Ich war von der Letzten Generation nur genervt – bis man sie als Terroristen abstempelte
Friedrich Merz hat mich meine Haltung zur Letzten Generation überdenken lassen.
Junge Menschen,
Wie viele Deutsche hielt ich die Aktionen der Letzten Generation für eher schädlich für die Klimabewegung als Ganzes. Auch konnte ich das Gefühl nicht loswerden, dass manche Aktionen nicht nur nervig, sondern zu radikal sind. Meine Meinung stand: Im besten Fall war die Letzte Generation einfach der Sache abträglich, unüberlegt und streckenweise peinlich. Und dann kam Friedrich Merz (CDU) …
Was der Oppositionsführer in nur 2 Tweets entlarvt
6 Tage lang hat der Oppositionsführer geschwiegen, nachdem es eine deutschlandweite Razzia gegen eine Umsturzverschwörung innerhalb der Reichsbürgerbewegung gegeben hatte. Erst als eine Woche später auch eine Razzia bei einer Gruppe der Letzten Generation durchgeführt wurde, äußerte sich der Politiker über sein Social-Media-Team auf Twitter:
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesinnenministerin gemeinsam mit den Innenministern der Länder mit aller Härte gegen die #Reichsbürger-Szene vorgeht. Sie ist eine ernsthafte Gefahr für unsere Sicherheit – aber nicht für unsere Demokratie, so weit reicht sie nicht.
Ebenfalls will ich ausdrücklich begrüßen, dass heute Hausdurchsuchungen stattgefunden haben gegen sogenannte ‚Klimaaktivisten‘, die sich ständig auf Straßen oder Flughäfen festgeklebt haben. Auch das sind schwere Straftaten, auch hier muss der Rechtsstaat Zähne zeigen.
Die Nachricht soll lauten: »Böse Menschen gibt es überall. Der Rechtsstaat muss gegen alle vorgehen.« Und genau das könnte eine der schäbigsten Wortmeldungen 2022 sein. Denn so ziemlich alles an diesen 2 aufeinanderfolgenden Tweets ist schief …
- Anmaßung: Seit wann obliegt es einem Politiker, zu definieren, was eine schwere Straftat ist? Das ist noch immer Sache der Justiz, denn in Deutschland herrscht Gewaltenteilung.
- Unzulässige Übertragung: Das Festkleben an öffentlichen Orten war nicht der Grund für die Durchsuchungen bei den Aktivist:innen – sondern ganz konkret Aktionen, die versuchten, den Ölfluss des Brandenburgischen Raffineriebetriebs PCK Schwedt zu behindern. Es wird dabei wegen Störung öffentlicher Betriebe, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch ermittelt.
- Vorabverurteilung: Für Friedrich Merz ist sonnenklar, dass die von der Razzia betroffenen Aktivist:innen schuldig sind. Tatsächlich war der Anlass der Vorwurf zur »Bildung einer kriminellen Vereinigung«. Doch das dürfte vor Gericht leicht anfechtbar sein. Denn man müsste der Letzten Generation nachweisen, dass ihr Hauptzweck darin bestünde,
Was Merz hier macht, ist ganz auf Linie eines populistischen Narratives, das die CDU unter seinem Vorsitz seit einer Weile verfolgt: das des angeblichen »Klima-Terrors«.
Genau deshalb werden hier Aktionen von der Letzten Generation – deren juristische Bewertungen durchaus umstritten
Die ist altbekannt und von Friedrich Merz selbst so formuliert. Für ihn ist
Für Merz und das Narrativ ist dieser Punkt nicht unbedeutend. Denn so muss man umso schärfer framen (»Verbrecher! Terrorismus!«), um diesen Protestierenden, die klar die Politik ansprechen, unlautere Absichten zu unterstellen. Dabei greifen Merz und manche seiner Parteikolleg:innen auf das
Auch bei der BILD hat man längst aufgehört, von Aktivisten zu schreiben, dort nennen sie sie »Klima-Chaoten« oder »Klima-Radikale«.
Beim von Friedrich Merz unterstützten
Und das Narrativ wirkt, bietet es doch ein plausibles Feindbild, gegen das die CDU wettern kann, das von anderen Problemen ablenkt (zum Beispiel Rechtsextremismus). Vor allem aber hat das Framing bewirkt, dass wir über Formen des Protestes, Strafen und Verhältnismäßigkeiten diskutieren und eben nicht über das Wesentliche:
Vor allem aber ist das Narrativ gesellschaftlich weit anschlussfähig. Tatsächlich springen immer mehr Personen des öffentlichen Lebens auf den Framing-Zug auf – so etwa der ehemalige Publizist der FAZ, Hugo Müller-Vogg:
Die Ironie, nämlich dass sich die Aktivist:innen der Letzten Generation selbst um die Zukunft der Demokratie (bedroht durch die extremen Folgen des Klimawandels) sorgen, dürfte hier verloren sein.
Woher aber kommen diese Angst und Anfeindungen vor den Klimaaktivist:innen?
Einerseits begründen sie sich auf vereinzelte Aussagen von Irrlichtern aus der weiteren Klimabewegung,
Der Blick in den Spiegel
Wir sollten uns fragen, warum es so einfach ist, diesen Narrativen der Neurechten auf den Leim zu gehen. Aber Vorsicht, die Antwort könnte erschrecken.
Denn das Abtun der Protestform oder Verhältnismäßigkeit erlaubt es, auch die Gründe für den Protest nicht zu beachten. Dabei sind diese so klar wie nachvollziehbar: Mehr konkrete Maßnahmen der Bundesregierung zum Klimaschutz, wie diese zugesagt hat: Ein 9-Euro-Ticket für alle, um den Öffentlichen Verkehr zu stärken, und ein bundesweites Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde, um den CO2-Ausstoß zu senken.
Ist das so falsch, wo unsere eigene Bundesregierung
- den Klimaschutz massiv vernachlässigt,
- internationalen Verträgen seit Jahren nicht nachkommt,
- sich ihrer Verantwortung für die Lebensgrundlagen künftiger Generationen
- sogar vom Verfassungsgericht 2021 zu mehr und
- und das politisch vereinbarte 1,5-Grad-Ziel faktisch aufgegeben hat?
Genau hier entstehen das eigentliche Unbehagen und der Grund für die emotionalen Reaktionen auf die Letzte Generation. Denn während die Aktivist:innen bewusst Haftstrafen, Geldstrafen, Schläge und Tritte für ihre Überzeugungen akzeptieren, leben wir stumm in einem System, das jeden Tag moralisch versagt; weil es diese Politik toleriert und Wohlstandserhalt, Autofahren, Fleischessen und Flugreisen einen höheren Wert einräumt als der
Deshalb ist die Letzte Generation so unbequem, weil sie uns die Irrationalität des »Weiter so« spüren lässt und den Zynismus herausfordert, den zu viele Menschen heute im Angesicht des Klimawandels verinnerlicht haben.
Um die Klimaproteste wirklich fair zu sehen und nicht den Narrativen von Merz und Co. das Feld zu überlassen, müssten wir anfangen zu verstehen, dass Teile der Klimabewegung keine andere Lösung als zivilen Ungehorsam sehen, nachdem die Politik andere Protestformen seit Jahren kalt ignoriert. Dann müssten wir anerkennen, dass sie sich auf Paragraf 34 des Strafgesetzbuches berufen, den »rechtfertigenden Notstand«. Dann müssten wir ihnen zuhören, wenn sie ihrer Verzweiflung und ihren
Es geht mir um eine Welt, in der wir alle gut und gerne leben können.
Hört sich so ein radikalisierter Klimaterrorist an? Natürlich nicht.
Der Wiener Professor für Klimapolitik, Reinhard Steurer, bietet eine bedenkenswerte,
Die Bewegung zeigt peinlich genau auf, wer die Dramatik der Klimakrise verstanden hat & wer nur so tut als ob. Allein das ist ein wertvoller gesellschaftlicher Kompass! […] Man kann zu konkreten Aktionen der Letzten Generation stehen wie man will, aber eines ist sicher: Sie sind der Feueralarm für eine schlafwandelnde Gesellschaft in einer brennenden Welt - und Wissenschafter bekräftigen: das ist kein Fehl- und kein Probealarm. Das ist ernst.
Er zieht Parallelen zur Bürgerrechtsbewegung in den USA. Auch dort hatten die zivilen Proteste alles ausgeschöpft. Auch dort war die Bevölkerung noch nicht bereit zu tiefgreifenden Verhaltensänderungen. Auch dort reagierten Konservative mit Unverständnis und Dämonisierung. Damals waren die Protestierenden ebenfalls unbequem und verletzten Regeln,
Ähnlichkeiten in den Reaktionen sind offensichtlich. Man muss sich fragen, ob wir – auch ich, der von der Letzten Generation bisher nur genervt war – mit dieser Perspektive nur Teile der biederen Gesellschaft sind, unfähig über Gewohnheiten und Status quo das große Ganze zu sehen.
Allein die reelle Möglichkeit, dass es so sein könnte, hat meine Meinung über diese Proteste ein Stück weit verändert. In jedem Fall gehe ich verurteilenden Framings nicht mehr so leicht auf den Leim.
Echte Terrorgefahr gibt es auch. Wehret den Anfängen!
Wie wir heute wissen, kann die Art,
Auch 1967 nannten Politiker:innen und Medien (allen voran die BILD-Zeitung) die damaligen Studierendenproteste ebenfalls »radikal« und es herrschte eine breite Ablehnung in der stocksteifen Bevölkerung des Mittelstandes. Doch der erste Schuss wurde nicht aus der Bewegung abgefeuert, sondern auf sie. Am 2. Juni 1967 tötete der Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras den 26-Jährigen Benno Ohnesorg gezielt von hinten mit einem Kopfschuss.
Man kann nur hoffen, dass sich Geschichte nicht wiederholen muss, bevor wir endlich bereit sind, unser Weltbild zu hinterfragen.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily