Fasst mich an!
Hungrig, durstig, müde – wir meinen stets zu wissen, was uns fehlt. Ein Zeichen, das uns vor »Berührungsmangel« warnt, gibt es aber nicht. Dabei ist Körperkontakt lebenswichtig. (Artikel aus dem Jahr 2018)
Stelle dir vor, du gehst zum Arzt. Seit ein paar Wochen fühlst du dich nicht wohl, kannst dir aber nicht erklären, warum. Die Symptome sind diffus und fügen sich zu keinem klaren Bild zusammen: Du bist erschöpft, latent gestresst, ein bisschen dünnhäutig, und fühlst dich irgendwie … verloren. Die Hausärztin macht verschiedene Routinetests, stellt dir ein paar Fragen und kommt zu dem Schluss: »Sie leiden an Berührungsmangel.« »Wie bitte?«, rutscht es dir heraus.
Zugegeben, dass deine Ärztin eine solche Diagnose stellt, ist eher unwahrscheinlich. So einfach wie eine Grippe ist ein Berührungsdefizit leider nicht erkennbar. Dennoch wurde unserer Gesellschaft als Ganzes in den letzten Jahren immer wieder »Berührungsarmut«
Dabei sind Berührungen kein »nettes Extra«: Der Haptikforscher und Psychologe
Die Biologie der Berührung
Berührungen sind ein »Lebensmittel«.
Martin Grunwald und seine Kollegen vermuten, dass zu wenig Nähe als Säugling und Kleinkind zu einer Störung des Körperschemas führt. Das Körperschema ist – grob zusammengefasst – unser Bewusstsein über die eigenen
Auch auf Erwachsene wirkt sich Berührung unmittelbar aus: Sie senkt die Herzfrequenz sowie den Blutdruck und bremst die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, dafür fluten die Hormone
Die wahre Körpersprache
Zusätzlich hat Berührung vor allem zwischenmenschliche Funktionen: Martin Grunwald erklärt, dass die emotionale und kommunikative Funktion von Berührung bei starken Gefühlen deutlich wird. So reagieren wir zum Beispiel auf einer Beerdigung oder nach der Geburt eines Kindes instinktiv mit einer Umarmung, um Mitgefühl oder Mitfreude zu transportieren.
In einer Studie fanden Wissenschaftler heraus, dass Menschen in der Lage sind, 8 unterschiedliche Gefühle allein
»Halten und Gehaltenwerden«
Bereits kurzer, beiläufiger Kontakt – eine ritualisierte Umarmung zur Begrüßung oder das Streifen des Armes – kann ein Gefühl der Verbundenheit und der Sympathie hervorrufen und unser Verhalten beeinflussen. Restaurantgäste geben sogar mehr Trinkgeld, wenn sie vorher von der Kellnerin kurz an der Hand oder
Die positiven Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unseren Gefühlshaushalt stellen sich aber erst durch Berührungen mit einer anderen Qualität ein. Die Körpertherapeutin
Wir Unberührten?
Aber wie können wir feststellen, dass Berührung in unserem Alltag zu kurz kommt? So könnte die Checkliste deiner Ärztin aussehen:
- »Wie viel sind Sie digital unterwegs?«
Das viel beschworene Schreckgespenst Digitalisierung trage zu einer Berührungsverarmung bei, sagt Martin Grunwald. In Beziehungen gelten digitale Medien – ab einem gewissen Nutzungsgrad – schon lange als - »Ist Ihnen schön auszusehen wichtiger, als Schönes zu spüren?«
Die Werbeindustrie und ihre - »Verwechseln Sie Ihre Lust auf Sex mit Ihrem Bedürfnis nach Nähe?«
Auch wenn sexueller Kontakt natürlich auf Berührung und Nähe basiert: Unser Bedürfnis nach vertrauensvoller Nähe ist ein komplett eigener Verhaltens- und Bedürfniskomplex.»Wir haben Angst zu spüren, wie sich unser Gegenüber anfühlt – und wir uns für ihn.«
Martin Grunwald merkt an, dass es mittlerweile einfacher sei, an Sex als an diese andere Art der Nähe zu kommen. Zwischen Händeschütteln oder der höflichen Umarmung auf der einen und Lustbefriedigung auf der anderen Seite gebe es wenig zu holen. - »Leben Sie allein?«
In 41% der deutschen Haushalte lebte im Jahr 2017 - »Empfinden Sie Berührung als bedrohlich oder belastend?«
Über dem Thema Körperkontakt schwebt schnell auch die Angst vor Übergriffen und sexualisierter Berührung. Körpertherapeutin Gabriele Riess sieht hier ein großes Dilemma: Das Bedürfnis nach Nähe wird von der – nachvollziehbaren – Angst vor Übergriffen überschattet.Zwischen Political Correctness auf der einen und dem Wissen über die Kriminalstatistiken auf der anderen Seite entsteht eine große Verunsicherung. Man ist lieber vorsichtig.
- »Wie haben Ihre Eltern Ihnen Nähe geschenkt?«
Wenn Eltern ohne viel körperliche Zuwendung aufgewachsen sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch ihren eigenen Kindern nicht ungezwungen Nähe schenken oder deren Bedürfnis danach erkennen. Der Schmerz durch soziale Zurückweisung ist
Die möglichen Ursachen für Berührungsdefizite sind also vielfältig. Wie sieht es mit Heilmitteln gegen »Berührungsmangel« aus?
Was wir von den Experten lernen können
Die Ängste vor Berührung und die alltäglichen Hindernisse können wir nicht einfach beiseiteschieben. Aber es ist ein Anfang, mehr über unser Bedürfnis nach Nähe zu lernen und darüber zu sprechen. So wie Gabriele Riess und Martin Grunwald, die völlig ungezwungen und geradeheraus über Körperkontakt reden, ohne jedes Zögern Wörter wie schmusen oder Nacken kraulen aussprechen. Zu einem entspannten Umgang mit dem Grundbedürfnis Nähe gehört aber auch, die eigenen Grenzen zu kommunizieren: Nicht nur klar »Ja«, sondern auch deutlich »Nein« sagen lernen.
Man muss sich das Verhalten von Kleinkindern in Erinnerung rufen, die sich gegenseitig ganz selbstverständlich anfassen, den anderen zu begreifen versuchen.
Die Körpertherapeutin betont, dass wir Berührungen fühlen können, ohne sie bewusst zu spüren. Die Voraussetzungen dafür, dass Berührung »spürbar wird«, sind Zeit und Vertrauen. Nur wenn wir uns erlauben, einfach beieinander zu sein und dem Gegenüber offen und ungeteilt Aufmerksamkeit zu schenken, entstehen Gelegenheiten zum Anlehnen und Festhalten. Nähe tanken geht nicht im Zwischendurch und Nebenbei.
Mit Illustrationen von Lucia Zamolo für Perspective Daily