Der Baustoff der Zukunft heißt: Plastikmüll
Recycelte Kunststoffe als Baumaterial sind in anderen Regionen der Welt schon normal und lösen 2 Probleme auf einmal. Ein Text für alle, die genug von Beton haben – mit einer interaktiven Grafik, die dich überraschen wird.
Die Plastikflasche verschwindet im Schlamm. Behutsam ummantelt sie David Heitmann mit dem Lehmgemisch. Er greift zur nächsten Flasche und mauert sie ein, daneben die nächste und die nächste. Langsam nimmt die Wand Form an. Mehr als 100 1,5-Liter-Flaschen haben dort bereits Platz gefunden. Jede Flasche ist bis zum Rand mit einem halben Kilo Plastikmüll gefüllt, der ansonsten verbrannt worden oder in der Umwelt gelandet wäre. Er findet hier im »Recyclingdorf« am Rande des Regenwaldes auf Sumatra ein zweites Leben als Baumaterial.
Das Recyclingdorf ist eine Gebäudeansammlung im Touristendorf Bukit Lawang in Indoniesen und wurde von einer jungen Umweltschutzorganisation aus Koblenz ins Leben gerufen. Sie nennt sich
Nur 9% der geschätzt 7 Milliarden Tonnen Kunststoffabfälle, die global jemals angefallen sind, wurden recycelt.
Inhalte für die Ecobricks lassen sich auf Sumatra und den Nachbarinseln leicht finden. Plastikmüll ist eine schier endlose Ressource – und das nicht nur in Indonesien. Nur 9% aller Kunststoffe, die seit dem Beginn der industriellen Kunststoffproduktion
Wer in Indonesien nur wenige Meter abseits der Touristenpfade unterwegs ist, sieht und riecht das Problem:
- Plastikmüll türmt sich in offenen Deponien am Straßenrand. Von dort weht ihn der Wind in die Natur und nahegelegene Gewässer – oder er landet von vornherein dort. Das Plastik verstopft Flussläufe und verunreinigt das Grundwasser. Menschen vergraben es außerdem am Strand oder im Wald, um es loszuwerden.
Auf legalen und illegalen Deponien zu lagern und in die Umwelt gekippt zu werden – laut der OECD ist das das Schicksal von 71% des - Häufig wird Plastikmüll in Indonesien (wie in vielen anderen Ländern) offen verbrannt. Sicherheitsvorkehrungen gibt es kaum. Anwohner:innen sind den giftigen Dämpfen ausgesetzt, die
Die OCED schätzt, dass 19% des jemals angefallenen Plastikmülls verbrannt wurde. Dies jedoch nicht illegal, sondern zumeist zur Energiegewinnung. Inoffizielle Praktiken, die per Gesetz verboten sind, sind in der Statistik nur geschätzt.
Schuld an der prekären Müllsituation vieler Länder im Globalen Süden sind die Industrienationen des Globalen Nordens – die USA, Deutschland, Großbritannien und viele mehr. Sie haben Länder wie Indonesien ungeachtet der Konsequenzen jahrzehntelang als Müllhalde benutzt. Obwohl immer mehr betroffene Staaten
Immer mehr Unternehmen und Organisationen aus Industrienationen wie Project Wings, aber auch aus den betroffenen Ländern selbst wollen helfen, indem sie den dreckigen Plastikmüll aus der Natur einsammeln und ihm ein neues Leben schenken. Sie verwenden ihn als Baumaterial. Das soll zugleich bei einem zweiten globalen Dilemma Abhilfe schaffen: dem wachsenden Hunger nach Rohstoffen in der Bauindustrie.
