Warum wirfst auch du jeden Tag 2 Kilo Essen weg?
Obwohl es einfache Möglichkeiten gibt, das zu vermeiden. Auf dem Weg vom Feld bis zum eigenen Kühlschrank.
Stelle dir vor, jeden Tag kommt jemand in deine Küche und schmeißt 2 Kilogramm der vorhandenen Lebensmittel weg – pro Haushaltsmitglied. Im Hause der Familie Dörrie würden so jeden Tag 6 Kilogramm in den Müll wandern. Das gute Gemüse vom Biohändler, 1 Liter Milch, das Glas Schokoaufstrich, ein paar Packungen Nudeln und Reis. Egal ob noch frisch und genießbar, es würde trotzdem in der Tonne landen.
»Was für eine Verschwendung!« Vom finanziellen Schaden mal ganz abgesehen. Niemand würde so einen Eingriff in den eigenen Haushalt akzeptieren – sollte man meinen. Dieses Ausmaß an Verschwendung ist aber alltägliche Realität. Auch wenn es kein bösartiges Heinzelmännchen ist, das sich nachts an deinen Vorräten vergeht, werden pro Person und Tag weltweit mindestens 2 Kilogramm Nahrungsmittel weggeschmissen oder verschwendet. Vielleicht sind es auch
Unser Verschwendungswahn hat Konsequenzen: Dass es 800 Millionen Menschen gibt, die Hunger
Dabei ginge es auch anders. Schon jetzt gibt es Möglichkeiten, Nahrungsmittelverschwendung drastisch zu reduzieren. Es gibt Organisationen, Staaten und Personen, die vormachen, wie es geht. Aber noch lähmt Uneinigkeit über die Wichtigkeit des Problems den Fortschritt. Und das fängt bei der Frage an, was eigentlich Lebensmittelverschwendung ist.
Verschwendung, was ist das?
Wo Verschwendung beginnt und endet, da scheiden sich die Geister. Ist jede Kalorie, die nicht im Magen landet, Verschwendung? Oder nur das, was für die menschliche Ernährung produziert wird? Häufig unterscheiden sich die Definitionen von Studie zu Studie – deshalb gibt es eine ganze Bandbreite von Aussagen, wie viel wir tatsächlich verschwenden.
Zusammenfassend lässt sich trotz der verschiedenen Definitionen festhalten, dass auf den folgenden Abschnitten der Produktionskette Verschwendung stattfindet:
Vor der Ernte: Normen, Standards und die Marktwirtschaft
- Nein, die EU schreibt nicht (mehr) vor, welche
Vom Feld in den Tank
- Besonders Zuckerrohr und Mais werden in den USA und Südamerika angebaut, um daraus Ethanol zu erzeugen, der als Biosprit Autos antreiben kann. Auf diesen Flächen könnte man natürlich auch Lebensmittel für den menschlichen Verzehr anbauen. Kompliziert wird es, wenn auch tatsächlich nicht vermeidbare Ernteabfälle in der Biogasanlage landen. Knapp 5% der globalen landwirtschaftlichen Produktion wird
Das böse Fleisch
- Bis zu 1/4 der weltweit produzierten Lebensmittel landen im
Nachernteverluste
- Darunter fallen etwa Transport, Lagerung und Reinigung. Aufgrund hoher technologischer Standards sind die hier auftretenden Verluste in Deutschland gering (2–5%, je nach Produkt). In Entwicklungsländern machen sie wegen
Weiterverarbeitung
- Bevor die Kartoffel in unserem Fertiggericht auftaucht oder sich die Mandarine in der Dose wiederfindet, wollen diese Feldfrüchte sortiert, gewaschen, zubereitet und unter Umständen gekocht werden. 4–7% der Lebensmittelmenge gehen hier nach offiziellen Zahlen verloren. Weil diese Zahlen aber auf freiwilligen Angaben der Industrie beruhen, gibt es vermutlich eine erhebliche
Groß- und Einzelhandel
- Bis zu 7% der in Deutschland produzierten Lebensmittel werden im Handel weggeschmissen. Der größte Teil dieser Verschwendung entfällt auf Supermärkte, Großmärkte schmeißen dagegen nur etwa 1% der angelieferten Lebensmittel weg.
Der Endverbraucher
- Rund 1/4 aller produzierten Nahrungsmittel wird vom Konsumenten weggeschmissen. Privathaushalte sind hier genauso schuldig wie Kantinen, Mensen und andere Großverbraucher.
Um die Sache noch komplizierter zu machen, beziehen sich manche Studien auf das Gewicht der Lebensmittel, andere auf ihren Energiegehalt. Manche unterscheiden zwischen essbaren und ungenießbaren Teilen der Produkte, andere nicht, während einige nur die Lage in Deutschland oder der EU untersuchen und sich andere auf globale Zahlen beziehen. Die hier gelisteten Zahlen sind also Richtwerte und wir ermutigen euch, selbst zu überlegen, was für euch Verschwendung darstellt und was nicht. Wer tiefer einsteigen will, der findet hier die wichtigsten Studien zum Thema:
- Die aktuellste Studie zu Deutschland hat der WWF 2015 publiziert.
- Die EU kommt mit einer engen Definition zu dem Ergebnis, dass wir 20% der produzierten Nahrungsmittel verschwenden.
- Die wohl am meisten zitierte Studie stammt von der Nahrungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen FAO. Etwa 1/3 aller Nahrungsmittel werden laut dieser Untersuchung verschwendet, wobei
Aber egal welchen Maßstab man anlegt, fest steht, dass ein erheblicher Teil der weltweiten Nahrungsmittelproduktion verschwendet wird. Nicht jede Art der Verschwendung ist vermeidbar. Aber mit einer Kombination aus besseren Gesetzen und einem gesellschaftlichen Bewusstseinswandel könnten jedes Jahr Millionen Tonnen Lebensmittel gerettet werden.
Was die Wirtschaft tun kann
Aktuell wissen wir aber noch nicht mal genau, wie viel entlang einiger Glieder der Produktionskette weggeworfen wird. Die Bundesregierung hat sich vor einigen Jahren zwar vollmundig zu dem Ziel bekannt, die Lebensmittelverschwendung bis 2020 zu halbieren. Seit kurzem spricht man aber nur noch von 2030 als Ziel und eine solide Datengrundlage ist bis heute nicht gesammelt worden. Eine verbindliche Handlungsagenda fehlt völlig. Die Politik konzentriert sich aktuell komplett auf die Verbraucher als Schuldige.
Der Journalist Stefan Kreutzberger und der Filmemacher Valentin Thurn gehören seit mehreren Jahren zu den aktivsten Stimmen im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung in Deutschland. Aus ihrer Zusammenarbeit sind ein Buch und mehrere Filme über das Thema entstanden. Sie stehen außerdem hinter dem Projekt »foodsharing.de«, einer Online-Plattform und aktiver Lebensmittelrettung vor Ort, über die Privatpersonen, Geschäfte und Organisationen übriggebliebene Lebensmittel verteilen können.
Kreutzberger und Thurn glauben, dass in der gesamten Produktionskette, von der Landwirtschaft bis zum Verbraucher, ein großer Teil der Nahrungsmittelabfälle eingespart werden könnte. Zum Teil müssten hierfür aber neue Gesetze her.
In Frankreich etwa ist es Supermärkten mit einer Grundfläche von mehr als 400 Quadratmeter seit 2016 verboten, noch genießbare Lebensmittel
Die deutsche Wirtschaft wehrt sich gegen solche Initiativen mit dem Hinweis, dass sie schon aus finanziellen Gründen ein Eigeninteresse habe,
Der WWF geht allerdings davon aus, dass etwa die Hälfte der Lebensmittelverschwendung in Produktion und Handel eingespart werden könnte. Wie viel Sparpotenzial in den langen Supermarktgängen liegt, zeigt ein Beispiel aus Dänemark. Die Aktivistin Selina Juul überzeugte im Alleingang die größte Supermarktkette des Landes, Angebote wie »Kauf 3, zahl 2« zu ersetzen und stattdessen Rabatt auf einzelne Produkte zu gewähren. Innerhalb von 5 Jahren landete so
Einen ähnlichen Ansatz zur Müllvermeidung verfolgen in Deutschland eine Reihe von »Unverpackt-Läden«, in denen komplett auf Verpackungen verzichtet wird. Die Lebensmittel werden an der Kasse abgewogen, jeder Kunde kann also
Momentan sind solche Maßnahmen freiwillig, aber Vorgaben zur Verpackung, Rabattaktionen und der Verschwendung von optisch nicht perfektem Gemüse könnte auch der Gesetzgeber machen. Gesetzlicher Handlungsbedarf besteht auf jeden Fall beim Mindesthaltbarkeitsdatum. Diese Angabe hat nichts mit der tatsächlichen Genießbarkeit eines Produkts zu tun, führt aber trotzdem dazu, dass sowohl im Handel als auch im Haushalt Lebensmittel in den Müll wandern. Verbraucher sollten die Mindesthaltbarkeitsangaben auf der Packung nicht als Wegwerfdatum verstehen, sagt Stefan Kreutzberger.
Aber für Supermärkte und gemeinnützige Organisationen wie die
Dafür müsste es aber auch von Seiten des Handels Druck geben. Druck, den es aktuell nicht gibt. »In Deutschland hat eigentlich nur die REWE-Gruppe eine Sensibilität für das Thema entwickelt«, so Stephan Kreutzberger. Bei der REWE-Tochter Penny wird seit 2016 im Bio-Sortiment auch Obst und Gemüse mit Schönheitsfehlern verkauft. »Bio-Helden« nennt die Kette diese Produkte. Preisnachlass gibt es dafür nicht, »unser Ziel ist, dass die Kunden darauf möglichst bald gar nicht mehr achten«, sagte Jochen Baab von REWE zur
Gerade der Handel nimmt aber eine Schlüsselposition bei der Bewältigung der Lebensmittelverschwendung ein, auch wenn er nur für einen geringen Teil selbst verantwortlich ist. Supermärkte bestimmen, was Bauern anbauen, und machen der Industrie Vorgaben, wie Produkte aussehen und verpackt sein müssen. Verbraucher wiederum werden durch das Angebot und die Werbung beeinflusst. Dass berstend volle Gemüseabteilungen mit optisch perfekten Produkten kaufanregend wirken, haben viele Kunden vielleicht schon selbst erlebt. Die Marketingstrategien der Supermärkte führen deshalb nicht nur dazu, dass wir mehr Lebensmittel kaufen, als wir essen können. Sie erzeugen auch einen unrealistischen Anspruch an Perfektion. So manches Produkt wandert darum in den Hausmüll, auch wenn es noch genießbar wäre. Und hier beginnt die Verantwortung des Verbrauchers.
Abtauchen im Müll
Valentin Thurn ist Filmemacher. 2007 hat ein kurzer Fernsehbeitrag über Mülltaucher sein Leben verändert. »Der lief an einem eigentlich ganz unverdächtigen Nachmittags-Sendeplatz. Aber die Zuschauer haben sehr heftig reagiert, die hatten die gleiche Wut über die Verschwendung wie ich. Da habe ich erst gemerkt, was für ein riesiges Thema das ist«, sagt Thurn, als wir ihn in seinem Büro in einem Kölner Hinterhof treffen. Seitdem hat er 2 Kinofilme gemacht, die sich mit Essen und Verschwendung beschäftigen: Taste the Waste 2011 und 4 Jahre später 10 Milliarden – wie werden wir alle satt?.
»Seitdem interessiert mich an Lebensmitteln auch das Soziale«, sagt Valentin Thurn. Er hat in Köln einen
Es ist sicherlich gut, wenn eine intrinsische Motivation da ist, Lebensmittel nicht wegzuwerfen. Das funktioniert, wenn Menschen eine Beziehung zu den Lebensmitteln haben; sie entweder selbst angebaut haben oder beim Bauern vor Ort gekauft haben. Dieses Gefühl geht bei dem Supermarkteinkauf verloren.
3 Maßnahmen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln
Seitdem er sich mit Lebensmitteln beschäftigt, isst Valentin Thurn – wie der Rest seines Filmteams – weniger Fleisch, kocht strategischer und verwertet Reste weiter.
Maßnahme 1: Den Überblick behalten. »Eine gute Landfrau würde dir sagen ›nimm ’nen Einkaufszettel mit‹.« Damit kannst du dich vor so manchem Impulskauf wappnen – allerdings landen auch bei Valentin Thurn hin und wieder ungeplante Produkte im Einkaufskorb.
»Meine persönliche Gegenstrategie ist eine andere«, sagt der Filmemacher: »Wenn ich etwas kochen will, dann habe ich selten eine vorgefertigte Idee, sondern ich gehe an den Kühlschrank und sage: Was ist denn dran, was muss ich wegkochen? Dann habe ich zwar samstags vielleicht immer noch etwas übrig, aber das ist dann nicht verdorben.«
Maßnahme 2: Die Einkäufe richtig lagern. »Das Wissen um die richtige Lagerung ist immer noch eine Katastrophe«, sagt Valentin Thurn: »Dass
Maßnahme 3: Mehr reden über Essen und wo es herkommt. »Die Politik wird sich nur ändern, wenn Druck vom Verbraucher, also vom Wähler kommt«, sagt Valentin Thurn. Und die größten Verbesserungen können nur von der Politik initiiert werden. So fordert Thurn, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel auf 19% anzugleichen – wer mehr fürs Essen zahlt, wirft weniger weg. Dann müsste die Politik zwar sicherstellen, dass sich alle Bürger die Verteuerungen auch leisten könnten. Wie das geht, ist eine ganz eigene Frage. Fakt ist nur: Wir geben in Deutschland nur
Wie viel Lebensmittel im Müll landen, haben nicht zuletzt auch wir selbst in der Hand. Man sagt zwar, das Auge isst mit, aber: Jeder, der mal reingebissen hat, weiß, dass auch krumme Möhren schmecken.
Mit Illustrationen von
Mit Illustrationen von Jonas Hauss für Perspective Daily