So lebst du weniger egoistisch
Immer mehr Menschen fühlen sich einsam in einer Welt, die von Individualismus geprägt ist. Doch es gibt Regionen in der Welt, wo nachbarschaftliche Solidarität und soziale Verantwortung noch gelebt werden.
Während ich diese Zeilen schreibe, bekomme ich mit, dass es bei meiner Nachbarin ins Zimmer tropft. Die Quelle vermuten wir in der Wohnung über ihr. Die Person, die dort wohnt, kennt die Nachbarin nicht, obwohl sie schon seit anderthalb Jahren in dem – für Berliner Verhältnisse – kleinen Mietshaus wohnt. Die Hausverwaltung findet heraus, dass die betreffende Dame verreist ist. Glücklicherweise kann ein Kontakt hergestellt werden. Sie bittet ihren Sohn, der in einem anderen Stadtteil wohnt, den Hauptwasserhahn abzustellen, was er auch tut. Leider tropft das Wasser gegen Abend weiter und es wird immer schlimmer. Wir vermuten, dass die Heizung leckt. Wir rufen den Sohn gegen 20 Uhr nochmals an und bitten ihn, noch einmal herzukommen. Er meint, dass ihm das nicht passe und, so wortwörtlich‚ wir uns nach seinen Zeiten richten sollten, er käme am nächsten Morgen. Dass ein erheblicher Sachschaden droht und die Nachbarin im Regen sitzt, scheint ihn wenig zu beeindrucken. Nur mit vereinten Kräften und Bitten und Betteln können wir ihn überzeugen, sich auf den Weg zu machen.
Das Buch: »Was wir von anderen Kulturen lernen können«
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Wie bleiben wir fit im Alter? Wie arbeiten wir stressfreier? Wie fühlen wir uns miteinander verbundener? Um die Krisen unserer Zeit zu lösen, brauchen wir neue Perspektiven, sagt Gundula Gwenn Hiller. Die Expertin für interkulturelle Kommunikation hat in ihrem neuen Buch Lösungen aus der ganzen Welt gesammelt. Dieser Text ist ein Auszug daraus.
Bildquelle: GABALIch muss sagen: So etwas empört mich richtig! Wieso lässt sich jemand in einem Notfall so bitten? Wo ist da das Gefühl für soziale Verantwortung, für nachbarschaftliche Hilfe? Sind die meisten von uns zu Egoman:innen geworden? Und warum kennen sich Menschen, die im selben Treppenaufgang wohnen, nicht? Warum werden keine Schlüssel hinterlegt für Notfälle? Ja, wir haben ein Problem mit Rücksichtslosigkeit und auch mit Anonymität und Einsamkeit.
Der Bundestag hat 2021 in einem
Der renommierte Psychiater und Gehirnforscher Manfred Spitzer
Das sind besorgniserregende Entwicklungen, finde ich. Und deshalb wäre es doch eine gute Idee, einmal dort hinzuschauen, wo es gut läuft mit dem sozialen Zusammenhalt. Dieser nimmt vermutlich weltweit ab, doch gibt es Regionen, wo Werte wie Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit auch heute noch eine große Rolle im Alltag spielen.
Skandinavische Glücksvorbilder
Meik Wiking, der Direktor des
Insbesondere Schweden könnte unser Vorbild sein, was sozialen Zusammenhalt angeht. Gemeinschaftssinn ist dort ein Grundsatz und spiegelt sich sowohl in der Organisation des Staats als auch in der Gesellschaft wider. Die in Schweden weit verbreitete lagom-Haltung (auf Deutsch: das richtige Maß) fördert gute Beziehungen zu den Menschen im eigenen Umfeld bis hin zum Vertrauen in die gemeinsame Verantwortung der Gesellschaft.
Schwed:innen lieben auch jede Form von organisierter Gemeinschaft, wie Vereine, Chöre, Lesezirkel etc. Ab 3 Personen kann schon eine staatliche Förderung beantragt werden.
Und natürlich trägt das schwedische fika zur Festigung der sozialen Beziehungen bei. Fika ist die coolere, ausgedehntere Variante von »Kaffee und Kuchen«: eine Pause vom Alltag, die Menschen treffen sich, trinken Kaffee, essen etwas Süßes dazu und unterhalten sich oft stundenlang. Fika ist eine soziale Institution, die sich auch im Kaffeeverbrauch Schwedens niederschlägt: Dort wird doppelt so viel Kaffee getrunken wie in so manchen anderen Ländern.
More than words
Gemeinschaftsgefühl, Eingebundensein, sozialer Zusammenhalt und Zugehörigkeit: All dies sind wichtige Voraussetzungen für unser Wohlbefinden, sowohl im Privaten als auch in der Arbeitswelt. Hierfür bräuchten wir mehr Solidarität sowie liebevolle Zuwendung und Großzügigkeit.