Sie ist eine der Branchen mit dem höchsten Ressourcenverbrauch und dem größten Abfallaufkommen. Allein 8% der jährlichen weltweiten CO2-Emissionen entstehen durch die Herstellung von Beton,
Denn: Es müssten jeden Tag 96.000 neue erschwingliche Wohnungen fertiggestellt werden, um die bis 2030 geschätzt 3 Milliarden Menschen, die ein Zuhause brauchen, zu beherbergen. Die meisten davon in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Karibik. Das hat UN-Habitat,
Der Weltmarkt zur Herstellung von Betonsteinen und Ziegeln wächst derzeit stark, wie eine Untersuchung von Research and Markets zeigt: Im Jahr 2019 war er 1,7 Milliarden US-Dollar wert, bis 2027 soll dieser Wert um 1/3
Kann Plastikmüll also 2 Fliegen mit einer Klappe schlagen und sowohl Teil der Lösung für die Baubranche als auch für die Umweltverschmutzung sein? Wie gut eignen sich Kunststoffe wirklich als Baumaterialien?
Eignen sich Kunststoffe zum Bauen?
Fensterrahmen, Gartenzäune, Rohre, Vinylböden, Schalldämpfer, Dichtungen, Bänke – viele Bestandteile eines Hauses sind aus Kunststoffen. Dass das heute so selbstverständlich ist,
Die meisten Kunststoffe, die heute verbaut werden, wurden extra dafür hergestellt. Manche Produkte enthalten einen kleinen Anteil Recyclingplastik. Selten bestehen sie aus 100% wiederverwertetem Altplastik und noch viel seltener ist dieses Altplastik Müll, der aus der Natur oder von Deponien stammt. Denn dieser ist besonders schwer aufzubereiten. Daher sind die wenigen Blumentöpfe und Parkbänke aus 100% Recyclingplastik bislang teuer.
Immer mehr Forschende und Unternehmer:innen in der Baubranche suchen nun nach neuen Methoden, Plastikmüll aufzubereiten und
Von der vollgestopften Plastikflasche zum übergroßen Legostein: So unterschiedlich sind die Ideen
Der Hauptzweck einer Wand besteht darin, das Dach und den Boden eines Hauses zu stützen und Schutz vor der Witterung zu bieten. Nicht tragende Wände dienen dazu, Räume innerhalb des Hauses oder der Wohnung weiter einzuteilen. Um eine Wand zu bauen, müssen mehrere Elemente übereinandergeschichtet werden, ähnlich wie bei einem Burger.
Das Mauerwerk, die tragende Struktur der Wand, besteht oft aus Beton, Ton, Lehm oder Kalksandstein. Diese könnten im großen Stil durch recycelten Plastikmüll ersetzt werden, wie Studien und Praxisbeispiele in den vergangenen Jahren gezeigt haben.
Einige Unternehmen ersetzen die herkömmlichen Baustoffe im Mauerwerk mit vollgestopften Plastikflaschen. Andere Unternehmen betreiben einen aufwendigeren Prozess. Sie schmelzen den Plastikmüll ein, pressen ihn zu Ziegelsteinen oder vermischen ihn mit anderen Materialien wie etwa Sand, Staub, Schutt, zerkleinertem Glas oder Sägespänen. Das braucht entsprechendes Equipment wie Schmelzanlagen oder Pressen, kostet daher auch mehr. Manche stellen ihre Ideen und den Herstellungsprozess anderen offen zur Verfügung (Open Source), andere wollen ihren Lebensunterhalt davon bestreiten oder auch Profit daraus schlagen.
Das sind die 3 Verfahren, die derzeit am weitesten verbreitet sind:
1. Ecobricks: Wände aus Plastikflaschen
Zurück zum Recyclingdorf nach Indonesien. Dort nutzt Project Wings in enger Zusammenarbeit mit den Einheimischen die wohl einfachste, aber am weitesten verbreitete Baumethode, die Ecobricks. Die gemeinnützige Organisation aus dem Rheingebiet hat sich bewusst dafür entschieden:
Wir wollten eine möglichst niederschwellige Lösung finden, die günstig und leicht umsetzbar ist. Eine, an der alle teilnehmen und mithelfen können. Uns geht es nicht nur darum, Häuser zu bauen und die Plastikverschmutzung zu verringern. Wir wollen das Bewusstsein der Menschen in Bezug auf Plastik verändern und mit ihnen zusammen an einer Gesamtlösung arbeiten, die sich leicht kopieren und auf andere Regionen der Welt übertragen lässt.
Der 29-Jährige plant ehrenamtlich die Häuser für das Recyclingdorf. Die NGO hat ein Pfandsystem eingeführt, bei dem derzeit über 300 Menschen aus der Region mitmachen. »Sie können selbst Plastik in der Natur und ihrem Haushalt sammeln, Ecobricks herstellen und diese bei uns abgeben«, sagt David. Pro Ecobrick bekämen die Einheimischen umgerechnet 42 Cent, was für eine warme Mahlzeit reichen würde und ein kleiner Nebenverdienst für viele Familien darstellt.
Weitere Ecobrick-Gebäude stehen bereits in
Die Bautechnik ist Open Source und für alle einsehbar. Die Global Ecobrick Alliance
- Es soll nur nicht recycelbarer Plastikmüll verwendet werden oder solcher, der zuvor die Umwelt verschmutzt hat.
- Das Altplastik muss zuerst gewaschen,
- Ecobricks sollen nur für kleine, einstöckige Bauten verwendet werden. Für den Bau mit Ecobricks empfiehlt das Unternehmen, die Bausteine waagerecht in Lehmmörtel zu verbauen. Eine Alternative besteht darin,
Was wir aus der Forschung
2. Ziegelsteine aus einer Plastikmüll-Mischung
Die wohl am zweithäufigsten verwendete Variante ist, einen gewissen Anteil an Altkunststoffen in Lehm- oder Zementziegeln zuzufüttern. Dadurch sollen Ressourcen und vor allem Kosten gespart werden. Dabei sind die Kombinationsmöglichkeiten,
Die meisten Unternehmen ersetzen einen Anteil von
Die verschiedenen Methoden sind nur schwer zu vergleichen: Die Unternehmen machen ihre genauen Zusammensetzungen nicht publik, schließlich wollen sie damit Geld verdienen. Und es gibt bisher nur wenige Studien zum Thema, die aussagekräftig sind. Auffallend ist jedoch, dass fast alle Forschungsprojekte und Unternehmen zu dieser Methode aus
Was wir aus der Forschung wissen:
3. Bausteine aus 100% Plastikmüll
Seit ungefähr 10 Jahren versuchen sich Unternehmen auch an der Königsdisziplin: Bauelemente aus zu 100% wiederverwendeten Kunststoffabfällen herzustellen. Einige haben es geschafft,
Von der Herstellungsweise ähneln sich die meisten Techniken. Die Kunststoffarten, die verwendet werden, variieren, und damit auch deren Schmelzpunkt und wie viel Energie zum Einschmelzen benötigt wird. Was sich außerdem stark unterscheidet, sind die Formen und die Bauweise. Das zeigt sich gut an den 2 wohl erfahrensten Unternehmen, die diese Baumethode verfolgen:
- ByFusion: Das 2017 gegründete Unternehmen aus Kalifornien geht einen etwas anderen Weg. Durch seinen patentierten Recyclingprozess muss das Altplastik, welches das Unternehmen verwendet, nicht einmal großartig gesäubert werden. Es wird durch Dampf geschmolzen und in 10 Kilogramm schwere, große Blöcke gepresst. Für den Bau sind weder Mörtel noch Klebstoffe erforderlich. Die Blöcke werden aufeinandergestapelt und mit Draht ineinander verzahnt.
Einen nochmals anderen Weg hat die britische gemeinnützige Organisation Recycle Rebuild eingeschlagen. In Zusammenarbeit mit dem niederländischen Netzwerk
Was wir aus der Forschung
Was Plastik als Baumaterial leisten kann – und was nicht
Ein Sprung zurück zum Recyclingdorf nach Indonesien.
