Diese Fähigkeit gibt dir und deinen Mitmenschen ein besseres Gefühl
Viele Menschen fühlen sich mit ihren Anliegen nicht gehört. Mit diesen 5 Prinzipien können wir das ändern – und gemeinsam die Krisen dieser Zeit meistern.
Erinnere dich an ein Erlebnis, bei dem du dich nicht gehört gefühlt hast.
Vielleicht hast du einem Freund die Geschichte einer Verletzung erzählt und er hat geantwortet: »Ich weiß genau, wie es dir geht, mir ist etwas ganz Ähnliches passiert!« Damit hat er den Fokus auf sich gelenkt.
Oder du hast dich bei deiner Chefin darüber beschwert, dass zu viel Arbeit auf deinem Schreibtisch landet – und statt Verständnis nur einen Ratschlag erhalten, mit dem du nichts anfangen kannst.
Auch wenn du seit Jahren an Klimaprotesten teilnimmst und sich trotzdem nichts ändert, kann sich das Gefühl des Nicht-Gehört-Werdens einstellen.
Dieses Gefühl kann weh tun und ist keine Seltenheit – auch im politischen Kontext. Laut einer Studie der Robert Bosch Stiftung und der Organisation More in Common glauben viele Menschen, dass ihre Anliegen in der Gesellschaft nicht gehört würden und . Das führt zu Enttäuschung. Für Demokratien ist das bedenklich, denn sie leben davon, das unterschiedliche Meinungen und Wertvorstellungen miteinander in den Wettstreit treten.
»Eine pluralistische Gesellschaft kann nur dann entstehen, wenn wir einander zuhören«, sagt Emily Kasriel.
Zur Person
Emily Kasriel arbeitet für die britische BBC und hat dort unter anderem ein »Deep listening«-Trainingsprojekt für 1.000 Menschen aus 119 Ländern betreut. Sie ist außerdem als Coachin und Mediatorin tätig und hat zahlreiche Texte zum besseren Zuhören veröffentlicht.
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Als Führungskräfte-Coachin beim BBC, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Englands, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen aus aller Welt das Zuhören beizubringen. Sie lehrt einen Ansatz, den sie als bezeichnet, und ist überzeugt: »Deep listening« ist eine wesentliche Voraussetzung für eine widerstandsfähige und gerechte Gesellschaft, die Probleme wie die Klimakrise gemeinsam lösen kann. Wie genau »Deep listening« geht und wie es zu Veränderung beitragen kann, darüber habe ich mit Emily Kasriel gesprochen.
Lena Bäunker:
Wie kann ich sicherstellen, dass ich dir während unseres Gesprächs gut zuhöre?
Emily Kasriel:
Beim »Deep listening« geht es darum, neugierig zu sein und die Welt der anderen Person wirklich verstehen zu wollen. Journalist:innen haben oft gute Fragen, auf die sie sehr stolz sind. Für sie sind ihre Fragen die bestmöglichen Mittel, um herauszufinden, was sie glauben, wissen zu müssen. Beim »Deep listening« legst du diese Fragen vorübergehend zur Seite.
Natürlich sollten Journalist:innen immer noch wissen, worum es in einem Interview gehen soll. Du könntest also zu mir sagen: »Emily, ich möchte mit dir über ›Deep listening‹ sprechen.« Aber darüber hinaus können Journalist:innen auch mal versuchen, sich zurückzuhalten und den Interviewpartner:innen zu erlauben, über das zu sprechen, was ihnen wichtig ist. Sie können ein Interesse für die Gedanken und Gefühle der interviewten Person entwickeln und sich nicht nur auf gewünschte O-Töne fokussieren.
Ich sollte meine eigenen Fragen also zur Seite legen und offen dafür sein, mich von dir durch das Gespräch leiten zu lassen.
Emily Kasriel:
Für Journalist:innen klingt das merkwürdig, fast unmöglich. Aber es bedeutet nicht, dass sie ihre kritischen Fähigkeiten oder ihr Urteilsvermögen aufgeben müssen. Es bedeutet auch nicht, dass sie immer so handeln sollten.
Für Eilmeldungen oder im Interview mit Politiker:innen ist »Deep listening« weniger relevant als für Gespräche mit Bürger:innen. Doch ich denke, dass der Ansatz bei einer Vielzahl von journalistischen Unternehmungen eingesetzt und mit all den üblichen kritischen Fähigkeiten gemischt werden kann.
Du schreibst gelegentlich selbst Texte für die BBC. Wie wendest du diesen Ansatz an?
Emily Kasriel:
2020 habe ich einen Beitrag über Milchbäuer:innen geschrieben, die unterschiedliche Meinungen zum Klimawandel haben.
