Warum Abtreibungsrechte trotz allem eine Erfolgsgeschichte sind
Das Urteil des Obersten US-Gerichts, das Recht auf Abtreibungen zu kippen, ist ein Rückschlag für Millionen von Frauen. Weltweit und historisch gesehen ist der Zugang zu Abtreibungen jedoch eine Erfolgsgeschichte. Auch dank vieler Aktivist:innen, die Gesetze brechen.
Es ist der 4. Juli 2022. Die USA feiert ihren Tag der Unabhängigkeit. Auf den Straßen und Plätzen von Washington, D.C. tanzen die Menschen ausgelassen, gehüllt in die blau-rot-weiße Nationalflagge.
Hinter der Aktion stecken die Aktivist:innen von
Heute hat sich die Gruppe vor das oberste US-Gericht gestellt, um Menschen über
Denn nur eine Woche zuvor wurde das landesweit geltende Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt – und zwar in ebenjenem Gerichtsgebäude, vor dem die Aktivist:innen jetzt stehen. Es ist fast wie eine traurige Ironie: Während die USA am 4. Juli ihre im Jahr 1776 errungene Freiheit feiern, wurde gerade die reproduktive Freiheit von über 160 Millionen US-Amerikanerinnen eingeschränkt.
Warum die Aktivist:innen hinter ihrem Limonadenstand trotzdem feiern? »Unsere Freude ist ein Ausdruck des Widerstands. Wir wollen zeigen, dass dieses Gericht, vor dem wir stehen, uns nicht kleinkriegen kann«, erklärt Lara Islinger, Aktivistin bei Shout Your Abortion und Politikstudentin aus Hamburg, die gerade ein Auslandssemester in den USA verbringt. »Wir werden weiterhin Wege finden, sicher abzutreiben.«
Anders als in den 60er-Jahren, als Frauen teilweise auf lebensgefährliche Abtreibungsmethoden zurückgreifen mussten, gibt es heute nämlich alternative Wege, um sicher und selbstbestimmt abzutreiben – trotz Verboten.
Etliche Frauenorganisationen, Ärzt:innen und Aktivist:innen teilen die Ansicht von Lara Islinger. Wo der Staat keinen sicheren Zugang zu Abtreibungen gewährleistet, springen sie ein – und finden Wege, die Gesetze zu umgehen.
Dieser Text soll dir ein Gefühl dafür vermitteln, wie weit wir dank eben dieser Aktivist:innen schon gekommen sind. Denn ohne die Rückschläge wie jene in den USA und die vielen Hürden, die noch existieren, kleinreden zu wollen: Frauenrechte und reproduktive Gesundheit sind eine Erfolgsgeschichte.
Progressive Welle: Der Zugang zu Abtreibungen wird immer besser
Als klar wurde, dass ausgerechnet in den USA Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr rechtlich garantiert sein würden, waren viele Menschen entsetzt. Das Land hatte bisher eines der progressivsten Abtreibungsgesetze der Welt. Bis zur 24. Woche konnte eine Schwangerschaft in bestimmten Fällen beendet werden, in den meisten Ländern Europas ist es bis zur 12. Woche möglich, straffrei oder rechtlich garantiert.
Rückschritte bei Abtreibungsgesetzen sind untypisch. Nur 3 weitere Länder haben in den letzten Jahrzehnten den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen eingeschränkt: Polen sowie El-Salvador und Nicaragua in Mittelamerika. Der Fall der USA ist ohne Zweifel der extremste: »Es ist noch nie passiert, dass ein so stabiles Abtreibungsrecht, das seit 50 Jahren existiert, gekippt wird«, sagt Leah Hoctor vom
Die Entwicklung von Abtreibungsrechten ist grundsätzlich progressiv: Heute erlauben mehr Länder, eine Schwangerschaft zu beenden, als noch vor 50 Jahren. »In den letzten 30 Jahren haben ungefähr 60 Länder weltweit die Legalität von Abtreibungen erhöht. Zudem haben viele weitere Länder bürokratische Hürden und Beschränkungen beim Zugang zu Abtreibungen entfernt«, erklärt die Juristin und Frauenrechtlerin Hoctor.
Irland ist das jüngste Erfolgsbeispiel aus Europa. Das streng katholische Land erlaubte bis 2018 Schwangerschaftsabbrüche nur, wenn dabei das Leben der Schwangeren auf dem Spiel stand. Seit 1983 hatte Irland das Abtreibungsverbot sogar in seiner Verfassung verankert. Das heißt: Nur durch ein Referendum konnte das Verbot aufgehoben werden.
Der Fall Irland hat laut Hoctor Frauenrechtler:innen und Politiker:innen auf der ganzen Welt inspiriert. Nach dem irischen Referendum liberalisierten etwa Belgien, Island und Zypern ihre Abtreibungsrechte. Aber auch auf andere Regionen der Welt schwappte die progressive Welle über, die Irland auslöste. In Lateinamerika schafften gleich 3 Länder ihre bisher sehr restriktiven Abtreibungsverbote ab. Dazu gehörten Kolumbien (2022), Mexiko (2021) und
Heute leben rund 60% aller Frauen im gebärfähigen Alter in Ländern, die gesetzlich einen breiten Zugang zu Abtreibungen gewähren.
Doch welche Optionen haben die restlichen 40% der Frauen weltweit?
Abtreibungsboote und stille Post: Wie Aktivist:innen Frauen eine erzwungene Mutterschaft ersparen
In Europa reisen manche Betroffene in Nachbarländer, die einen Abbruch legal ermöglichen. Nicht alle Betroffene können sich das leisten. Hinzu kommt die psychische Belastung: Illegale Abtreibungen werden oft stigmatisiert und sind mit Scham belastet.
Hier springen Frauenrechtsorganisationen und engagierte Ärzt:innen ein. Auf kreative Weise versuchen sie, Abtreibungsverbote zu umgehen, um betroffenen Frauen unter die Arme zu greifen. So wie die niederländische Ärztin Rebecca Gomperts. Sie baute Anfang der 2000er-Jahre aus einem Schiff eine »mobile Klinik« und bot Abtreibungen in internationalen Gewässern an – dort, wo nationale Gesetze nicht gelten.
Über die Organisation Women on Waves hat Diana Whitten im Jahr 2014 eine Doku gedreht. Du kannst sie dir auf Youtube ansehen:
Seit Ende der 90er-Jahre hat die reproduktive Gesundheit 2 revolutionäre Entwicklungen erlebt, die es Aktivist:innen erleichtern, Betroffenen zu helfen: die Verbreitung der Abtreibungspille und die Einführung der Telemedizin.
Expertin Hoctor bestätigt: Immer mehr Frauen, etwa aus Polen oder Malta, wo Schwangerschaftsabbrüche verboten sind, reisen nicht mehr in Nachbarländer, sondern bestellen stattdessen Abtreibungspillen online und
Beraten werden sie dabei von medizinischem Fachpersonal. Den Kontakt vermitteln Frauenrechtsinitiativen. Diese Methode erspare vielen Schwangeren Zeit und Geld und gebe ihnen einen großen Teil ihrer Selbstbestimmung zurück, so Hoctor.
Die Nichtregierungsorganisation der Ärztin Rebecca Gomperts, die Schwangerschaftsabbrüche in internationalen Gewässern anbietet, hat ihr Angebot nun auch um Telemedizin erweitert. Neben Women on Waves (auf Deutsch: Frauen auf Wellen) gibt es nun auch
Mittlerweile gibt es
Aid Access erhält die Pillen aus Indien über internationale Apotheken. Verschrieben werden sie von 4 Ärztinnen, die für Aid Access arbeiten.
Aktivistin Lara Islinger sagt: »Auch wenn manche Bundesstaaten nun das Versenden von Abtreibungspillen kriminalisieren – es ist schwer, den gesamten Postverkehr zu kontrollieren.
Diesen blinden Fleck macht sich auch die mexikanische Frauenrechtsorganisation Las Libres zu eigen. Sie versendet Abtreibungspillen in jene US-Bundesstaaten,
Das Beispiel zeigt die gegenseitige Unterstützung von Aktivist:innen über Ländergrenzen hinweg: Bis 2021 waren Abtreibungen in Mexiko grundsätzlich verboten; jährlich reisten etliche Frauen in die USA, um ihre Schwangerschaft dort zu beenden.
Lara Islinger bringt die Einstellung der Aktivist:innen auf den Punkt:
Der sichere Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in den USA wurde noch nie von den Gerichten garantiert, sondern von Ärzt:innen und Aktivist:innen. Deswegen kann er auch nicht durch eine gerichtliche Entscheidung eliminiert werden.
Im Umkehrschluss heißt dies aber auch: Nur weil Abtreibungen in einem Land erlaubt sind, heißt das noch lange nicht, dass der Zugang dazu für alle Frauen gegeben ist.
Legalität heißt noch lange nicht, dass Frauen problemlos abtreiben können
Lara Islinger weist auf den Unterschied zwischen reproduktivem Recht und reproduktiver Gerechtigkeit hin:
- Reproduktives Recht meint die Legalisierung oder Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
- Bei reproduktiver Gerechtigkeit geht es darum, für alle einen gleichen Zugang zu dieser Gesundheitsleistung zu schaffen.
Dazu gehört es, genug Praxen auf dem gesamten Staatsgebiet einzurichten, sodass auch Menschen auf dem Land und an abgelegenen Orten sicher einen Abbruch vornehmen können. In der Realität sind Frauen, die abseits großer Städte leben, von diesen Leistungen häufig abgeschnitten.
Viele Unis in Deutschland weigern sich, Schwangerschaftsabbrüche in ihren Lehrplan aufzunehmen. Gastautorin Isabella Aberle berichtet von Medizinstudent:innen, die deshalb heimlich mit Papayas üben:
Ein rechtlicher Standard sei daher noch lange nicht genug, so Lara Islinger. Man müsse auch zur Entstigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen beitragen und eine bessere Versorgungslage schaffen.
»Europa sollte diesen Rückschritt als Warnung verstehen«
Trotzdem sei die Rechtslage von enormer Bedeutung, findet die Aktivistin von Shout Your Abortion. Denn die Kriminalisierung von Abtreibungen treffe diejenigen am härtesten, die ohnehin diskriminiert würden. Der Beschluss des US-amerikanischen Supreme Courts habe ihrer Meinung nach den Abtreibungsgegner:innen viel Aufwind gegeben. Das Urteil stelle einen traurigen Verlust in der Geschichte der reproduktiven Rechte dar. Die Aktivistin hofft, dass Europa diesen Rückschritt ernst nehme und als Warnung verstehe, reproduktive Freiheiten in allen europäischen Ländern rechtlich zu garantieren.
Europa scheint das Signal verstanden zu haben: Eine Woche nach dem Urteil des Supreme Courts forderte das EU-Parlament,
Und nicht nur das: »Gesetzmacher:innen in Frankreich, Dänemark, Schweden und Großbritannien beginnen darüber zu sprechen, wie Frauenrechte besser geschützt werden können und ob das Recht auf Abtreibung in den nationalen Verfassungen festgeschrieben werden soll«, sagt Leah Hoctor vom Center for Reproductive Rights.
Für die Frauenrechtlerin ist klar: In Europa setzt sich allmählich der Gedanke durch, dass es sich beim Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen um ein fundamentales Menschenrecht handelt. Eine Verankerung in der EU-Grundrechtscharta wäre in dieser Hinsicht ein enorm wichtiger Schritt, der ein klares Signal sendet: »Abtreibungsverbote finden im 21. Jahrhundert in der Europäischen Union keinen Platz.«
Doch auch Hoctor räumt ein, dass es damit nicht getan sei und in der Praxis noch zu viele Hürden bestünden, die einen sicheren Zugang für alle Frauen einschränken.
Immerhin: Alle, die wollen, können sofort mithelfen, diese Hürden abzubauen und Schwangeren eine sichere und selbstbestimmte Abtreibung zu ermöglichen. Dafür hat Lara Islinger einige Tipps:
- Finanzielle Unterstützung: In den USA gibt es sogenannte Abtreibungsfonds (englisch), die jede:r mitfinanzieren kann. Es handelt sich dabei um kleine regionale Kliniken, die Geld für sichere Abtreibungen sammeln oder dafür, Frauen in andere Bundesstaaten zu schicken, wo sie eine solche durchführen können. Andere US-Fonds unterstützen finanziell bei Abtreibungen durch Telemedizin. In Deutschland gibt es bisher keine ähnlichen Organisationen. Es gibt aber sogenannte Ciocia-Gruppen, die Menschen aus Polen dabei unterstützen, in Deutschland, Österreich oder Tschechien sicher abzutreiben.
- Darüber sprechen: Wenn offener über das Thema Abtreibungen gesprochen wird, ist schon viel gewonnen. Jede Person, die ihre Erfahrungen teilt, trägt ein Stück weit zur Entstigmatisierung bei.
- Aktiv werden: Den größten Einfluss hat es jedoch, wenn sich Interessierte politisch oder in einer Frauenrechtsbewegung wie Women on Web oder Plan C engagieren und
Transparenzhinweis: Lara Islinger war im Jahr 2019 Praktikantin bei Perspective Daily und schreibt gelegentlich Gastbeiträge für uns.
Titelbild: Gayatri Malhotra | Unsplash - CC0 1.0