Armutsproteste: »Es ist dieses Gefühl, dass da jetzt was nicht stimmt«
Politische Initiativen machen mobil und rufen zum Protest gegen die Energiepreise auf. Wir waren in 2 Städten dabei und haben mit denjenigen gesprochen, die ihrem Ärger Luft gemacht haben.
Es ist Samstag, der 22. Oktober 2022. Tausende Menschen sammeln sich in Düsseldorf am Haus des
Ein Bündnis linker Organisationen und Gruppen hatte unter dem Hashtag #Solidarischer Herbst zu Protesten in 6 deutschen
Es sollte ein breiter Schulterschluss für mehr Solidarität mit all denjenigen sein, die unter steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen leiden. Auch andere Bündnisse hatten in den Wochen zuvor zu Demos aufgerufen, darunter »#IchBinArmutsbetroffen« – ein Zusammenschluss armer Menschen, die für mehr Sichtbarkeit ihrer Lebenssituationen kämpfen. Aufgrund der vielen Proteste geistert in den Medien bereits der Begriff des »Wutwinters« umher.
Perspective Daily war bei Protesten in Düsseldorf und Berlin. Wir wollten wissen: Wer protestiert da eigentlich, was bewegt die Menschen und wie groß ist ihre Wut wirklich?
Außerdem haben wir mit dem Bewegungsforscher Andreas Zick gesprochen und erfahren, worauf es ankommt, damit die Proteste größer und sichtbarer werden als bisher.
»Solidarischer Herbst«: 24.000 protestieren für Millionen, die am Limit sind
Die Zahl der Demonstrierenden am 22. Oktober jedenfalls ist relativ klein. Bei den Protesten des »Solidarischen Herbstes«, zu dem Gruppen mit einem Mitgliedervolumen von mehreren Millionen Menschen aufgerufen haben, kommen in allen 6 Städten insgesamt 24.000 Teilnehmende
Kira glaubt: Jetzt passiert etwas!
27 Jahre, arbeitet als Intensivpflegerin, ver.di-Mitglied, Demo in Berlin
Durch die steigenden Preise bin ich betroffen, wie jeder andere auch. Noch dazu war die Coronapandemie einschneidend für uns. Ich habe auf einer der Coronaintensivstationen gearbeitet, was sehr anstrengend und frustrierend war. Wir wurden beklatscht, haben 2 Prämien bekommen und Ciao! Andererseits: Jetzt passiert etwas. Das Krankenhauspersonal wird selbstbewusst und steht für sich ein. Das ist längst überfällig. Ich glaube, in der Pandemie sind viele sehr wütend geworden, und mit den steigenden Preisen wird diese Wut noch größer. Auch in meinem Freundeskreis sind sie ein wichtiges Thema, auch die zu hohen Mieten. Manche sagen dann: »Puh, Urlaub kann ich mir nicht mehr leisten.« Gerade im Gesundheitssektor sind ja viele Berufsgruppen sehr schlecht bezahlt. Auch wenn ich da an Reinigungskräfte oder Therapeut:innen denke …
Von der Politik wünsche ich mir ein besseres Krisenmanagement. Damit meine ich, dass die Löhne adäquat angehoben werden, um die Inflation auszugleichen. Wir brauchen gleichzeitig auch Maßnahmen, um die Preise zu senken. Außerdem brauchen wir eine gerechte Verteilung in der Gesellschaft. Also, dass nicht wieder diejenigen zahlen, die eh schon wenig haben, sondern auch die, die jetzt gerade Profite machen. Zum Beispiel über eine
36 Jahre, Demo in Düsseldorf
Ich bin hier, weil es mir wichtig ist, dass es auch künftig für alle einen guten Lebensstandard in Deutschland gibt. Mich treffen die aktuellen Preissteigerungen besonders hart, weil ich
65 Jahre, Demo in Berlin
Ich bin hier, weil ich ein Zeichen setzen möchte, gegen die AfD – die für mich ganz furchtbar ist – und natürlich wegen der Krisen. Ich wünsche mir, dass unsere Regierung solidarischer ist mit Menschen, die nichts haben, und nicht nur die unterstützt, die eh schon viel Geld haben. Ich persönlich bin noch nicht betroffen, mich ängstigt die Situation noch nicht. Es macht mich aber unzufrieden, dass in dieser Energiekrise die kleinen Leute die Rechnungen bezahlen müssen und die Konzerne Gewinne bis zum Gehtnichtmehr einstreichen.
Es kann ja nicht sein, dass der Strompreis in die Höhe geht, obwohl genug Strom da ist. Da müsste man Gas- und Strompreis entkoppeln. Aber ich kann auch keine direkte Lösung finden. Das ist als Bürgerin auch nicht mein Job. Das sollten Regierung und Organisationen gemeinsam erarbeiten. Es ist eher dieses Gefühl, dass da jetzt etwas nicht stimmt. Ich verstehe nicht, warum wir uns im Vorfeld so abhängig davon gemacht haben. Ich wünsche mir mehr Gemeinschaft und Solidarität.
Silke und Max sind aus Solidarität da
Eltern von 2 Kindern, Angestellte im Jobcenter, Demo in Düsseldorf
Wir sind wegen der steigenden Preise hier. Wir selbst sind als Doppelverdiener nicht akut von Armut bedroht, wir haben zum Glück noch genug Puffer. Es geht uns um Solidarität, dass man jetzt an alle denkt. Es gibt viele, für die es knapp wird. Wir hatten gestern eine Freundin da, die sagte, dass sie jetzt 40 Euro mehr für den Einkauf zahle und es am Monatsende knapp werde. Wir hoffen, dass man sieht: Es gibt viele Menschen, die hierfür auf die Straße gehen. Es müssen einfach viele sein, damit es gesehen wird. Wir wollen jetzt da sein und Präsenz zeigen.
200 Armutsbetroffene demonstrieren vor dem Kanzleramt
Seit Mai macht der Hashtag »#IchbinArmutsbetroffen« den Alltag von armen Menschen sichtbar. »Sozial schwach« – wie sie oft bezeichnet werden – sind sie übrigens nicht. Online halten sie zusammen,
200 Betroffene schaffen den Sprung von Twitter auf die Straße: Sie versammeln sich am Samstag, dem 15. Oktober, vor dem Bundeskanzleramt in Berlin, um für mehr soziale Sicherheit und mehr Geld zu demonstrieren – aber sie bleiben eher unter sich. Ein paar Politiker:innen schauen vorbei, breite Solidarität aus der Bevölkerung gibt es nicht. Die Demonstrierenden halten Schilder hoch mit Aufschriften »Soforthilfe für Arme!«, »Unsere Kraft ist euer Profit! Löhne rauf« oder »Wir brauchen gesundes Essen! Armut abschaffen!«. Wir haben die Demonstrierenden gefragt, was sie von der Regierung fordern und warum sie es notwendig finden, in der Öffentlichkeit laut zu werden.
Maximilian kann sich Heizen nicht mehr leisten
24, aus Brandenburg, studiert in Berlin
Während der Pandemie bin ich sehr krank geworden und habe meinen Job verloren. Dadurch bin ich in eine finanzielle Notlage geraten. Ich musste einen KfW-Studienkredit aufnehmen.
BAföG reicht nicht für Wohnung und Essen. Ich zahle mit meiner Freundin 900 Euro Miete warm. Das ist der aktuelle Stand. Ich heize gerade nicht und ich werde auch nicht heizen, weil ich es mir nicht leisten kann. Die Gaspreisbremse reicht mir persönlich nicht. Ehrlich gesagt habe ich Angst, dass ich keine Entlastung vom Staat kriege. Denn ich weiß nicht, wie ich die Nachzahlungen bezahlen könnte. Jetzt gerade spare ich an allen möglichen Ecken.
Ich bin der Meinung, dass das Bürgergeld nicht reicht und nicht die Lösung für alle Betroffenen ist. Stattdessen sollte es ein bedingungsloses Grundeinkommen geben. Aktuell lebe ich von Geldern von Freunden und freue mich, dass unser Supermarkt Lebensmittel ab und zu kostenlos ausgibt.
Wir stehen ja hier vor dem Kanzleramt und ich würde mir wünschen, dass wir Betroffenen gehört werden, dass wir auch mal zum Gespräch eingeladen werden, um einfach direkt unsere Perspektive zu schildern. Also, wenn Olaf mal zuhört, wäre das schön.
51, Künstlerin aus Stuttgart
Es ist wichtig, das Thema sichtbarer zu machen. Seit 10 Jahren werden wir in Serien und Scripted-Reality-Formaten auf eine Weise dargestellt, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun hat. Das ist Diffamierung. In Deutschland gehören alle möglichen Menschen zu den Armutsbetroffenen, auch viel erodierte Mittelschicht, Menschen, die Jahrzehnte gearbeitet haben.
Ich habe damals auch meinen Job verloren, wurde rausgemobbt. Ich hatte noch eine Abfindung bekommen, mit der ich Zeit kaufen konnte, aber als ich dann in Hartz IV gerutscht bin, brach die Hölle los. Armut ist auch nicht gleich Schicksal oder Krankheit, sondern das sind konkrete ökonomische Weichenstellungen, die einen hart treffen und praktisch immer mehr in die Enge treiben.
Ich will keine Rechten in der Politik. Ich will stattdessen, dass die Armut im Land gesehen wird. Ich wüsste gerne mal, was für ein Menschenbild die Politiker von uns haben, wenn ich keine Wohnung haben kann, sondern nur ein kleines Zimmer, wenn ich mich nicht ernähren kann, obwohl ich 22 Jahre gearbeitet habe. Wie können sie Teile der eigenen Bevölkerung einfach abschreiben?
Die Bewegung stünde erst am Anfang, sagt dieser Sozialpsychologe
Auch wenn die Zahl der Protestierenden vor dem Kanzleramt klein war, so haben viele hinterher von einem großen Erfolg gesprochen. Für sie war es etwas Besonderes, es überhaupt hierher geschafft zu haben, trotz Kosten für Anreise sowie Schilder oder Krankheiten, die das Kommen erschwerten. Warum aber ist die Zahl der Protestierenden insgesamt so gering, auch beim »Solidarischen Herbst« – während am gleichen Tag in Berlin ein Vielfaches an Demonstrierenden ihre Solidarität mit den Protesten im Iran ausdrückte?
Wie kommt es, dass sich so wenige Menschen den Protesten anschließen, bei denen es um zentrale Gerechtigkeits- und Existenzfragen für viele Menschen geht? Schließlich ist die Zahl der Menschen, die laut Umfragen gerade finanziell leiden, groß. Schätzungen des Sparkassenverbandes zufolge werden 60% der Haushalte wegen der drastischen Preissteigerungen in absehbarer Zeit nichts mehr von ihrem Einkommen zur Seite legen können. Das bedeutet, der Alltag ist so teuer geworden, dass am Monatsende auf dem Konto eine Null oder sogar ein Minus steht. Wer keine saftige Gehaltserhöhung bekommt, verliert durch die Teuerung, die im September 2022 bei 10% lag, de facto Einkommen.
Demgegenüber stehen Milliardengewinne im Energiesektor und anderen Branchen. Auch Vermögen ist in Deutschland ungleich verteilt, und zwar stärker als lange angenommen. Während die ärmeren 40% der Bevölkerung so gut wie nichts haben, besaß das reichste 1% der deutschen Bevölkerung nach einer Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis 2020
Es gäbe also genug Gründe für die breite Bevölkerung, auf die Straße zu gehen. Warum passiert das nicht?
Sozialpsychologe und Bewegungsforscher Andreas Zick vom Forschungsinstitut
Andreas Zick ist Mitautor der sogenannten
Die rechten
»Es braucht eine gemeinsame Mobilisierungsstrategie«
Sozialproteste bräuchten laut Andreas Zick nicht nur eine gemeinsame Mobilisierungsstrategie, eine gute digitale und analoge Vernetzung und Kommunikation, sondern: »Sie brauchen Durchhaltevermögen und ein radikales alternatives Modell von Gerechtigkeit, das von anderen als innovativ wahrgenommen wird.«
Es gehe darum, Zusammengehörigkeit über eine gemeinsame Identität herzustellen und bei allen Unterschieden ein starkes gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Zugleich müsse man sich einerseits von der Politik abgrenzen, die vorgebe, ähnliche Ziele zu haben, und von denjenigen, die behaupteten, »die wahren Interessen ›des Volkes‹ zu vertreten«. Also klare Abgrenzung gegen Extremrechts,
Von diesen Faktoren hänge nun der Erfolg der weiteren Proteste ab. »Kann unsere individualisierte Gesellschaft vielleicht keine Solidarität mehr aufbringen?«, dächten jetzt vielleicht viele. Doch Andreas Zick beruhigt: »Sie kann es, angesichts der Solidarität, die wir bei Katastrophen sehen, angesichts dessen, was wir an Hilfe für Geflüchtete gesehen haben, angesichts der frühen Phase der Pandemie in 2020, wo es hochgradige solidarische Unterstützung gab.« Jetzt gehe es also darum, diese grundsätzlich in der Gesellschaft verankerte Solidarität für Armutsgefährdete und -betroffene zu wecken.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily