Hat jede:r eine zweite Chance verdient?
Warum du (fast) alles verzeihen solltest – und wie das gelingt.
»Das werden die Ukrainer niemals vergessen und niemals vergeben.« Seit der russische Angriffskrieg die Ukraine mit Leid und Tod überzogen hat,
Angesichts der Zerstörungswut und der Bösartigkeit, die Putin und seine Gefolgsleute an den Tag legen, überrascht das nicht. Und doch zeigt die Geschichte, dass selbst Brücken, die in Schutt und Asche liegen, wiederaufgebaut, Beziehungsbande wieder geknüpft werden können.
So wurde Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Staatengemeinschaft aufgenommen und auch viele andere inner- und zwischenstaatliche Konflikte weltweit wurden durch Prozesse der Aussöhnung überwunden.
Wie ist das möglich, wenn Unverzeihliches passiert ist, wenn gemordet, gefoltert, vergewaltigt wurde? Und kann politische Aussöhnung nur dann gelingen, wenn die Menschen, denen Unrecht widerfahren ist, den Täter:innen verzeihen?
Um das zu klären, lohnt sich zunächst ein Ausflug in die Philosophie: Was bedeutet es überhaupt, jemandem zu vergeben?
Die philosophische Perspektive: Niemand will in einer Welt leben, in der nicht verziehen wird
»Vergebung ist eine Reaktion auf die Erfahrung von schuldhaftem Unrecht.« Das schreibt die Osnabrücker Philosophieprofessorin Susanne Boshammer in ihrem Buch
Zur Person: Susanne Boshammer

Susanne Boshammer lehrt als Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Osnabrück und arbeitet zu Problemen der Moralphilosophie und der Angewandten Ethik. Unter anderem forscht sie zu Ethik und Alter, dem Helfen – und dem Verzeihen. »Die zweite Chance« erschien im Juli 2020 bei Rowohlt.
Bildquelle: Stefan KlattEine solche Handlung zu vergeben, würde laut Boshammer bedeuten, »alle negativen Gefühle zu überwinden, die wir gegenüber denjenigen hegen, die Unrecht getan haben«. Wir machen dem Schuldigen keine Vorwürfe mehr, wollen uns nicht mehr rächen, überwinden Hass und Wut.
Das bewirkt umgekehrt auch etwas bei der Person, der verziehen wird: »Sie wird von der Pflicht entbunden, sich ihr Verhalten zum Vorwurf zu machen«, sagt Boshammer.
Verzeihen zu können, ist eine Fähigkeit, die gesellschaftlich hohe Wertschätzung genießt. Gerade dann, wenn die Tat eigentlich unverzeihlich erscheint, schreiben wir der Person, die trotzdem vergibt, Charakterstärke und Widerstandsfähigkeit zu. Woher kommt diese Wahrnehmung?
Sie speist sich auch aus religiösen Moralvorstellungen – alle Weltreligionen kennen eine Art »Verzeihensgebot«, so Boshammer. Und die Philosophin hat eine Theorie, warum das so sein könnte: »Religionen haben ihre Wurzeln in Zeiten, in denen die Menschen sozial extrem immobil waren. Sie konnten nicht einfach den Freundeskreis wechseln, sich von ihrem Partner trennen oder in eine andere Stadt ziehen.« Man konnte einander nicht entfliehen – deshalb musste man sich verzeihen, um miteinander leben zu können.
Auch wenn viele inzwischen leichter ihr soziales Umfeld wechseln können, spricht noch heute einiges dafür, eher großzügig in Sachen Vergebung zu sein: So manövrieren wir alle uns hin und wieder in eine Situation, in der wir eine andere Person um Verzeihung bitten (müssten) – oder einfach darauf hoffen, dass uns dieses Geschenk zuteilwird.
»Eine Welt, in der niemals verziehen wird, ist kein Ort, an dem Menschen sich handelnd entfalten und gut leben können.« – Susanne Boshammer, Philosophin
Boshammer weist darauf hin, dass wir uns auch selbst beschenken, wenn wir uns dafür entscheiden, zu verzeihen. »Wir lösen uns von der belastenden Vergangenheit und geben uns die Chance, die Wunden heilen zu lassen.« Die Bereitschaft zu vergeben habe in jedem Fall positivere emotionale und soziale Folgen, als zu verbittern oder sich zu rächen.
Spätestens jetzt wirst du dich vielleicht fragen: Ergibt es überhaupt Sinn, derart abstrakt und verallgemeinernd über das Verzeihen zu sprechen? Ist es nicht ein himmelweiter Unterschied, ob wir über Folter, Morde und die Bombardierung ganzer Städte sprechen – oder über einen Vertrauensbruch unter Freund:innen, einen nicht zurückgezahlten Geldbetrag?
Wer davon ausgeht, dass es unverzeihliche Taten gibt, wird überrascht sein von der Antwort der Philosophin: »Sie dürfen und können, wenn Sie wollen, alles verzeihen!«
Wer das eindrucksvoll bewiesen hat, ist die Auschwitz-Überlebende Eva Mozes Kor, deren Memoiren mit dem Titel

Wie Eva Mozes Kor den Nazis Auschwitz vergab
Dabei hat Eva Mozes Kor Unvorstellbares überlebt: Als 10-jähriges Mädchen wird sie mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert. Die Eltern und ihre älteren Schwestern werden ermordet, Eva und ihre Zwillingsschwester Miriam geraten in die Hände von Josef Mengele. Der KZ-Arzt führt grausame Menschenversuche an den Zwillingen durch, an denen beide schwer erkranken. Nur knapp und mit unglaublichem Glück gelingt es den Kindern, dem Tod zu entkommen. Miriam wird später an den Spätfolgen der Experimente sterben.

Angesichts dieser Geschichte scheint es fast unglaublich, dass Eva Mozes Kor ausgerechnet den
Und nicht nur ihm. Ein Bild zeigt Eva Mozes Kor, wie sie dem ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning, der ebenfalls in Auschwitz am Holocaust beteiligt war, die Hand reicht. Aufgenommen wurde es 2015 beim Prozess gegen ihn in Lüneburg. Auf einem zweiten Bild zieht er sie an sich, küsst sie auf die Wange.
Ich, Eva Mozes Kor, ein Zwilling, habe vor 50 Jahren als Kind die Experimente von Josef Mengele in Auschwitz überlebt und vergebe hiermit allen Nazis, die direkt oder indirekt an der Ermordung meiner Familie und Millionen anderer Menschen beteiligt waren. […]
50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz vergebe ich, Eva Mozes Kor, nur in meinem eigenen Namen, weil es an der Zeit ist, weiterzumachen. Es ist an der Zeit, unsere Wunden heilen zu lassen. Es ist an der Zeit, zu vergeben, aber nie zu vergessen. […]
Für ihre öffentlichen Gesten der Vergebung gegenüber Nationalsozialisten wurde Eva Mozes Kor viel kritisiert. Doch für sie war es der Weg aus der Opferrolle. Indem sie Wut und Hass hinter sich ließ, setzte sie der Macht ein Ende, die ihre Peiniger auf sie ausübten. Aber Nazis öffentlich verzeihen? Sendet das nicht komplett falsche Signale an eine Gesellschaft, in der noch immer rechtes Gedankengut gärt?
Dieser Einwand ist berechtigt. So gibt Philosophieprofessorin Susanne Boshammer zu bedenken: »Wenn Menschen, die sich über die Rechte anderer hinwegsetzen, regelmäßig die Erfahrung machen, dass sie so oder so von der Schuldigkeit entbunden werden, sich dafür Vorwürfe zu machen, besteht die Gefahr, dass die Grenze zwischen Recht und Unrecht auf Dauer verschwimmt und irgendwann praktisch ohne Bedeutung ist.« Das kann niemand wollen. Boshammer sagt aber auch: Opfer können verzeihen, wem sie wollen, wenn sie es wollen. Sie können es aber nur in ihrem eigenen Namen tun.
Was Verzeihen bedeutet, wissen wir jetzt also – aber wie geht es? Darauf hat der US-amerikanische Psychologe
Verzeihen in 4 Schritten – die psychologische Perspektive
Der Urvater der Verzeihensforschung untersucht den Prozess der Vergebung seit 4 Jahrzehnten. Mit seinen Programmen hilft er Menschen auf der ganzen Welt, ihren Wut- und Rachegefühlen zu begegnen – darunter sind Missbrauchsopfer, Todkranke und
Enright geht davon aus, dass zwischen dem Erfahren eines Unrechts und dessen Vergebung 4 Phasen liegen.
- Die Aufdeckungsphase: Was ist überhaupt passiert und wie hat es mich beeinflusst?
Am Anfang steht die Aufarbeitung des verletzenden Ereignisses. Das fängt mit einfachen Fragen wie »Was ist genau passiert? Wer hat was gesagt oder getan?« an und geht immer tiefer.
Die Verletzung wird Schicht für Schicht freigelegt, bis klar ist, wohin sie überall ausgestrahlt hat. Es ist möglich, dass das gesamte Weltbild und das Vertrauen in die Menschheit erschüttert wurde – dann können die Auswirkungen auch in Bereichen zu spüren sein, die mit der ursprünglichen Kränkung nichts zu tun haben. Wer sich in diese erste Phase hineinwagt, muss damit rechnen, dass es schmerzhaft wird, weil dabei Wut, Trauer und andere dunkle Gefühle aufgewühlt werden, die mit dem Unrecht verbunden sind. - Die Entscheidungsphase: Kann ich vergeben? Will ich vergeben?
Ist die Bestandsaufnahme abgeschlossen, müssen die Betroffenen eine Entscheidung treffen: Wollen sie vergeben? Können sie vergeben? Dabei sollten sie sich klarmachen, was Verzeihen in diesem Fall für sie bedeutet. Sie sollten auch überdenken, woran bisherige Versuche zu vergeben gescheitert sind und was sie brauchen, damit es dieses Mal gelingen kann. - Die Arbeitsphase: Versuchen, das Verhalten des Täters nachzuvollziehen
Jetzt beginnt der tatsächliche Kraftakt des Verzeihens. Im Mittelpunkt steht dabei, den Vorfall aus der Perspektive der anderen Person zu betrachten und nachzuvollziehen, warum sie so gehandelt hat. Hier geht es nicht darum, die Tat zu rechtfertigen, sondern sie zu verstehen. Das Ziel ist, die andere Person als Menschen mit Fehlern und Schwächen zu sehen und es zu schaffen, mit Mitgefühl auf diese Unzulänglichkeiten zu reagieren. Dazu gehört es auch, den Schmerz der Kränkung anzunehmen, statt ihn über Verbitterung und Rachegedanken weiterzugeben. - Vertiefungsphase: Sich von Wut und Verbitterung befreien
Im letzten Schritt wird Bilanz gezogen: Was hat es mir gebracht, zu verzeihen? Bin ich daran gewachsen? Fühle ich mich befreit? Die Vergebenden reflektieren ihre Einstellung zum Verzeihen, die Beziehung zu sich selbst sowie zu den Täter:innen und bewerten sie neu.
So ordentlich wie hier beschrieben läuft der Weg zum Verzeihen nach Robert Enright jedoch meistens nicht ab: Einzelne Phasen können übersprungen oder auch wieder aufgenommen werden, nachdem sie schon abgeschlossen waren.
Warum Vergebung politisch ist
Vergebung kann aber (noch) mehr sein als die Aussöhnung zwischen 2 Personen, von denen die eine der anderen Unrecht getan hat: ein politischer Akt. Das jedenfalls dachte die Philosophin Hannah Arendt. Wie Eva Mozes Kor beschäftigte sie sich vor dem Hintergrund der Naziverbrechen mit der Frage des Vergebens. Als Jüdin und Kritikerin des Regimes floh sie nach einer kurzen Inhaftierung durch die Gestapo bereits im Jahr 1933 aus Deutschland – zunächst nach Paris. Nachdem sie als »unerwünschte Deutsche« 1940 in einem Lager im französischen Gurs interniert wurde und ihr von dort die Flucht gelang, emigrierte sie in die USA.

Arendt geht davon aus, dass es im Zusammenleben der Menschen immer wieder dazu kommen wird, dass wir einander Unrecht antun – ganz einfach, weil wir unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was andere tun dürfen und was nicht. Wie Arendt den Bogen ins Politische schlägt?
»Hannah Arendt sieht das Vergeben als eine Fähigkeit, die wir Menschen haben und brauchen, um unser Zusammenleben zu strukturieren«, erklärt Philosophieprofessorin Boshammer das Denken der politischen Theoretikerin. »Wir blicken auf etwas, was schon geschehen ist, und entlasten einander von den Folgen der Vergangenheit.« Würden wir das nicht schaffen und zulassen, dass uns eine Tat bis ans Ende unserer Tage verfolge, nähmen wir uns laut Arendt die Fähigkeit zum Handeln – weil das Handeln dann nur noch in Reaktion auf eine einzige Tat bestünde. Das sei das Ende der Freiheit.
Mit Gesten des Verzeihens geben wir uns zu verstehen: Alles, was ich in Zukunft tue, wird nicht nur eine Reaktion auf das sein, was zwischen uns schon geschehen ist. Das führt dazu, dass das innergesellschaftliche und das zwischenstaatliche Miteinander vital bleiben.
Kurz: Die Fähigkeit zu vergeben ist für Hannah Arendt eine grundlegende Voraussetzung gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens.
Doch wenn Vergebung nur vom Individuum ausgehen kann, wie es Philosophie und Psychologie uns lehren – wie kann dann Aussöhnung funktionieren, wenn eine persönliche Auseinandersetzung gar nicht möglich ist? Wenn wir Menschen schlicht hassen, weil sie Deutsche, Russ:innen oder Angehörige einer anderen Gruppe sind, die sich kollektiv schuldig gemacht hat?
Blick nach vorn: Vergeben und niemals vergessen!
Susanne Boshammer meint dazu: »Auf der politischen Ebene müssen wir Gesten der Vergebung rituell einbetten.« Was genau sie darunter versteht, erklärt sie am Beispiel von Kindern im Sandkasten. Wenn eines dem anderen wehtut oder etwas wegnimmt, wird es dazu aufgefordert, um Entschuldigung zu bitten. Danach kommt die Aufforderung: »Gebt euch die Hand!«
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde im Jahr 1996 durch Präsident Nelson Mandela eingesetzt. Sie sollte Verbrechen aufklären, die während der Apartheid begangen wurden und mit der rassistischen Politik dieser Zeit zusammenhingen. Das primäre Ziel war es nicht, Schuldige zu bestrafen, sondern Reue zu belohnen und Opfer sowie Täter:innen in einen Dialog zu bringen. So sollte durch umfassende Aufklärung eine Grundlage für Versöhnung geschaffen werden. Angeklagten wurde Amnestie gewährt, sofern sie ihre Taten zugaben. Opfer erhielten finanzielle Hilfe.
Was die Philosophin damit verdeutlichen will: »Wir halten inne in unserem normalen Ablauf. Wir unterbrechen den Fluss der Ereignisse und widmen uns dem, was passiert ist.« Rituale lenken die Aufmerksamkeit auf ein Ereignis – in diesem Fall auf ein Ereignis des Unrechts. Aufgabe des Politischen sei es, geeignete Rituale der Aussöhnung zu finden und ihnen dafür öffentlich Raum zu geben.
Vielleicht sind die Nürnberger Prozesse, also die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen, ein gutes Beispiel dafür, ebenso wie die Wahrheitskommissionen in Südafrika, Kolumbien oder
Politische Aussöhnung könne aber nicht ausschließlich in Gremien, Urteilen oder Verträgen stattfinden. Menschen müssten Versöhnung auch leben – und dafür müssten sie sich begegnen, meint Susanne Boshammer. Was ebenfalls zur langfristigen Aussöhnung beitrage: eine gemeinsame gelebte Erinnerungskultur.
Ein gutes Beispiel sind die deutsch-französischen Beziehungen. Von »Erbfeinden« wurden Deutschland und Frankreich zu Begründern und schließlich zum Motor eines geeinten Europas, das lange nicht perfekt ist, aber immer weiter an seiner Beziehung arbeitet. Diese Geschichte zeigt, dass die gemeinsame Erinnerung an die Vergangenheit Grundlage für eine friedvolle gemeinsame Zukunft sein kann. Vergeben – aber niemals vergessen.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily