage von ZDF Zoom aus dem Jahr 2013. Darin sind ähnliche Fälle dokumentiert, in denen gesetzliche Krankenkassen Druck auf schwerstkranke Versicherte ausübten und zu einem
Risikoselektion […] darf es nicht geben und man muss sich schämen, dass es so etwas gibt. Aber: Das ökonomische Finanzierungsmodell provoziert risikoselektives Verhalten. Sowohl bei der Frage, welche Mitglieder gewonnen werden, als auch bei der Art der Behandlung schwerkranker Mitglieder […]. Ich bin enttäuscht, dass die Politik es hat so weit kommen lassen. Es gab nämlich die entsprechenden Analysen, dass genau das die Folge ist.
Wie das System uns kränker machte, als wir es sind
Dass der Risikostrukturausgleich sein Ziel verfehlte und zu einem echten Fehlanreiz wurde, blieb indes auch in der Politik nicht unbemerkt. Der Versuch nachzubessern, folgte jedoch erst Jahre später, im Jahr 2005, nachdem die rot-grüne Bundesregierung von der Großen Koalition aus Union und SPD abgelöst worden war. Unter dem vielsagenden Namen »Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in den gesetzlichen Krankenkassen« wurde der Beitrag zu den Gesetzlichen vereinheitlicht und der sogenannte Gesundheitsfonds eingeführt. In diesem fließen die Beiträge aller Versicherten zusammen, um sie dann an die Kassen zu verteilen.
Neu war auch, dass der Risikostrukturausgleich ab 2008 auch den individuellen Gesundheitszustand der Versicherten berücksichtigen sollte. Die Kassen, die ältere und kränkere Menschen unter ihren Mitgliedern haben, bekommen demnach auch mehr Geld aus dem Fonds, um Risikoselektion unattraktiv zu machen. Dazu wurde eine Liste mit 80 chronischen, ausgabenintensiven Erkrankungen vorgelegt, für die fortan mehr Geld an die Kassen floss als die sonst vorgesehene Pauschale. Ein Fortschritt: Ein wissenschaftliches Gutachten für das Gesundheitsministerium aus dem Jahr 2011 kam zu dem Ergebnis, dass dieser Schritt einiges verbessern konnte, doch noch immer viel Raum für weitere Verbesserungen blieb.
Gleichzeitig wurden jedoch auch unbeabsichtigt neue Fehlanreize und Manipulationsmöglichkeiten geschaffen. Das beweist der Fall von Maria auf eindrückliche Weise: Menschen, die an einer seltenen, aber trotzdem schwerwiegenden Erkrankung leiden, die nicht auf der Liste aus 80 Krankheiten steht, fielen nach wie vor durch das Raster. Auch die von ZDF Zoom dokumentierten Fälle aus dem Jahr 2013 zeigen, wie viele Menschen noch immer auf der Strecke blieben.
Hinzu kommt außerdem noch ein gänzlich neuer Fehlanreiz: Durch die Reform wurde es attraktiv für die Kassen, Patient:innen auf dem Papier kränker zu machen, als sie es eigentlich sind. Stand vormals bei saurem Aufstoßen nur die Diagnose »Sodbrennen« (nicht auf der Liste) in der Akte, konnte die Diagnose fortan womöglich auch »Entzündung der Speiseröhre« (steht auf der Liste) lauten, da dann
Ein Vertreter einer Interessengruppe von Ärzt:innen und der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes bestritten im Jahr 2019 allerdings, dass es zu
Die gute Nachricht ist: Vieles deutet darauf hin, dass viele von ihnen nun (vorerst) gestopft worden sind.
Wie der selbst geschaffene Wettbewerb nun gezähmt werden soll
Es war eine bedeutende Verkündung für 73 Millionen gesetzliche Versicherte, die der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn im Februar 2020 machte. Er sagte:
Wir machen den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gerechter. Die Kassen sollen nicht um die besten Finanztricks konkurrieren, sondern um den besten Service, die beste Versorgung und das modernste digitale Angebot.
Überschattet von den ersten bestätigten Fällen des damals noch neuartigen Coronavirus in Deutschland, fand seine Ankündigung wenig öffentliche Beachtung. Dabei könnte sie ein Versprechen einlösen, das vor über 25 Jahren mit der ersten Reform der gesetzlichen Kassen
Mit dem »Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung« wird die Liste der 80 Krankheiten abgeschafft, die der Risikostrukturausgleich umfasste. Sie wird ersetzt durch ein sogenanntes Vollmodell, das alle Krankheiten berücksichtigt und entsprechend dem finanziellen Aufwand Gelder an die Krankenkassen zuweist.
Da es für die Krankenkassen mit diesem Schritt allein noch immer unattraktiv erscheinen könnte, Schwerstkranke mit besonders kostenintensiven und seltenen Krankheiten unter ihren Versicherten zu haben, wurde zusätzlich ein sogenannter »Risikopool« eingerichtet. Ist etwa ein:e Patient:in auf neue, sehr teure Medikamente angewiesen, die mehr als 100.000 Euro pro Jahr kosten, bekommen die Kassen 80% der Ausgaben erstattet, die über
Kurz: Die politischen Entscheider:innen scheinen aus ihren Fehlern gelernt zu haben und mit der jüngsten Reform genau die Lücken zu schließen, die vorher zu Manipulation und Risikoselektion geführt haben. Ob der Wettbewerb so endlich fair(er) wird, soll dann im 4-Jahres-Rhythmus evaluiert werden. Genau das ist auch dringend notwendig, denn klar ist: Die perfekte Reform dieses hochkomplexen Systems gibt es nicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich mit der Zeit auch diesmal neue Schlupfwinkel finden werden. Doch da mit dem Gesundheitsstrukturgesetz vor fast 30 Jahren der Weg des Wettbewerbs eingeschlagen wurde, ist eine völlige Kehrtwende
Die gesetzlichen Krankenkassen selbst sehen in dem politisch gewollten Wettbewerb zwischen den Kassen übrigens zunächst einmal kein Problem. Auf Anfrage teilte der GKV-Spitzenverband mit, der als Dachverband die gesetzlichen Krankenkassen vertritt, dass man nicht glaube, dass die Konkurrenz zu Konflikten führe. Auch der Risikostrukturausgleich wird heute positiv bewertet, dieser habe sich »als Instrument zwischen den gesetzlichen Krankenkassen bewährt«. Zudem verweist der Sprecher des Verbandes auch auf die Vorteile für Versicherte: »Die Möglichkeit der Versicherten, ihre gesetzliche Krankenkasse auch kurzfristig zu wechseln, ist ein zentraler Baustein, um die Versorgungs- und Servicestandards für die 73 Millionen gesetzlich Versicherten immer weiter zu verbessern.«
Das mag für viele Versicherte sicher stimmen – besonders für diejenigen, die uns gesund und munter von Werbeplakaten für Krankenkassen anlachen. Doch klar ist auch, dass unter den Risiken und Nebenwirkungen des Marktes in der Vergangenheit vor allem diejenigen gelitten haben, die eine gute Versorgung am dringendsten brauchen.
Das war Teil 2 unserer Serie zum deutschen Gesundheitswesen! Wer die Rolle der privaten Krankenversicherungen in unserem System in diesem Text vermisst hat, der sei beruhigt: Im nächsten Teil geht es damit weiter!
Mit Illustrationen von Doğu Kaya für Perspective Daily