Warum dir dein Ego wichtiger ist als die Wahrheit
Dein Gehirn funktioniert wie ein Türsteher: Fakten, die dir nicht passen, bleiben draußen. So öffnest du das Hintertürchen.
Wer hat die Glühbirne erfunden? Was, wenn wir dir erzählen, dass es nicht Thomas Edison war,
»Ok, wieder was gelernt«, denkst du vielleicht mit einem mehr oder minder gleichgültigen Schulterzucken oder gar der Hoffnung, mit dem neuen Wissen
Wie glaubwürdig findest du im Vergleich dazu folgende 2 Aussagen:
- Migranten sind gut für die Gesellschaft, weil sie durchschnittlich unternehmerischer sind als der Rest der Bevölkerung.
- Migranten sind schlecht für die Gesellschaft, weil ein Großteil geringer ausgebildet ist und damit im starken Wettbewerb zum wirtschaftlich schwächeren Anteil der heimischen Bevölkerung steht.
Bestimmt hast du dich in Sekundenschnelle entschieden, welche Aussage du glaubwürdiger findest – und lehnst gleichzeitig die andere vehement ab. Die Entscheidung hängt von deiner politischen Einstellung hinsichtlich Migration ab.
Bestimmte Informationen nehmen wir einfacher an als andere. Der entscheidende Faktor dabei sind Emotionen. Ob Napoléon klein oder groß war, ist keine emotionale Tatsache. Ob wir Migration eher als Chance oder Gefahr sehen, hat allerdings viel mit unserer Identität zu tun. Wird diese
Ein Thema zum Teil der Identität von Wählern, Konsumenten oder Menschen zu machen, ist eine starke Waffe. Es kann gesellschaftliche Diskurse nicht nur erschweren, sondern unmöglich machen. Denn jedes Gegenargument führt lediglich dazu, dass sich die eigene Position noch stärker festsetzt.
Napoléon ist weniger emotional als Migration
Die Situation kennen wir alle: Dein Gegenüber scheint die Welt
»Vergiss nicht, dass es die erste und wichtigste Aufgabe unseres Gehirns ist, uns zu schützen.« – Jonas T. Kaplan, Neurowissenschaftler
Das sehen wir auch im Gehirn. Je stärker wir uns gegen Argumente zur Wehr setzen, die unsere Identität bedrohen, desto aktiver sind Gehirnregionen, die
Auch wenn wir im Eingangsbeispiel für keine der beiden Aussagen über Migranten Daten und Beweise geliefert haben, ist es vermutlich einfach, für beide eben solche zu finden. Deine Reaktion hängt aber wahrscheinlich zu einem großen Teil von deiner bisherigen Einstellung ab. Siehst du Migration als etwas grundsätzlich Positives, zweifelst du eher die Aussage an, die mögliche negative Folgen von Migration beschreibt – und umgekehrt.
Das Thema ist längst nicht mehr nur emotional, sondern die persönliche Haltung dazu ist Teil der eigenen Identität geworden und trennt zwischen politischen Grundhaltungen, zwischen progressiv und konservativ. Kommen dann neue Fakten bei uns an, die mit unseren Überzeugungen kollidieren, behandeln wir sie sehr unterschiedlich, um unser Weltbild und unsere eigene Identität aufrechtzuerhalten.
Das tun wir, ohne darüber nachzudenken. Unsere Reaktionen – die emotionalen eingeschlossen – auf Positionen, die unsere Identität ins Wanken zu bringen drohen, sind automatisch. Dabei nutzen wir verschiedene Taktiken.
Taktik 1: Rosinen raussuchen
Viele Menschen
»Wenn deine tiefsten Überzeugungen durch ihnen widersprechende Beweise hinterfragt werden, verstärkt das deinen Glauben an sie noch mehr.« – David McRaney, Autor und Journalist
Wie stark wir uns bei Informationen die »Rosinen rauspicken«, die ins eigene Weltbild passen,
Übertragen auf unseren Medienkonsum sind wir also keineswegs objektive Informations-Verarbeiter. Wenn Journalisten
Taktik 2: »Aktive Informations-Vermeidung«
Die beste Verteidigungsstrategie ist es, sich selbst nicht in Situationen zu bringen, in denen man sich verteidigen muss. Genauso ist es einfacher, einen großen Bogen um »identitätsgefährdende« Informationen zu machen. Wir tendieren zum »Vogel-Strauß-Verhalten«.
Wir wollen lieber wissen, wie schlau wir sind – statt wie dumm wir sind.
Der beginnt bei unserem Selbstbild, das wir zu schützen versuchen. 2011 ließen Wissenschaftler
Das kann weitreichendere Folgen haben, wenn es nicht um Intelligenz und Aussehen geht,
Gleiches gilt für finanzielle und unternehmerische Entscheidungen. Investoren vermeiden es, ihr Portfolio anzuschauen, wenn sie wissen,
Beide Taktiken – die Rosinen-Pickerei und die Informationsvermeidung – erhöhen Polarisierung. Sie sorgen dafür, dass wir nach der Auseinandersetzung mit einem Thema – sei es in einer Diskussion oder beim Medienkonsum – noch stärker vom eigenen Standpunkt überzeugt sind.
Ist das biologisch gesehen sinnvoll? Oder hat das Immunsystem unseres Gehirns bei der Bekämpfung »fremder Ideen« über die eigenen Stränge geschlagen?
Die Balance des Immunsystems
Das Verhalten, das wir in Studien und im echten Leben beobachten können, verdeutlicht, wie stark sich unser Gehirn gegen Fakten und Ideen verteidigt, die mit unserer Identität kollidieren. So abwegig es vielleicht scheinen mag, erfüllt auch dieses Immunsystem aber mindestens 2 wichtige Funktionen.
Erstens wäre es schlecht, wenn wir bei jedem Gegenargument, jedem neuen Beweis unsere eigenen Ideen direkt über Bord werfen würden. Vor allem dann, wenn diese Ideen Teil unserer Identität und somit grundlegend für unser Leben sind. Egal ob es um unser eigenes Aussehen und unsere Selbstwertschätzung oder das Wohl der Menschheit geht.
Zweitens – und damit verbunden – stehen diese Ideen nicht nur für unsere eigene Identität, sondern signalisieren Gruppenzugehörigkeiten, die wir nicht gefährden wollen. Wenn wir
»Wir wissen, was wir jetzt sind, aber nicht, was wir vielleicht sein werden.« – Shakespeare, Hamlet
Das bringt uns zurück zur Eingangsfrage. Denn eine solche Gruppe kann neben Familie, Glaubensgemeinschaft, Sportverein, Unternehmen und anderen auch eine politische Partei sein. In der Psychologie wird darum auch von
Wenn unser Immunsystem überaktiv ist, greift es den eigenen Körper an. Gleiches gilt für das Immunsystem, das unsere Identität verteidigt. Wenn es dauerhaft aktiv ist, gefährdet es ebenfalls unser Wohlergehen, weil wir Hinweise auf zukünftige Gefahren und Nachteile ausblenden. Sei es die eigene Gesundheit betreffend, wenn wir nicht zum Arzt gehen, obwohl unser Körper es uns signalisiert. Oder gesellschaftliche Gefahren und Herausforderungen betreffend, die politisiert wurden. Hier ist neben Migration der Klimawandel ein prominentes Beispiel.
Die Frage ist also: Gibt es Medikamente gegen das überaktive Immunsystem der eigenen Identität?
Medikamente gegen das überaktive Immunsystem
Ja, die gibt es. Eine Auswahl:
- Grafiken statt Text
Statt ein Argument in Textform zu präsentieren, lohnt es sich, die Informationen grafisch darzustellen. Das - Wer hat’s gesagt?
Es macht einen Unterschied, ob sich Angela Merkel, Horst Seehofer oder Anton Hofreiter zur Migrationspolitik äußern. Korrekturen von Falschinformationen funktionieren am besten, wenn sie vom Parteigenossen kommen. Das haben amerikanische Wissenschaftler zum Beispiel für Falschinformationen von Trump untersucht. Werden diese von einem republikanischen Kongressmitglied widerlegt, - Wie ist es gesagt worden?
Neben der Quelle spielt auch das sogenannten »Framing«, also die sprachliche Einrahmung eines Arguments, eine wichtige Rolle: Unterschiedliche Formulierungen vom gleichen Inhalt können unser Verhalten unterschiedlich beeinflussen. So macht es zum Beispiel für die Akzeptanz von Maßnahmen gegen den Klimawandel einen Unterschied, - Blickwinkel ändern
Ein Gegenmittel, das im Alltag nicht immer verfügbar ist, aber sehr wirksam sein kann, sind Rollenspiele. Sei es in Schulen, an Universitäten oder in anderen Gruppensituationen. Die Rollen zu tauschen und so aus der Sicht des »Anderen« für die Gegenposition zu argumentieren, soll Einsicht und Nachsicht fördern.
Es gibt noch mehr Grund zur Hoffnung. Menschen haben ein unterschiedlich starkes Immunsystem – das gilt auch für das Abwehrsystem, das unsere Identität schützt. Menschen, die einen
Können wir Leidenschaft für eine Idee haben, ohne uns gleichzeitig gegen Fakten zu immunisieren?
»Intellektuelle Demut« geht einher mit Offenheit, Neugier, einer höheren Toleranz für Zweideutigkeit und geringem Dogmatismus. Menschen mit einem hohen Grad dieser Demut sind sich weniger sicher, dass
Die vielleicht beste Erkenntnis dieses noch jungen Forschungszweigs: Vieles deutet darauf hin, dass wir intellektuelle Demut und Aufgeschlossenheit fördern
Dies ist der dritte Text von uns beiden, indem wir uns »kritisch mit dem kritischen Denken« auseinandersetzen – und dabei als Neurowissenschaftler den Einfluss unseres Gehirns auf (politische) Debatten und Entscheidungen untersuchen.
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Kritischen Denken!
Mit Illustrationen von Robin Schüttert & Aelfleda Clackson für Perspective Daily