Wir können die Zwei-Klassen-Medizin nicht abschaffen, aber reformieren
Die Private Krankenversicherung steht vor großen Herausforderungen. Diese 4 Ideen könnten sie für die Zukunft stärken.
Die Zweiteilung des deutschen Gesundheitssystems in Gesetzliche und Private Krankenversicherung (GKV und PKV) ist in den vergangenen Jahren zunehmend kritisiert worden. Befürworter eines solidarischen Gesundheitswesens bemängeln die »Zwei-Klassen-Medizin«, während überzeugte Marktliberale den »Systemwettbewerb« zwischen GKV und PKV für ineffizient halten.
Eine Abkehr vom dualen Versicherungssystem ist aber nicht von heute auf morgen umzusetzen – weil die PKV einige strukturelle Besonderheiten aufweist. Obwohl beide Versicherungssysteme eigentlich eine ähnliche Funktion im Gesundheitswesen haben, sind sie sehr unterschiedlich organisiert. Somit stehen sie auch vor unterschiedlichen Herausforderungen. Die wichtigsten Herausforderungen im Bereich der Privaten Krankenversicherungen sind:
- Wer versichert sich privat? Die Versichertenstruktur der PKV hat sich verändert.
- Geringe Zinsen fürs Alter: Die Altersrückstellungen, mit denen jüngere Versicherungsnehmer die steigenden Kosten im Alter finanzieren sollen, leiden unter den derzeit niedrigen Zinsen.
- Einbahnstraße für Ältere: Das PKV-Modell macht es älteren Versicherten fast unmöglich, den Anbieter zu wechseln.
- Fehlende Ausgabensteuerung: Krankheitskosten lassen sich nicht wirksam genug steuern.
Reformen der PKV werden oft als »Luxusproblem für Besserverdiener« betrachtet – ganz so einfach ist es jedoch nicht. Für derzeit fast 9 Millionen privat Versicherte in Deutschland ist die PKV ein bedeutender Zweig der sozialen Sicherung, der auf eine über 100-jährige Versicherungstradition zurückblickt.
1. Wer versichert sich privat?
Zu den privat Versicherten zählen neben
In der Vergangenheit hat der Gesetzgeber immer wieder in das Geschäftsmodell der PKV eingegriffen, um bestimmten Versichertengruppen einen angemessenen Gesundheitsschutz zu bieten. In den letzten Jahren sind so 3 unterschiedliche Sozialtarife entstanden: der Standard-, der Basis- und der Notlagentarif.
Der Standardtarif
Bis in die 1990er-Jahre hinein kam es häufiger vor, dass Menschen immer dann, wenn sie jung, gesund und einkommensstark waren, in die PKV wechselten, um später, wenn sich ihre wirtschaftliche oder gesundheitliche Situation verschlechtert hatte, wieder in die Solidargemeinschaft der GKV zurückzukehren. Diese als unsozial empfundene Praxis hat der Gesetzgeber unterbunden, indem er – zunächst nur für ältere privat Versicherte – die Rückkehrrechte in die GKV eingeschränkt hat. Eine Folge dieser Regelung war, dass in der PKV immer mehr ältere Menschen versichert waren. Weil diese sich die Beiträge der PKV zunehmend nicht mehr leisten konnten, wurde 1994 der sogenannte Standardtarif eingeführt, in dem sich ältere privat Versicherte weitgehend zu den Konditionen der GKV versichern können.
Der Basistarif
Der Trend zu einer durchmischten Versichertenstruktur dürfte sich in Zukunft noch verstärken,
Die PKV muss also in Zukunft häufiger auch solche Menschen weiterversichern, die nicht (oder nicht mehr) über hohe und sichere Einkommen verfügen oder überdurchschnittlich gesund sind. Um die hiermit verbundenen Risiken für die Versicherten abzumildern, wurde die PKV verpflichtet, einen Basistarif anzubieten.
Der Basistarif orientiert sich hinsichtlich des Leistungsumfangs an der GKV. Auch der monatlich zu zahlende Beitrag ist auf den GKV-Höchstbeitrag begrenzt (derzeit 665 Euro). Im Basistarif gilt ein sogenannter Kontrahierungszwang – das heißt, ein Unternehmen darf keinen Versicherten abweisen. Auch wenn ein Versicherter erhebliche Vorerkrankungen hat, gibt es im Basistarif weder Risikozuschläge noch Leistungsausschlüsse. Außerdem gelten verminderte Gebührensätze für die ärztliche und zahnärztliche Behandlung, sodass Ärzte für die gleichen Leistungen weniger Honorar verlangen dürfen als bei »normalen« privat Versicherten. Wenn ein Basistarif-Versicherter hilfebedürftig wird – zum Beispiel Hartz IV empfängt –, kann der Versicherungsbeitrag halbiert werden. In manchen Fällen übernimmt die öffentliche Hand die Beiträge sogar vollständig. Im Basistarif der PKV sind derzeit 29.400 Menschen (etwa 0,3% aller privat Versicherten) versichert, davon muss gut die Hälfte nur den halben Satz zahlen.
Der Notlagentarif
Seit 2013 gibt es ergänzend zum Standard- und Basistarif noch den sogenannten Notlagentarif. Das ist ein Sozialtarif für Versicherte mit Zahlungsschwierigkeiten, die aber keine staatliche Unterstützung beziehen. Versicherte werden in den Notlagentarif umgestellt, wenn sie längerfristig ihre Beiträge nicht bezahlen können. Im Notlagentarif werden keine neuen
Gemessen an der Gesamtzahl von derzeit 8,88 Millionen privat Versicherten ist die Zahl der Menschen im Standard-, Basis- und Notlagentarif noch immer relativ gering (ca. 2,2%). Allerdings sind die Zahlen in den vergangenen Jahren gestiegen und könnten sich angesichts wachsender sozialer Herausforderungen in Zukunft weiter erhöhen.
Die weitverbreitete Annahme, dass es sich bei den privat Versicherten ausschließlich um »Besserverdiener« handelt, ist so nicht haltbar. Eine Krankenversicherung, die gerade dann, wenn es den Menschen finanziell und gesundheitlich schlecht geht, nur noch eine akute Schmerz- und Notfallbehandlung ermöglicht, könnte in Zukunft erhebliche Akzeptanzprobleme bekommen. So werden möglicherweise auch einkommensstarke und jüngere Versicherte davon abgehalten, in die PKV zu wechseln.
2. Geringe Zinsen fürs Alter
Welche Beiträge die Versicherten zahlen müssen, ermitteln GKV und PKV unterschiedlich. In der GKV orientieren sich die Beiträge im Wesentlichen am Einkommen.
Um die im Alter üblicherweise steigenden Krankheitskosten finanzieren zu können,
Bei der Kalkulation der Beiträge ergibt sich nun folgendes Problem: Beim Abschluss eines neuen Vertrages weiß ein Versicherungsunternehmen noch nicht, wie hoch der tatsächlich erwirtschaftete Zinssatz in den kommenden Jahrzehnten sein wird. Daher muss mit einem kalkulatorischen Zinssatz gerechnet werden. Dieser drückt die Erwartung einer möglichen Verzinsung aus und sollte somit möglichst realistisch sein.
Nun halten jedoch die Zentralbanken die Zinsen seit einigen Jahren sehr niedrig. Für die Versicherer wird es immer schwieriger, die einst kalkulierten Zinsen tatsächlich zu erwirtschaften.
Es ist zu erwarten, dass die PKV bei anhaltenden Niedrigzinsen weitere Beitragserhöhungen vornehmen muss. Trotzdem wäre diese Entwicklung allein sicher noch nicht existenzgefährdend. Zum einen lassen sich die negativen Effekte niedriger Zinsen über lange Zeiträume strecken, zum anderen sind die vorhandenen Altersrückstellungen von 220 Milliarden Euro durchaus geeignet, die Beiträge der älteren Versicherten auch weiterhin zu senken. Die niedrigen Zinsen können aber vor allem für diejenigen privat Versicherten zu Problemen führen, die im Alter nicht über hohe Einkommen oder Vermögen verfügen.
3. Einbahnstraße für Ältere
Von einer Gesetzlichen Krankenversicherung in die andere zu wechseln, ist immer möglich. Bei den Privaten Krankenversicherungen sieht das anders aus: Älteren Kunden bleibt oft nur der Tarifwechsel innerhalb ihres bisherigen Unternehmens.
Um diesen Zusammenhang zu verstehen, muss man wissen, dass die privaten Versicherungsunternehmen jenseits des Standard-, Basis- und Notlagentarifs weiterhin ihre normalen Tarife anbieten, die jeweils individuell kalkuliert wurden: Günstig genug, um konkurrenzfähig zu bleiben – aber teuer genug, um Kostenrisiken für die Versicherung zu minimieren. Versicherer sprechen von Risikoäquivalenz. Das bedeutet, dass sich die Beiträge an Vorerkrankungen und dem Alter orientieren oder – im Fall von größeren Vorerkrankungen – bestimmte Leistungen vertraglich ausgeschlossen werden.
Für die Privatversicherer gilt in den normalen Tarifen Vertragsfreiheit – sie können also auch weiterhin Versicherungswillige ablehnen. Ist ein Vertrag aber einmal zustande gekommen, gelten zum Schutz der Versicherten einige sozialpolitische Regulierungen. So kann dem Versicherten nach Vertragsabschluss nicht mehr gekündigt werden. Auch dürfen die Versicherer die Beiträge nur noch für alle Versicherten eines Tarifkollektivs erhöhen, nicht aber bei einzelnen Versicherten, deren Gesundheitszustand sich verschlechtert hat.
Beim Versicherungswechsel nimmt das neue Versicherungsunternehmen eine eigene Risikobewertung vor. Weil der Kunde seit dem letzten Vertragsabschluss aber älter geworden ist, ergeben sich in der Regel höhere Beiträge. Das macht einen Wechsel unwirtschaftlich. Kommen außerdem neue Erkrankungen hinzu, wird es noch teurer. Im ungünstigsten Fall würden bestimmte Leistungen sogar ausgeschlossen oder der Vertragsabschluss ganz abgelehnt. Für viele ältere Versicherte kommt noch hinzu, dass sie ihre angesparten Altersrückstellungen
Angesichts des marktwirtschaftlichen Charakters der PKV scheint es paradox, dass ausgerechnet die privat Versicherten schlechte Serviceleistungen, hohe Verwaltungskosten oder mangelnde Kundennähe hinnehmen müssen und in solchen Fällen nicht zu einem anderen Unternehmen wechseln können. Gerade der Teil der Bevölkerung, der über echte Wahlfreiheiten zwischen den Versicherungssystemen verfügt (das sind vor allem abhängig Beschäftigte mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze), dürfte kaum bereit sein, sich ein ganzes Versichertenleben an ein Unternehmen zu binden. Damit ist die PKV aber für viele Menschen zunehmend unattraktiv. Dies gilt im Systemwettbewerb mit der GKV vor allem für gut verdienende Versicherte mit Kindern, da diese – anders als in der PKV – in der GKV beitragsfrei mitversichert werden können.
4. Die fehlende Ausgabensteuerung
Auf der Ausgabenseite haben GKV und PKV zunächst ähnliche Herausforderungen zu bewältigen. Entwicklungen wie zum Beispiel der demographische Wandel oder der medizinisch-technische Fortschritt betreffen grundsätzlich beide Systeme.
Dennoch gibt es einige wichtige Unterschiede, die vor allem der PKV die Kontrolle ihrer Ausgaben erschweren. Wenn ein Privatpatient zum Arzt geht, zahlt seine Versicherung für alle Behandlungen,
Hierbei gilt das sogenannte Kostenerstattungsprinzip: Private Versicherer schließen nur Verträge mit ihren Versicherungsnehmern ab, nicht mit den Ärzten. Der Vorteil für den Arzt liegt darin, dass alle erbrachten medizinischen Leistungen auch entsprechend vergütet werden. Diese Regelung macht die PKV für viele Versicherte attraktiver. Allerdings birgt sie auch ein erhebliches Kostenrisiko. Die Deutschen werden immer älter, also werden häufigere Behandlungen nötig. Auch der medizinisch-technische Fortschritt bringt oftmals teurere Behandlungen auf den Markt. Diese beiden Faktoren setzen ein nicht budgetiertes System unter Druck. Außerdem ist mancher Arzt geneigt, auch Behandlungen durchzuführen, die medizinisch unnötig oder von zweifelhaftem Nutzen sind, wenn er weiß, dass der privat Versicherte in jedem Fall zahlen wird.
Die PKV hat kaum einen Einfluss auf das Verhalten der Ärzte, daher bleiben ihnen zur Ausgabensteuerung nur die eigenen Versicherten. Sogenannte Selbstbehalttarife und Beitragsrückerstattungen setzen beispielsweise einen Anreiz, medizinische Leistungen bis zu einer gewissen Höhe selbst zu bezahlen und diese nicht (unnötig) in Anspruch zu nehmen. Dies kann jedoch auch dazu führen, dass Krankheiten verschleppt werden und später deutlich höhere Behandlungskosten entstehen. Darüber hinaus könnten Versicherte den Beitragserhöhungen ausweichen, indem sie in günstigere Tarife mit einem geringeren Sicherungsniveau wechseln.
In all diesen Fällen werden jedoch nicht die Ausgaben verringert, sondern lediglich die Kosten auf diejenigen Versicherten übertragen, die tatsächlich krank sind und der medizinischen Hilfe bedürfen. Dass die Patienten darüber hinaus zum wirksamen Kostenkontrolleur ärztlicher Leistungen gemacht werden, ist schon aufgrund der für die Arzt-Patient-Beziehung typischen
Für den wohlhabenden Teil der privat Versicherten mögen die steigenden Kosten kein Problem darstellen. Allerdings besteht die Gefahr, dass in Zukunft immer mehr Menschen ihren Versicherungsschutz gerade dann reduzieren müssen, wenn sie ihn am dringendsten benötigen.