In manchen Kulturen gibt es wunderschöne Begriffe, die das zum Ausdruck bringen. Das können Adjektive sein wie zum Beispiel das aus dem Gälischen stammende flaithiúl, das im irischen Englisch häufig verwendet wird. Es bezeichnet die Eigenschaft, die ein gutes Mitglied einer Gemeinschaft haben sollte: freigiebig, großherzig und großzügig. Es leitet sich vom Wort flaith (= Fürst) ab und beschreibt jemanden, der großzügig und gleichzeitig fürsorglich ist. Dazu gehört die Bereitschaft, Menschen in Not zu helfen, sich ehrenamtlich zu engagieren oder auch zu spenden.
Wussten Sie, dass Irland mehrfach zur hilfsbereitesten Nation Europas gekürt wurde?
Wussten Sie, dass Irland mehrfach zur hilfsbereitesten Nation Europas gekürt wurde?
Großzügigkeit und Gastfreundschaft werden in vielen Regionen der Welt großgeschrieben. Das beinhaltet auch melmastia, ein Wort aus der Sprache Paschtu, die in Pakistan und Afghanistan gesprochen wird. Dort gibt es einen
Übertragen auf unseren Kulturkreis wäre das Nächstenliebe, einer der zentralen Werte des Christentums. In unserer zunehmend areligiösen Gesellschaft könnten wir etwas mehr davon doch gut gebrauchen! Und wenn wir auch mit großen Bedenken auf die Entwicklungen in jener Weltregion, in der Paschtu gesprochen wird, blicken: Könnte uns dieser alte Gedanke von Großherzigkeit nicht dennoch dazu inspirieren, offener auf Fremde zuzugehen und zum Beispiel mit den bislang nur flüchtig bekannten Nachbar:innen in Kontakt zu treten?
Wer allein ist, ist aber nicht gleich einsam. Katharina Wiegmann hat mit einer Autorin gesprochen, die Menschen rät, mehr für sich zu sein:
Früher war ich oft in Polen, wo ich viel Gastfreundschaft und auch Großzügigkeit erlebt habe. Besonders schön finde ich den Brauch, dass an Weihnachten beim Festmahl ein zusätzlicher Platz eingedeckt wird, für den Fall, dass ein Mensch, ob Fremde:r oder Freund:in, unerwartet vorbeikommt. Diese Form polnischer Gastfreundschaft wird in dem Sprichwort »Gość w dom, bóg w dom« (auf Deutsch: Gast im Haus, Gott im Haus) zum Ausdruck gebracht.
Wie schon erwähnt, habe ich große Gastfreundschaft in vielen Ländern erlebt, von Polen über Italien, Nepal, Thailand, die Türkei und die USA bis Neuseeland.
Ich habe mich einmal in Istanbul verirrt und bin in einem gänzlich falschen Stadtteil gelandet. Ohne dass wir uns in einer gemeinsamen Sprache verständigen konnten, hat sich eine Frau meiner angenommen und ist mit mir über eine Stunde lang Bus gefahren, bis ich an der richtigen Haltestelle war.
Gemeinschaftsgefühl kultivieren
Eine wertvolle Inspirationsquelle zum Kultivieren von Großzügigkeit und Gemeinschaftsgefühl ist für mich der Buddhismus, der dazu eine Reihe konkreter Techniken anbietet. Das Wort maitrī (मैतर्ी) kommt aus dem Sanskrit und heißt Freundschaft, Güte, Wohlwollen oder auch Freundlichkeit zu allen Wesen. Im Buddhismus gibt es Jahrtausende alte Praktiken, die sich dem Gefühl der »liebenden Güte« und des Mitgefühls widmen.
Eine inzwischen auch im Westen bekannte Meditationspraxis heißt metta bhavana oder »Liebende-Güte-Meditation«. Metta steht für eine allumfassende, bedingungslose Liebe gegenüber allem auf der Welt, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze. Die metta-Meditation ist darauf ausgerichtet, ein Gefühl der Güte und des Wohlwollens in sich zu generieren und dies dann in alle Richtungen auszustrahlen.
Auf Youtube gibt es etliche geführte metta-Meditationen. Hier findest du ein Beispiel:
ubuntu
Ein wunderbares Konzept, oder mehr noch, eine allumfassende, tief humanistische Lebensphilosophie finden wir auch in Afrika. Am bekanntesten ist dieses Konzept unter dem Namen ubuntu, einem Wort aus der Sprachfamilie der Nguni-Bantusprachen, die im südlichen Teil Afrikas gesprochen werden. Übersetzt wird ubuntu oft mit »Menschheit«, aber es bezeichnet viel mehr ein tiefes Wissen um die Verbundenheit zwischen allen Menschen.
Während wir im Westen bei »Ich« normalerweise an uns als ein Individuum denken, wird in Afrika das Individuum als ein untrennbarer Teil einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen
Es ist eine Philosophie, aber auch ein spirituelles Weltbild und im heutigen Südafrika eine gesellschaftspolitische Grundhaltung. Sie erlebte nach dem Ende des
Diese Auffassung entsteht aus dem Wissen, dass unser Überleben abhängig ist vom Mitgefühl und der Fürsorge anderer. Und dass ein Mensch erst zu einer Person wird, wenn sie oder er sich im anderen gespiegelt sieht. Das beinhaltet auch den Gedanken, dass wir uns nur dank anderer Menschen zu der Person entwickeln, die wir sind, also durch unsere Eltern und Verwandten, aber auch durch alle anderen Menschen, die uns auf dem Weg begegnet sind.