Darunter war Phillip, der fest daran glaubt, dass es den Klimawandel nicht gibt. Ich habe einige Zeit mit ihm verbracht und ihm zugehört. Es wurde deutlich, dass er Beweise für die menschengemachte Erderwärmung ignoriert, aber ein feines Gespür für Geschichten hat, die Fehler von Klimawissenschaftler:innen aufdecken. In der Psychologie nennt sich das In meinem Artikel habe ich dann aufgezeigt, wie die Milchviehhaltung zum Klimawandel beiträgt.
Trotzdem fühlte Phillip sich gehört, weil ich mir Zeit genommen hatte, seine Geschichte anzuhören.
Unser Wohlbefinden verbessert sich, wenn wir uns gehört fühlen
Du bezeichnest deinen Ansatz als »Deep listening«. Wofür steht das »deep«, also die Tiefe?
Emily Kasriel:
Es geht darum, die ganze Person und ihre Geschichte wirklich zu verstehen. Wenn ich Workshops gebe, bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Menschen sich nicht vorstellen können, was gutes Zuhören ausmacht. Das liegt daran, dass wir nur wenige Gelegenheiten im Leben bekommen, wirklich gehört zu werden. Im Alltag hören wir meist nur mit den Ohren zu, sind eher passiv. »Deep listening« beschreibt hingegen einen aktiven Ansatz, bei dem wir uns vollkommen auf die sprechende Person einlassen.
Wie genau kann das gelingen?
Emily Kasriel:
Ich habe einige Grundsätze des »Deep listening« , aber im Grunde geht es um mehr als bestimmte Verhaltensweisen. »Deep listening« beschreibt eine andere Art des Seins. Daher bezeichne ich es auch als Ansatz, nicht als Werkzeug.
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Ich habe zum Glück Menschen in meinem Umfeld, die wirklich gut zuhören können. Es fühlt sich gut an, wenn sie mir ihre Aufmerksamkeit schenken.
Emily Kasriel:
Das überrascht mich nicht. Studien zeigen, dass sich unser Wohlbefinden verbessert, wenn wir uns gehört fühlen; wenn wir spüren, dass die andere Person sich voll und ganz darauf konzentriert, uns zu verstehen. Dabei ist es nicht einmal wichtig, dass die zuhörende Person uns wirklich versteht. Es geht allein darum, zu wissen, dass sie uns verstehen will.
Außerdem können Menschen, denen auf diese Weise zugehört wird, sich selbst besser wahrnehmen, klarer sehen und oft Lösungen für ihre eigenen Probleme finden. Auch das Wohlbefinden der Zuhörer:innen verbessert sich: Es gibt zum Beispiel Untersuchungen über Menschen in , denen es emotional besser ging, als sie lernten, einander zuzuhören.
Wie kann das sein?
Emily Kasriel:
Ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass Zuhören Verbindungen herstellt. Wir sind soziale Wesen. Wenn wir jemandem zuhören, sehen wir einen Teil der Psyche dieser Person und fühlen uns als Menschen verbunden. Wir sehen unsere Gemeinsamkeiten und Unterschiede und sind in der Lage, unsere eigene Geschichte in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Wo hast du das »Deep listening« erlernt?
Emily Kasriel:
Ich werde von vielen verschiedenen Quellen beeinflusst, die diesen Ansatz aufgreifen und weiterentwickeln. Zum Beispiel von , dem humanistischen Psychologen, der den Begriff »aktives Zuhören« geprägt hat. Zudem habe ich einige Zeit in Kanada verbracht und dort mit indigenen Menschen (First Nations) gearbeitet. Viele ihrer Überzeugungen und alltäglichen Handlungen sind tief mit dem verbunden, was ich als »Deep listening« bezeichne.
Die Schnelllebigkeit der westlichen Gesellschaft hält uns vom Zuhören ab
Das ist interessant. Gibt es also kulturelle Unterschiede beim Zuhören?
Emily Kasriel:
Ja. Basierend auf dem, was ich über die Praktiken der First Nations gelesen und was ich in ihrer Gemeinschaft selbst erlebt habe, glaube ich, dass »Deep listening« unter ihnen eine Selbstverständlichkeit ist. Das bringt mich zu der Annahme, dass »Deep listening« vielleicht in den Wurzeln aller Menschen liegt. Aber die Schnelllebigkeit der westlichen Gesellschaft hält uns davon ab, es zu praktizieren.
Es gibt ein großes Angebot an Rhetorikkursen und anderen Coachings, die uns beibringen, besser zu reden und uns Gehör zu verschaffen. Schon in der Schule werden wir belohnt, wenn wir uns gut ausdrücken. Das Zuhören steht eher im Hintergrund.
Emily Kasriel:
Da hast du völlig recht. Ich weiß, dass die Ägypter:innen sehr am Zuhören interessiert waren. Der Grieche Pythagoras ermutigte die Menschen sogar, 5 Jahre lang zu schweigen! Aber mit den Römer:innen ging das verloren, und seither konzentriert sich die Rhetorik auf das Sprechen. Ob wir nun an Wirtschaftsschulen oder in anderen Zusammenhängen studieren, der Schwerpunkt liegt darauf. Angesichts wachsender politischer Polarisierung in vielen Ländern wird es jedoch immer wichtiger, dass wir wieder lernen, einander zuzuhören.
Mir persönlich fällt es manchmal schwer, Menschen zuzuhören, deren Ansichten ich nicht teile. Vor allem, . Welche Tipps gibst du Teilnehmenden deiner Workshops, denen es ähnlich geht?
Emily Kasriel:
Das fällt mir selbst auch noch schwer. Ich gebe zwar regelmäßig Workshops und demonstriere den »Deep listening«-Ansatz, doch , fühle ich mich fast moralisch dazu verpflichtet, diese Aussage infrage zu stellen.
Es fühlt sich an, als würde die Aussage meine Identität bedrohen, wenn ich ihr Raum gebe. Ich verstehe also voll und ganz, dass viele Menschen in solchen Momenten nicht zuhören wollen oder können. Gleichzeitig gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Menschen, die das Gefühl haben, wirklich gehört zu werden, ihre extremen Einstellungen verringern. Während ihnen zugehört wird, entwickeln sie oft eine differenziertere Sichtweise.
Soweit ich beobachte, finden Versuche, einander wirklich zu verstehen, im gesellschaftlichen Kontext selten statt. Insbesondere das Thema Klimakrise führt in Deutschland derzeit zu heftigen Debatten, bei denen auch immer wieder Fakten und Meinungen vermischt werden.
Emily Kasriel:
In Bezug auf den Klimawandel sollten wir »Deep listening« auf jeden Fall öfter anwenden. Denn um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels zu verhindern, müssen wir alle mit ins Boot holen.
»Deep listening« kann uns dabei helfen, die Beweggründe der Menschen zu begreifen, die sich gegen Veränderungen sträuben – unabhängig davon, ob wir ihnen zustimmen. Wir können zum Beispiel verstehen, warum jemand so denkt wie die Milchbäuer:innen, die ich interviewt habe. Wir können nachempfinden, wie ihre Lebenserfahrungen ihre Ansichten geprägt haben. Dabei geht es mir nicht darum, faktenfreie Gespräche zu führen, in denen alle Informationen gleich viel wert sind, egal ob sie faktisch richtig oder falsch sind. Doch nur zu beweisen, dass wir recht haben, ist nicht der richtige Weg. Wir müssen einander mit Respekt und Verständnis begegnen, wenn wir eine Gesellschaft mit stärkerem Zusammenhalt schaffen wollen, die den Klimawandel meistern kann – und nicht eine Gesellschaft, die an Polarisierung zerbricht.
Wir alle haben eine Stimme. Doch hören wir allen zu?
Kann »Deep listening« also zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen?
Emily Kasriel:
Generell gilt: Eine pluralistische Gesellschaft, die Raum für eine große, repräsentative Auswahl von Perspektiven bietet, kann nur dann entstehen, wenn wir einander zuhören.
Ein Beispiel: Ich arbeite derzeit mit Führungskräften im humanitären Sektor. Wenn sie die Lebensumstände anderer Menschen verbessern wollen, müssen sie diese Menschen verstehen. Dabei ist Zuhören unerlässlich. Leider geschieht das zu selten. Allzu oft kommunizieren Menschen in Krisengebieten, die von den humanitären Diensten abhängig sind, nur das, von dem sie glauben, dass die andere Person es hören will – vor allem . Auch gegenüber Journalist:innen sagen Menschen oft Dinge, von denen sie glauben, dass die Leute sie hören wollen. Sie haben häufig nicht das Gefühl, dass hinter den Fragen der Journalist:innen echte Neugierde steckt, und drücken sich daher nicht authentisch aus. Damit gehen uns wichtige Perspektiven verloren.
Das klingt so, als ginge es hier auch darum, mithilfe des Zuhörens Macht zu verschieben – zum Beispiel zwischen Journalist:innen und ihren Interviewpartner:innen.
Emily Kasriel:
Richtig. Studien zeigen, dass gesellschaftliche Veränderungen nur dann stattfinden können, wenn diejenigen, die Macht haben, häufiger zuhören und diejenigen, die keine Macht haben, mehr Raum zum Sprechen bekommen.
Ob am Abendbrottisch, in den sozialen Medien oder im Europaparlament – Konflikte sind allgegenwärtig. Oft enden sie in Frustration, Beleidigungen oder sogar Gewalt. Lena fragt sich: Geht das nicht auch anders? Um herauszufinden, wie wir konstruktiver miteinander kommunizieren, gesündere Beziehungen aufbauen und so zu einer friedlicheren Gesellschaft beitragen können, hat sie interkulturelle und politische Kommunikation studiert. Derzeit absolviert sie eine Weiterbildung zur Konfliktmediatorin.