So kann eine behutsame Reform aussehen
Es deuten sich bei der PKV also Herausforderungen an, um die sich die Politik kümmern sollte. Weder aus solidarischer noch aus wettbewerblicher Perspektive erscheint es sinnvoll, die duale Versicherungsstruktur aufrechtzuerhalten. Trotzdem lässt sich die PKV aus folgenden Gründen nicht einfach abschaffen:
- Soziale Verantwortung: Die letzten Regierungen haben über Parteigrenzen hinweg an der dualen Versicherungsstruktur festgehalten. Der PKV wurde dabei die Aufgabe zugewiesen, für einen bestimmten Personenkreis das Krankheitsrisiko in lebenslanger Perspektive abzusichern. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden den Privatversicherern umfangreiche sozialpolitische Regulierungen auferlegt. Auch wenn es sicher kein Recht gibt, dass »angestammte« Geschäftsfelder für alle Zeiten geschützt bleiben, müssen sich die Versicherer darauf verlassen können, dass sie den sozialen Gestaltungsauftrag – auch im Sinne der ihnen anvertrauten Versicherten – erfüllen können.
- Verfassungsrechtliche Vorgaben: Gegen radikale Lösungen sprechen auch verfassungsrechtliche Argumente, die sich zum Beispiel aus dem Eigentumsrecht (Altersrückstellungen) oder der
Es sprechen also gute Gründe für eine eher moderate, auf den Ausgleich verschiedener Interessen abzielende Weiterentwicklung. Die folgenden Vorschläge sind mögliche Bausteine einer solchen Weiterentwicklung der PKV:
- Wer versichert sich privat? Die Möglichkeit, sich allein aufgrund seines Berufsstatus privat zu versichern, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Wechseloption in die PKV sollte daher ausschließlich an die Einkommenshöhe gekoppelt werden. Das grundsätzliche Problem, dass auch sehr gut verdienende Menschen arbeitslos werden können oder im Laufe ihres Lebens Einkommenseinbußen erleiden, bleibt somit zwar bestehen. Allerdings dürfte sich die Zahl der Versicherten, die ihre Beiträge nicht mehr bezahlen können, in Zukunft deutlich reduzieren. Zur Absicherung derjenigen Beamten, deren Besoldung unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt, müsste es der GKV erlaubt werden, beihilfekonforme Krankenversicherungen anzubieten.
- Geringe Zinsen fürs Alter: Die allgemeine Zinsentwicklung können weder die Versicherungen noch die Bundesregierung beeinflussen. Die derzeitigen
- Einbahnstraße für Ältere: Um älteren Versicherten den Wechsel zwischen verschiedenen PKV-Unternehmen zu ermöglichen, müsste der Gesetzgeber aktiv werden und die PKV einige ihrer Grundsätze aufgeben. Dieses Ziel lässt sich nur erreichen, wenn die PKV-Unternehmen zum Vertragsabschluss gezwungen und individuelle Risikobewertungen abgeschafft werden. Jeder Versicherte eines Unternehmens würde dann eine (unternehmens-)einheitliche Kopfpauschale bezahlen. Zusätzlich müsste in diesem Fall ein Finanzausgleich zwischen allen PKV-Unternehmen verhindern, dass ein einzelnes Unternehmen mit vielen Risikopatienten wirtschaftlich in Schieflage gerät.
- Fehlende Ausgabensteuerung: Um das Ausgabenproblem zu minimieren, könnten im ersten Schritt die Vergütungssysteme für ärztliche Leistungen zwischen den beiden Versicherungssystemen angeglichen werden. Hierbei sind jedoch nicht nur die Interessen der Versicherten und der Versicherungsunternehmen zu berücksichtigen, sondern auch die berechtigten Anliegen der Ärzte, für ihre Leistungen eine angemessene Vergütung zu erhalten. Eine weitere Möglichkeit zur Kostenkontrolle bestünde darin, den gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen Kooperationsmöglichkeiten bei Vertragsabschlüssen mit den Leistungsanbietern zu ermöglichen. Dies würde die PKV zwar rechtlich und organisatorisch näher an die GKV heranrücken, allerdings könnte sie hiermit auch ihre Verhandlungsposition gegenüber den Ärzten stärken.
Das deutsche Gesundheitssystem ist zu komplex, die Versorgungsstrukturen zu verflochten und die Interessen der Akteure zu vielfältig, als dass einfache Antworten den sozialpolitischen Herausforderungen der Zukunft gerecht werden könnten. Die Vorschläge zielen daher nicht auf einen radikalen Umbau der PKV, sondern auf die behutsame Annäherung der beiden Systeme ab.
Titelbild: Techniker Krankenkasse - copyright