Project Wings hat es nach eigener Aussagen geschafft, dass die Straßen in Bukit Lawang sauberer wurden und der Bau sowie das Pfandsystem einige vom Tourismus abhängige Einwohner:innen auch finanziell durch die Pandemie geholfen hat. Doch welchen genauen Einfluss das Projekt nun auf die Umwelt in Sumatra und seine Einwohner:innen hat, ob es die Müllberge verkleinert, Baumaterial eingespart wird oder die Baumethode mittel- und langfristig Anklang finden wird und mehr Jobs kreiert, kann die Organisation nicht messen. Es würden zu viele Faktoren hineinspielen. So geht es auch den anderen Unternehmen und der Forschung, von der noch einiges nötig ist.
Die 3 Baumethoden haben sehr verschiedene Vor- und Nachteile. Ecobricks sind die günstigste und einfachste Methode, die sich vor allem für Regionen mit tropischem Klima eignet. Sie ersetzen jedoch eher Lehm- als Betonziegel. Ihre Bauweise lässt sich auch nicht standardisieren, weshalb sie für einen unternehmerischen Maßstab nicht skalierbar ist. Diesen Schritt haben die anderen 2 Baumethoden hingegen schon genommen. Ziegel aus einer Kunststoffmischung oder aus 100% recyceltem Altplastik folgen ausgetüftelten Herstellungsprozessen und sind teilweise bereits auf Sicherheits- und Brandschutzmaßnahmen geprüft. Dafür ist ihre Herstellung teuer, benötigt Fachwissen und ein spezielles Equipment.
Ein Hindernis haben jedoch alle 3 Baumethoden, das das Wachstum der neuen Branche hemmt: Viele Länder haben bisher
Trotzdem finden immer mehr Menschen Gefallen an der Idee und steigen mit ihren eigenen lokalen Varianten in das Geschäft ein. Denn sie sehen das Potenzial vor Ort: die Vermüllung, Menschen, die auf der Straße oder in instabilen, provisorischen Häusern leben, während die Kosten für Baumaterialien aus Nachhaltigkeitsgründen und wegen Ressourcenknappheit immer weiter steigen.
Für sie sind Häuser aus recyceltem Plastikmüll keine Ideallösung für die Plastikflut, auch nicht um die Baubranche nachhaltiger zu gestalten. Häuser aus recycelten Kunststoffen können weder ein funktionierendes Abfallmanagement ersetzen, noch gehen sie das Plastikproblem an der Wurzel an: bei der Überproduktion und dem Überkonsum. Sie sind aber auch mehr als eine Notlösung. Sie sind eine reale soziale Lösung, die sich jetzt sofort mit dem nötigen Wissen etablieren lässt, um Menschen ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu geben, Orte der Bildung und Sanitäranlagen zu bauen, Jobs zu schaffen. Sprich: die Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Wie gut das Bauen mit Altplastik in der Praxis funktioniert und welche Auswirkungen ein lokales Projekt auf die Gemeinschaft haben kann, das hat ein kenianischer Journalist für uns vor Ort recherchiert. Seine Ergebnisse findest du im nächsten Artikel unserer Serie
This project was funded by the European Journalism Centre, through the Solutions Journalism Accelerator. This fund is supported by the Bill & Melinda Gates Foundation.
Dieses Projekt wurde vom European Journalism Center im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator gefördert. Die Förderung wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
Korrektur: In einer vorherigen Version des Textes stand, dass 4/5 des Plastikmüll vom Land ins Meer gelangen. Das ist falsch. 80% des Plastikmülls, das sich im Meer befindet, stammt vom Land. Von den über 300 Millionen Tonnen Kunststoff, die jedes Jahr produziert werden, gelangen schätzungsweise 14 Millionen Tonnen jährlich ins Meer, also 4,7%. Es gibt auch noch höhere Schätzungen. Danke für den Hinweis.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily