Wie der Krieg die konservative Ukraine toleranter macht
Queere Ukrainer*innen kämpfen in der Armee, sammeln Spenden, organisieren Schutzräume – und fordern weiterhin Gleichberechtigung. Mit überraschendem Erfolg!
»Der Krieg hilft der Ukraine dabei, queere Menschen zu akzeptieren. Das ist auch für uns eine riesige Überraschung«, freut sich Rostyslaw Milewskyj, Direktor der
»Aktivist*innen arbeiten seit Jahren daran, aber jetzt starten einfach irgendwelche Leute erfolgreiche Petitionen«, wundern sich Tymur Lewtschuk und Tetiana Kasian von der
»Schade, dass erst dieser Krieg kommen musste, damit wir uns in Richtung Europa bewegen«, meint Nika Wenhelowska von der Jugend-NGO »Partner« in Odessa.
»In diesem Krieg haben wir alle die gleichen Sorgen, wir halten jetzt besser zusammen«, sagt Oleh Kryschtschenko von
Während im Osten und Süden der Ukraine brutale Kämpfe um Gebietsgewinne geführt werden, noch immer etwa 1/5 des Landes von russischen Truppen okkupiert ist, Millionen Menschen auf der Flucht sind und täglich unvorhersehbare russische Raketenangriffe das ganze Land terrorisieren, erlebt die LGBTQ-Community in der Ukraine eine positive Überraschung nach der anderen.
So ergab eine
Die Anerkennung wurde erkämpft – im wahrsten Sinne des Wortes
Ein Grund für die zunehmende Offenheit gegenüber der LGBTIQ-Gemeinschaft in der Ukraine ist sicher die jahrelange Öffentlichkeitsarbeit queerer Soldat*innen. Wohlwollend äußerten sich dazu in der KISS-Studie immerhin 81,2% der Befragten. Seit 2018 outen sich immer mehr Militärs als schwul, lesbisch, bisexuell oder Transpersonen. Der Verband
»Ich fühle nur Unterstützung von meinen Brüdern an der Waffe!« – Viktor Pylypenko, »LGBT Military«
Sein bekanntestes Gesicht ist Viktor Pylypenko, Veteran eines Freiwilligenbataillons während der Antiterroroperation im Osten der Ukraine 2014–2015. Damals verheimlichte er noch, dass er schwul ist, wie viele queere Soldat*innen erfand er Geschichten, um sein Geheimnis zu verbergen. Nach seinem Coming-out 2018 durch das Fotoprojekt
Seit Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 großflächig überfallen hat, ist Viktor Pylypenko wieder zurück in den Reihen der Armee, als Sanitäter einer Einheit, die zunächst die Hauptstadt Kyjiw gegen den versuchten Sturm der russischen Truppen Anfang März verteidigte und mittlerweile in den schwer umkämpften Gebieten im Osten eingesetzt wird. Entsprechend kurz angebunden antwortet er per Messenger von der Front. Im Unterschied zu damals kann er jetzt sagen: »Ich fühle nur Unterstützung von meinen Brüdern an der Waffe!«
Dann schickt er stolz Fotos mit seiner Truppe im Einsatz. Die Gesichter der Kamerad*innen müssen unkenntlich gemacht werden: »Die
Ein bisschen kritischer äußert sich Pascha Lajhojda, der sich nur durch Zufall vor seinen Armeekameraden outete. Er schreibt
»Homo- und Transphobie sind Teil der brutalen russischen Ideologie«
Seit Ende Juni ist die Ukraine EU-Beitrittskandidat. Einen Tag zuvor ratifizierte das Land die Istanbul-Konvention zur
In der Begründung schreibt sie: »Gegenwärtig kann jeder Tag der letzte sein. Geben Sie Menschen gleichen Geschlechts die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, und ein offizielles Dokument, um dies zu beweisen. Sie brauchen
Auslöser waren für sie wohl tragische Geschichten gleichgeschlechtlicher Paare, in denen Menschen ihre im Krieg gefallenen Partner*innen nicht beerdigen durften, weil sie keine verwandtschaftliche Beziehung nachweisen konnten. In wenigen Tagen ging die Petition im Netz viral, die nötigen 25.000 Unterschriften waren schnell gesammelt. Nun musste das Präsidialamt von Wolodymyr Selenskyj eine Rückmeldung dazu erarbeiten.
Bisherige Versuche ähnlicher Kampagnen hatten vor dem Krieg nie mehr als 5.000 Unterschriften erhalten, erinnert sich Rostyslaw Milewskyj von »Gender Zed« aus Saporischschja. »Aber jetzt gibt es viel Bewegung in den Köpfen der Menschen.« Einerseits sei das ein Zeichen dafür, dass die Menschen verstehen, dass Homo- und Transphobie ein
Geben Sie Menschen gleichen Geschlechts die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, und ein offizielles Dokument, um dies zu beweisen. Sie brauchen die gleichen Rechte wie traditionelle Paare.
Milewskyjs NGO »Gender Zed« versorgt seit Kriegsbeginn Binnenflüchtende und Queers in der südostukrainischen Großstadt Saporischschja
Eine Stunde nach dem Onlinegespräch meldet der Generalstab Raketenbeschuss in Saporischschja. »Physisch ok, 2 Explosionen in einem anderen Stadtviertel«, antwortet er – dann doch wieder erschreckt – auf die Nachfrage nach seinem Wohlergehen.
Schutzräume gegen Diskriminierung und Bomben
Die jahrelange Entwicklung zahlreicher LGBTQ-Organisationen in der Ukraine, die neben dem eigenen staatlichen Gesundheitsfonds auch durch ausländische Stipendien unterstützt wird, erweist sich angesichts des Krieges als flexibles und wirkungsvolles Netzwerk. Neben den Spendenaktionen entstanden vielerorts eigene Shelter, spezielle Schutzräume für queere Menschen, die durch den Krieg vertrieben wurden, ihre Angehörigen, Wohnungen und Jobs verloren haben.
In Kyjiw beispielsweise bestehen 2 solche Shelter, eines von der NGO
Im Kyjiwer Shelter leben derzeit 14 Personen in einer 2-Raum-Wohnung im Erdgeschoss zusammen. Die Bewohner*innen kommen aus Sumy, Charkiw, Kyjiwer Vorstädten und sogar ursprünglich aus Russland. »Wir sind hier wie eine kleine Familie«, sagt Koordinator Oleh Kryschtschenko. Viele sind traumatisiert, haben Heim und Angehörige verloren. Auch Kryschtschenko selbst. Erst am Vormittag des Treffens sind Verwandte von ihm in Wynnitsja gestorben, als das Stadtzentrum von russischen Raketen beschossen wurde. Aber er arbeitet weiter. Im Krieg gibt es keine Zeit zur Erholung.
Die Adresse des Schutzraums wird aus Sicherheitsgründen geheim gehalten, das war auch vor dem Krieg so. Wie in einem Hostel bestehen die Zimmer aus Doppelstockbetten und Schränken. Küche und Bad werden zusammen genutzt. Sex, Drogen und Alkohol sind verboten, geraucht wird draußen. Die Unterbringung ist kostenlos, Lebensmittel gibt es für alle − zusätzlich angeboten werden Arzttermine, psychologische, juristische Betreuung und Unterstützung bei der Jobsuche. Einen Platz bekommt man erst nach individuellen Gesprächen mit den Organisator*innen. Dann kann man bis zu 3 Monate kostenfrei hier leben. In der Unterkunft von »KyivPride« können LGBTQ-Personen für bis zu 2 Wochen unterkommen.
»Transpersonen sind besonders vulnerabel« – Nika Wenhelowska, Sozialarbeiterin für die Organisation »MOD Partner« in Odessa
In der Schwarzmeerstadt Odessa eröffnete im August die Jugendorganisation »MOD Partner«
»Viele Menschen kommen zu uns aus dem umkämpften Charkiw und der besetzten Region Cherson«, erzählt die »MOD Partner«-Sozialarbeiterin Nika Wenhelowska. »Kriegsflüchtlinge aus den östlichen Regionen haben es oft schwer bei uns, Transpersonen sind besonders vulnerabel.« Gleichzeitig kommen trotz des Kriegszustandes im Land und des geltenden Badeverbots an den Stränden Odessas weiterhin Leute zum Erholen in die Stadt.
Gemeinsam mit ihrem Kollegen bearbeitet Wenhelowska im Monat rund 100 Anfragen nach Unterstützung. Alle Anfragen betreffen aktuell Transitionen von männlich zu weiblich. Nur ein Trans-Mann bekomme jetzt entsprechend neue Papiere. Für diejenigen, die in der Ukraine neue Papiere als Mann erhalten, gilt dann auch die allgemeine Mobilisierung von Männern zwischen 18 und 60 Jahren. Da der einzige queere Club der Stadt wegen des Krieges aktuell geschlossen ist und mehrere Mitarbeiter als Soldaten an die Front gegangen sind, organisiert Wenhelowska in unregelmäßigen Abständen Trans-Online-Partys für mehr Austausch innerhalb der Community.
Im westukrainischen Lwiw haben sich die Organisator*innen der NGO »Fulcrum« derweil entschlossen, ihr festes LGBTQ-Shelter wieder zu schließen. »Wir bieten weiterhin individuelle finanzielle Unterstützung an für Leute, die hier für eine bestimmte Zeit eine Unterkunft benötigen«, erklärt Tymur Lewtschuk. Die 2 Hostel-ähnlichen Gruppenunterkünfte, die Fulcrum in den ersten 4 Kriegsmonaten unterhielt, hätten sich aber als nicht nachhaltig genug erwiesen.
Die ersten Räumlichkeiten hatten sie noch von einer queer-freundlichen Firma kostenlos bekommen. Rund 6 Wochen später mussten sie jedoch eine Wohnung dafür anmieten. »Damals waren die Mieten hier in Lwiw extrem gestiegen, für die Räume zahlten wir im Monat umgerechnet knapp 8.000 Euro, noch mal so viel für Strom und Wasser. Dazu kamen die Ausstattung, Lebensmittel. Das war zu viel.« Außerdem hätten viele queere Menschen den Westen der Ukraine schon wieder in Richtung Kyjiw oder weiter verlassen, weil sie den traditionell eher konservativen und queerfeindlicheren Westregionen der Ukraine nicht vertrauten.
Zusätzlich habe die Rund-um-Versorgung die Bewohner*innen passiv werden lassen. »Aber wir wollen sie ja unterstützen, ihre Probleme wie Jobsuche und Wohnsituation bald selbst lösen zu können«, so Lewtschuk. »Darum schwenken wir jetzt um von der Nothilfe hin zu nachhaltigeren Sprach- und Online-Bewerbungstrainings. Zum Empowerment also.«
Was bleibt nach dem Krieg?
Damit wollen sie auch den langfristigen Kriegsfolgen, die die Ukraine allmählich schon jetzt ereilen, zuvorkommen. »Die Leute sehen die echten Konsequenzen noch nicht. Noch sehen wir nur die Toten. Aber da kommt noch viel mehr: Wir erwarten eine riesige Wirtschaftskrise!«, betont Lewtschuks Kollegin Tetiana Kasian. »Die Wechselkurse gehen auseinander, die Preise steigen. Firmen schließen, weil Inhaber ins Ausland gehen oder ihre Gebäude zerstört wurden. Angriffe stören die Arbeit der öffentlichen Dienste. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, die Kriminalität wird das auch tun und ebenso die psychischen Probleme der Menschen.«
Und auch für die LGBTQ-Community selbst seien noch viele Schwierigkeiten zu erwarten, meint Lewtschuk: »Viele Aktivist*innen sind ins Ausland gegangen. Viele kommen sicher nicht wieder. Und wenn sie dann dort selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen, werden sie weniger Zeit und Kraft für die aktivistische Arbeit für Queers in der Ukraine haben. Viele andere Aktive werden mobilisiert oder gehen freiwillig an die Front. Einige von ihnen werden dort sterben. Wer wird dann eigentlich nach dem Krieg noch vor Ort sein, um die Community weiterzuentwickeln?«
Dazu komme, dass die Organisation »Fulcrum« aktuell zwar noch bis Jahresende Stipendien und Fördergelder bekomme. Neue Programme würden gerade entstehen, aber der Krieg zerstöre eben auch alle Planungssicherheit − für Geldgeber:innen und Organisationen. Für Kasian ist es schon jetzt »ein Privileg, überhaupt die Zukunft zu planen. Am Anfang konnten wir nicht einmal den nächsten Tag vorhersehen.« Entschlossen fügt sie hinzu: »Krieg ist ja an sich gegen Menschenrechte. Aber das heißt nicht, dass wir aufhören, für sie zu kämpfen!«
Selenskyjs überraschendes Signal
Dass sich das Engagement auszahlt, zeigte sich nun auch in Selenskyjs
Da jedoch gemäß der Verfassung »die Eheschließung auf der freien Zustimmung von Frau und Mann (Artikel 51)« basiere und diese während des Kriegszustandes nicht verändert werden darf, soll nun die Regierung immerhin ein Gesetz zur eingetragenen Partnerschaft erarbeiten. Und das, während das Land noch den russischen Angriffskrieg abwehren muss.
Am 23. Juli 2022, dem Tag, als die »KyivPride« wegen des Krieges nicht in der Ukraine stattfindet, sondern in Polen als eigener Block auf dem solidarischen Warschauer »Marsz Równości« (Marsch der Gleichheit) vertreten ist, tanzen auf dem Kontraktowa-Platz in Kyjiw-Podil trotzdem Regenbogen- und Ukraineflaggen – zusammen, für eine offene, freiheitliche Zukunft.
Dieser Text ist zuerst bei unserem Kooperationspartner Jádu erschienen, dem deutsch-tschechisch-slowakischen Onlinemagazin des Goethe-Instituts.
Titelbild: Viktor Pylypenko - copyright