Wir Menschen sind für das Zusammensein geschaffen und alles, was wir in der Welt lernen und erfahren, basiert auf unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns anderen gegenüber zugewandt verhalten.
Das Konzept ubuntu erinnert an die jedem Menschen innewohnende Würde und beinhaltet den Gedanken, dass wir anderen Menschen Respekt erweisen und uns um sie kümmern, weil sie genauso wichtig und wertvoll sind wie wir selbst.
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Vielleicht findet sich dieses Prinzip auch in der westlichen Philosophie ein Stück weit in der Aufforderung wieder, andere so zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte, bekannt auch als Kants kategorischer Imperativ.
Doch was uns grundlegend von Menschen unterschiedet, die ubuntu verinnerlicht haben, ist die Art, wie wir unser Ich denken und wahrnehmen. Während wir im Westen bei »Ich« normalerweise an uns als ein Individuum denken, wird in Afrika das Individuum als ein untrennbarer Teil einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen. Was bedeutet: Mein Menschsein ist untrennbar verbunden und verflochten mit deinem! Und das heißt, konsequent zu Ende gedacht, dass nur, was der Gemeinschaft dient, auch für das Individuum gut ist. Ich denke, das ist uns in der westlichen Welt etwas aus dem Blick geraten. Aus diesem Grund lohnt es sich unbedingt, sich ubuntu genauer anzuschauen!
Wir alle wollen dazugehören. Es liegt in der menschlichen Natur, in einer Gemeinschaft zu leben. Doch heute ist es wichtiger denn je, zu lernen, mit jedem zusammen zu leben und zu arbeiten, auch mit Fremden. Wenn wir unsere Brüder und Schwestern als unsere Alliierten betrachten, profitieren wir alle davon; sich in anderen Menschen zu sehen, ist eine mächtige Kraft, die dem Guten dient.
Laut Mandela gibt es eine zentrale Frage, die wir uns im Leben stellen sollten: »Was willst du tun, um die Gemeinschaft um dich herum zu ermächtigen und sie zu befähigen, besser zu werden?«
Wir können alle unseren Teil beitragen! Und wenn es nur durch ein Lächeln ist.
Lächeln und Umarmungen sind der physische Ausdruck von ubuntu. Auch kleine, freundliche Gesten sind eine Möglichkeit im Alltag, ubuntu zu manifestieren. Gemäß dieser Lebensphilosophie ist die Zeit, die Menschen damit verbringen, sich um andere zu kümmern, nie verschwendet.
Auch die Fähigkeit, sich zurückzunehmen und gut zuzuhören, gehört zu ubuntu. Sagt man im südlichen Afrika über eine Person, sie habe ubuntu, ist damit gemeint, dass sie großzügig, gastfreundlich, freundlich, fürsorglich und mitfühlend ist. Es heißt auch, dass Menschen mit ubuntu eine Glücksquelle in sich haben.
Beispiel für gelebtes ubuntu
Als Musterbeispiel für gesellschaftlich gelebtes ubuntu gilt die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission. Sie wurde 1996 durch Präsident Nelson Mandela eingesetzt und sollte Verbrechen aufklären, die während der Apartheid begangen wurden. Das primäre Ziel war es nicht, Schuldige zu bestrafen, sondern Reue zu belohnen und Opfer sowie Täter:innen in einen Dialog zu bringen. So sollte durch umfassende Aufklärung eine Grundlage für Versöhnung geschaffen werden. Dieses Konzept der »heilenden Justiz« hat Julia Tappeiner hier beschrieben.
Gelebtes ubuntu heißt auch, dass die Menschen in all ihrer kulturellen und persönlichen Unterschiedlichkeit stets respektvoll behandelt werden. Nelson Mandela, der nach Überwindung der Apartheid 1994 Präsident wurde, verkündete, dass das multikulturelle Südafrika von nun an eine »Regenbogennation« sein solle, in der alle Kulturen (es gibt dort 11 offizielle Landessprachen!) ein gleichberechtigtes Miteinander leben sollten. So lehrt ubuntu auch, die Vielfalt der Menschen zu begrüßen und zu schätzen, in dem Wissen, dass alle Menschen letztlich vereint sind.
Das offizielle Motto der Regenbogennation ist übrigens »Unity in diversity«. Es ist sicher kein Zufall, dass ubuntu ganz groß geschrieben wird in einem Land, das ein so ungerechtes System wie die Apartheid überwinden konnte. Und ich glaube, dass ubuntu Nelson Mandela die Kraft gegeben hat, im Gefängnis auszuharren, den Glauben an die Menschheit nicht zu verlieren und danach die Gräben in dem tief gespalteten Land zu überwinden.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily