Grundeinkommen: Realitätscheck für die Utopie
In den USA formiert sich die weltweit größte Bewegung für ein Grundeinkommen. In Versuchen überall im Land, vor allem in Kalifornien, bekommen Kreative, Schwarze Mütter oder Pflegekinder Geld überwiesen. Finanziert wird das in großem Stil vom Silicon Valley.
Als Chris Watts die ersten tausend Dollar auf seinem Konto sieht, für die er keinen Finger krumm gemacht hat, greift er zum Handy und kauft online Lebensmittel für seine Mutter. Danach besorgt er sich einen Laptop, den ersten seit über einem Jahrzehnt. Sowohl die Schutzhülle als auch den Rechner hat Watts mit bunten Ölfarben bemalt. Fast alles in seinem WG-Zimmer im Süden San Franciscos, vom Mülleimer bis zur stoffbehangenen Decke, ist mit Hieroglyphen und astrologischen Symbolen bepinselt. Bücher über organische Architektur stehen neben Statuen aus Treibholz.
»Ich würde so gern Häuser entwerfen, die in Material und Bauweise
Watts hat nichts gegen seine Arbeit, er mag es, Dinge zu bauen. Wenn er jedoch könnte, würde er sich zu 100% auf Kunst und Architektur konzentrieren. »Stell dir vor, wie viel Kunst geschaffen, wie viele Erfindungen erdacht würden, wenn alle Menschen ein Grundeinkommen bekämen, so wie ich. Man schafft Dinge, weil man sie erschaffen will, nicht weil man es muss.«
Watts ist einer von 190 Künstler:innen, die zwischen 2021 und 2022 über ein
Finanziert wird das Projekt in der ersten Phase aus dem Haushalt der Stadt. San Franciscos Bürgermeisterin London Breed ist Mitglied der Initiative Mayors for a Guaranteed Income, eines bundesweiten Zusammenschlusses von Bürgermeister:innen, die in ihren Städten Pilotprojekte zum Grundeinkommen gestartet haben. Zwischen 2019 und 2020 haben in den USA
Das Grundeinkommen – so die Hoffnung der Anhänger:innen des Konzepts – soll gegensteuern. Michael Tubbs, der Schwarze Bürgermeister von Stockton, ist noch keine 30, als er 2019 als erste:r in Kalifornien ein 18-monatiges kommunales Grundeinkommen einführt und die Initiative
Ein unabhängiges Team von Wissenschaftler:innen wertete den Versuch aus und stellte fest: Im Vergleich zu einer Gruppe, die kein Grundeinkommen erhielt, verbesserte sich die mentale Gesundheit derjenigen, die das Geld bekamen, immens. Tubbs sagt rückblickend: »Das Programm gab den Menschen die Würde, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, die Möglichkeit, ihr Potenzial auszuschöpfen, und es verbesserte die wirtschaftliche Stabilität
Auf einmal klingelten alle Telefone in Stockton. Was im Central Valley Kaliforniens begann, breitet sich überall in den Staaten aus.
Im Grundeinkommensrausch
Im Herbst 2022 laufen ungefähr 40 Versuche in den USA zum Grundeinkommen, fast jede Woche wird ein neuer angekündigt. Es ist die
Während es in Palm Springs ein Programm nur für Transmenschen gibt, erhalten in Jackson, Mississippi, nur Schwarze Mütter das Grundeinkommen. Ein Versuch in Florida begünstigt Menschen, die schon einmal im Gefängnis saßen und deshalb oft keinen Job mehr finden. Für fast jede benachteiligte Gruppe in den USA gibt es mittlerweile ein Pilotprojekt.
San Francisco und New York City stechen heraus, weil sie in ihren jeweiligen Versuchen Kreative in den Vordergrund stellen. Bei einigen führt das zu hochgezogenen Augenbrauen. Wenn es die Auswahl zwischen Waisen und chronisch Kranken gibt, warum sollten dann ausgerechnet Kunstschaffende den Zuschlag bekommen?
Im Yerba Buena Centre for the Arts in Downtown San Francisco sind die Wände in Flieder, Türkis und Feuerrot gestrichen. Im Schatten des Innenhofs des Kunstzentrums sitzt Aisa Villarosa, die den Grundeinkommensversuch der Stadt San Francisco mitleitet. »Durch die Gentrifizierung, die hohen Preise und die Pandemie ziehen immer mehr Kunstschaffende weg aus San Francisco. Die Stadt verliert, was sie ausmacht.« Immer noch, sagt Villarosa, seien die meisten berühmten Kunstschaffenden weiß. Gerade Kunst, die die Identität und den politischen Widerstand von Minderheiten sichtbar mache, werde so systematisch geschwächt. So sieht es auch ein anderer Rezipient des Grundeinkommens, der Schwarze Autor TreVaughn Malik Roach-Carter.
Wir tun in San Francisco gern so, als wären wir progressiv und weltoffen, aber nur eine bestimmte, homogene Gruppe von Menschen kann es sich noch leisten, hier zu leben. Immer mehr Menschen werden obdachlos. Und die anderen schauen weg.
Grundeinkommen USA: Armut entstigmatisieren
In San Francisco und der Bay Area gibt es nach Los Angeles
Elizabeth Softky war eine von ihnen. Sie arbeitete als Journalistin und Lehrerin, als eine Krebserkrankung ihre gesamten Ersparnisse auffraß, weil sie nicht mehr arbeiten konnte. »Als ich wegen der teuren Chemotherapie die Miete nicht mehr zahlen konnte, wurde ich von meinem Vermieter rausgeschmissen. Ich habe mich geschämt, als ich in eine Notunterkunft kam. Hier um die Ecke war das.« Wir sitzen in Milbrae, einer Stadt südlich von San Francisco, in einem Café unweit des Bahnhofs. Wenn Softky die Obdachlosenunterkunft beschreibt, in der sie 2019 unterkam, verhärtet sich ihr Gesicht. Dutzende Menschen in einem Raum, immer schrie jemand, geplagt von Albträumen oder Wahnvorstellungen.
Drogendealer:innen gingen ein und aus. Obwohl Männer und Frauen eigentlich in getrennten Bereichen schliefen, fühlte sie sich bedrängt, konnte kaum schlafen. »Nach den ersten Wochen sagte ich mir: Es gibt einen Grund, warum Gott dich hierhergeschickt hat. Ich soll anderen Leuten erzählen, wie es hier ist.«
Als die Pandemie die USA erreichte, wurden die Obdachlosen vom zuständigen County in ein Hotel direkt am Strand versetzt, das sollte eine Massenansteckung verhindern. Dort traf Softky auf Mitarbeiter:innen der Nichtregierungsorganisation
Dass Softkys Geschichte fast etwas zu perfekt klingt, liegt wohl daran, wie sehr die Nichtregierungsorganisation ihr und anderen obdachlosen Menschen aktiv geholfen hat, statt wie in anderen Grundeinkommensversuchen aus der Distanz zu beobachten, was die Empfänger:innen mit dem Geld anfangen. Alkohol, Waffen oder Drogen zum Beispiel durften sie nicht mit dem Grundeinkommen kaufen.
Somit konnte das Programm nach seiner ersten Phase keine aufschlussreichen wissenschaftlichen Daten liefern, was die Grundeinkommensforschung angeht. Nun geht der Versuch jedoch in die zweite Runde: Diesmal sollen Obdachlose 18 Monate lang 750 Dollar monatlich bekommen, die University of Southern California begleitet das wissenschaftlich, es wird außerdem auf die Stadt Los Angeles erweitert. All diese Programme verfolgen dasselbe Ziel: Durch die Sammlung von aussagekräftigen Daten und Storytelling wollen sie Amerika beweisen:
»Unser Mythos des Selfmademans, der sein eigenes Glück schafft, beeinflusst unsere Gesellschaft immer noch mehr als alles andere. Aber um Arnold Schwarzenegger zu zitieren: Niemand ist ein Selfmademan«, sagt Miracle-Messages-Gründer Kevin Adler an einem Nachmittag in den Headquarters der Nichtregierungsorganisation in Downtown San Francisco. »Jeder, der Erfolg hat, hatte Hilfe.« Sein Onkel hat Adler zur Gründung der Organisation inspiriert. Immer wieder landete der aufgrund psychischer Probleme auf der Straße. Das Beispiel der eigenen Familie zeigte ihm, wie ignorant und ungnädig in den USA mit Menschen umgegangen wird, die aus der Mittelschicht herausfallen. »Wir müssen endlich das entsetzliche Stigma beenden, das arme Menschen in Amerika umgibt«, sagt Adler.
15 Millionen vom Twitter-Gründer
Sponsor der zweiten Runde von Miracle Money ist zu 100%: Google. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass die meisten Versuche zum Grundeinkommen in Kalifornien vom Silicon Valley finanziert werden. So entschied sich das Yerba Buena Center for the Arts in der zweiten Phase seines Grundeinkommensversuchs für Kunstschaffende für eine Finanzierung durch die Start Small Foundation des Twitter-Gründers Jack Dorsey. Dorsey
Auch das erste Grundeinkommensprojekt in Stockton finanzierte sich zu einem großem Teil aus Geldern des sogenannten
Dabei sind es gerade diese Firmen, die für die horrenden Mieten und die Gentrifizierung in der Bay Area zu einem guten Teil verantwortlich sind.
Aisa Villarosa vom Grundeinkommensprojekt in San Francisco leugnet das nicht. »Ja, es ist wie eine Reparationsleistung von der Tech-Elite. Und doch haben wir uns aus guten Gründen für diese private Finanzierung entschieden.« Zum Beispiel: Wird ein solches Experiment aus Steuergeldern finanziert, dann ist es gesetzlich verboten, die Empfänger:innen nach Kriterien von Race oder Gender auszusuchen, um Diskriminierung vorzubeugen. »Wir leben aber in einem Land, in dem es einen stark ausgeprägten, systematischen Rassismus gibt«, sagt Villarosa. »Deshalb fördern wir vor allem Menschen, die nicht weiß sind.«
Der US-amerikanische Digitalisierungsforscher Jathan Sadowski sieht es kritisch, dass ausgerechnet die Tech-Imperien in so großem Stil in die Utopie Grundeinkommen investieren. In einem Essay, der unter anderem
»Welfare for Capitalists« nennt Sadowski das, eine Art Wiedergutmachung dafür, dass Angestellte der Tech-Empires, wie zum Beispiel Uber- oder Amazon-Driver, für unerträglich niedrige Löhne durchs Land fahren müssen und die Firmen die Gründung von Gewerkschaften unterdrücken.
Eine kapitalistische Lösung
Auch manche, die selbst von den Spenden der Tech-Riesen profitieren, sehen die Utopie mit zwiespältigen Gefühlen. Wie die junge Empfängerin des Yerba Buena Grundeinkommens in San Francisco, die anonym bleiben möchte: »Ich bin dankbar für diese Hilfe, ich wüsste nicht, wie ich letztes Jahr ohne das Grundeinkommen überlebt hätte. Aber es bleibt für mich
Für die Initiator:innen der Experimente sind die Finanzspritzen des Valley ein notwendiger Zwischenschritt, solange sie sich nicht auf Regierungsgelder verlassen können. Derweil träumen sie von einem Grundeinkommen, das in den Kammern der amerikanischen Legislative verabschiedet wird, auch auf nationaler Ebene. »Wir wurden vor dem Kongress bereits zu unserem Projekt befragt«, erzählt Aisa Villarosa. Die Demokratin Nancy Pelosi, die San Francisco im US-amerikanischen Kongress vertritt, lässt die Tragfähigkeit des Grundeinkommens als möglichen Hebel einer neuen amerikanischen Sozialpolitik
In Washington, D.C. soll bereits eine starke Thinktank-Lobby für das Konzept trommeln. Auch global wächst das Interesse. Die Postfächer der Programm-Manager:innen lokaler Grundeinkommensinitiativen quellen über von Anfragen aus allen Kontinenten. In einem Land wie den USA, in dem es keine Grundkrankenversicherung gibt, schwache Mietrechte, kaum bezahlten Urlaub und nur beschränkte Krankentage, hat das Grundeinkommen einen anderen Impact als in Ländern mit einem starken Sozialstaat wie Deutschland. Dennoch bleibt eine große Skepsis. In einer nationalen Umfrage des Pew Research Center 2020 antwortete eine knappe Mehrheit in den USA, dass sie
Grundeinkommen USA: 876 Milliarden Kosten
Das Economic Security Project, das den Oakland-Versuch finanzierte, sponserte 2021 die Ausarbeitung eines Papiers, das genau diese Frage untersucht: In
Doch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Harris Poll Anfang des Jahres zeigt, dass 60% der befragten Bürger:innen das Programm für zu teuer und unnötig halten. Ein Autor der New York Times erklärte das Ergebnis mit der Beobachtung: »Die Kritik an bedingungslosen Leistungen stigmatisiert oft ärmere Amerikaner:innen und Alleinerziehende oder ist von rassistischen Narrativen beeinflusst, wie dem Stereotyp der ›Welfare queen‹.« Selbst Empfänger:innen des Geldes äußerten in einer Studie den Verdacht, dass Familien das Geld nutzen könnten, um sich zu bereichern. Andere Kritiker:innen fanden es wiederum ungerecht, dass nur Eltern Anrecht auf diese Unterstützung hätten, es also nicht universell genug sei.
Es wird immer darüber gesprochen, wie teuer das Grundeinkommen wäre. Wenn wir aber zulassen, dass Menschen psychisch und physisch krank werden, dass sie süchtig werden oder auf der Straße landen, kostet das letztendlich viel mehr Geld. Wir sollten öffentliche Gelder endlich nutzen, um diese Dinge zu verhindern.
Für Professor Darrick Hamilton von der New School, New York City, der einer der Autoren des Papers über die Finanzierung eines Grundeinkommens ist, ist das Grundeinkommen ein wichtiger Eckpfeiler für die Bekämpfung von Armut, reicht aber nicht allein aus. »Wir brauchen in den USA wirtschaftliche Grundrechte. Das Recht auf Wohnen und das Recht auf Bildung und Gesundheit. Einkommen ist außerdem nicht dasselbe wie Wohlstand. Für Wohlstand braucht ein Mensch auch ein gewisses Grundkapital.« Aus diesem Grund unterstützt Hamilton unter anderem auch das
Davon erhofft sich Hamilton insbesondere auch mehr Chancengleichheit für nicht weiße Menschen. »Wir haben in den USA historisch viele Beispiele für eine Politik, in der der Staat Menschen direkte Ressourcen gibt, um wirtschaftlichen Wohlstand für sich selbst und die Gemeinschaft zu schaffen. Der
In San José, dem Herzen des Silicon Valley, sitzt Veronica Vieyra in einem gläsernen Hochhaus, das der Lokalregierung des Santa Clara County gehört. Als ihre Mutter starb, wurde die heute 26-Jährige Teil des Foster-Care-Systems. Sie wurde zu Zieheltern gegeben und erhielt jeden Monat eine staatliche Unterstützung, die an viele Kontrollen und Auflagen gebunden war. Während die meisten Kinder in den USA für ihre Ausbildung auf Ersparnisse der Eltern angewiesen sind, stehen Vieyra und andere Pflegekinder ohne finanzielle Mittel da, sobald sie volljährig sind. »Ich wohnte in einem Studierendenheim meiner Uni, als es 2021 auf einmal hieß: Ihr müsst wegen Covid-19 ausziehen.« Sie hatte Angst,
Dann bekam sie eine E-Mail vom Santa Clara County, dem Distrikt, zu dem San José gehört: Sie wurde für die erste Kohorte ausgewählt, mit der 18 Monate lang ein Grundeinkommen getestet werden sollte. Sie musste nur zustimmen. Vieyra zögerte nicht lange. Mithilfe des Grundeinkommens konnte sie nun überfällige Rechnungen bezahlen, sich ein WG-Zimmer suchen und die Kaution decken. Sie konnte ihr kaputtes Auto reparieren lassen. Erst nach einem Jahr, als sie ihr Studium beendet und einen Job hat, gönnt sie sich selbst etwas: »Ich gehe manchmal zu Starbucks«, sagt sie. Jahrelang hat sie nie auswärts Kaffee gekauft oder gegessen.
63% der anderen Empfänger:innen, die an den freiwilligen Befragungen des Santa Clara County teilnehmen, nutzen das Grundeinkommen, um Schulden abzuzahlen und zu sparen. Der andere Teil verwendet es zum großen Teil, um die Miete stemmen zu können. 2021 wird Vieyra per Videocall im kalifornischen Senat befragt. Und hält ein leidenschaftliches Plädoyer: »Ich sagte ihnen: Wenn Sie nicht wollen, dass jedes Jahr mehr Pflegekinder und Jugendliche die Schulen und Colleges ohne Abschluss verlassen, müssen Sie etwas dagegen tun.« In den USA ist der Anteil der Pflegekinder unter den Schulabbrecher:innen überproportional hoch. Außerdem landen Pflegekinder häufiger in der Obdachlosigkeit, werden schneller kriminell
Mittlerweile ist das Santa-Clara-Programm offizielles Vorbild für Kalifornien. Der Bundesstaat beschloss 2021, nicht nur die zweite Kohorte des Programms zu finanzieren, sondern auch
Dieser Artikel erschien zuerst in der Printausgabe Oktober/November 2022 des enorm Magazins, das sich ebenfalls dem Konstruktiven Journalismus verschrieben hat und mit dem wir in losen Abständen Beiträge austauschen.
Die Recherche zu diesem Text wurde von der »Heinrich-Böll-Stiftung Nordamerika« im Rahmen des Transatlantic Media Fellowship gefördert.
Titelbild: Morgane Llanque - copyright