Von klein auf bekommen wir beigebracht, dass man nicht streiten solle. Denn Streit bringe Unruhe, angespannte Beziehungen und verletzte Gefühle mit sich.
In Büchern, Serien, Filmen zeigen Streits meist nur die Momente, in denen eine Krise eskaliert, die Teller fliegen und Beziehungen unheilbar in die Brüche gehen.
Doch was, wenn wir von Kindheit an falsch lagen?
Einer, der das so sah, war der Schweizer Schriftsteller Max Frisch:
Krise ist ein produktiver Zustand. Man muß ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.Max Frisch
Für ihn gehörte Streit zum Leben und zu einer gesunden Auseinandersetzung mit sich und seinen Bezugspersonen. Und Frisch stritt viel und sogar öffentlich: Mit seiner in Reden und politischen Plädoyers und sogar in Werken wie der Streitschrift über seine Heimat »Achtung: Die Schweiz«.
Auch Konfliktberater Karl-Heinz Bittl ist überzeugt vom konstruktiven Potenzial des Streits. Max Frischs Zitat ist nicht umsonst seine vielsagende E-Mail-Signatur.
Es verdeutlicht, wie Bittl auf Uneinigkeiten in der Gruppe oder auf persönliche Krisen blickt: gelassen. Denn für ihn können Konflikte im Leben helfen – wenn wir sie annehmen und richtig damit umgehen. Dafür hat er eine eigene Methodik entwickelt.
Im Interview erzählt der Konfliktcoach von seiner Arbeit mit Gruppen, in denen es kriselt, und erklärt, wie man Konflikte konstruktiv angeht.
Julia Tappeiner:
Du berätst Schulklassen, Teams in Unternehmen und Paare, wenn es in deren Beziehungen kriselt. Woher kommt deine Faszination für Konflikte?
Karl-Heinz Bittl:
Meine Eltern haben immer sehr harmonisch miteinander gelebt. Das heißt, ich habe in meiner Kindheit fast keine Konflikte mitgekriegt. Dann kamen die späten 60er- und frühen 70er-Jahre und es hat . Das hat mich fasziniert.
Die Zeit gilt ja bis heute als Ära der Umbrüche, Krisen und Veränderungen. In den USA etwa stritten Vietnamkriegsbefürworter:innen mit der Friedensbewegung, kämpften die Hippies gegen das Establishment. Welchen Konflikten bist du da persönlich begegnet?
Karl-Heinz Bittl:
Ich war sehr kirchlich engagiert, und zu dieser Zeit begann der Ein banales Beispiel: Wir waren Pfadfinder und wollten Mädels in der Gruppe haben. Da haben wir angefangen, uns dafür einzusetzen, und sind deshalb aus der Gemeinde rausgeflogen.
Ein weiteres Beispiel: Ich habe eine Ausbildung gemacht, zu der Zeit, als gerade das eingeführt wurde. wollten nicht mehr 2 Stunden am Tag nur putzen und sind daher streiken gegangen.
Ich habe sehr viele schöne Erfahrungen damit gemacht, dass Konflikte, die wir ausgetragen haben, auch meistens dazu geführt haben, dass wir etwas erreichen konnten.
Das sind strukturelle Konflikte, die zum Beispiel in einer Demokratie ausgetragen werden, um das Zusammenleben neu zu regeln. Was ist mit Konflikten in persönlichen Beziehungen?
Karl-Heinz Bittl:
Ich habe 4 Kinder großgezogen und eine Scheidung durchgemacht. Da gab es immer wieder mal Streit. Früher wollte ich diese Konflikte gerne vermeiden. Doch je mehr ich sie vermeiden wollte, desto schwieriger wurde alles. Für mich wurde es leichter, als ich erkannte, dass Konflikte zum Leben dazugehören.
Auch während meines Studiums der Sozialarbeit und der therapeutischen Ausbildungen, die ich zusätzlich absolviert habe, habe ich gemerkt: Wer keine Konflikte hat, der hat meistens ein Problem.
Du gehst sogar so weit zu sagen »Streiten verbindet«, was zunächst einmal wie ein Widerspruch klingt.
Karl-Heinz Bittl:
Klar, Konflikte tun weh. Sie sind auch mit Schmerzen und mit viel Unbehagen verbunden. Dennoch bringen sie einen weiter. Weil sie immer etwas aufgreifen, was mit unseren Bedürfnissen zu tun hat; oder mit Ungerechtigkeit, wenn es strukturelle Konflikte sind. Ein Konflikt zeigt, dass etwas geklärt werden muss.
Das dürfte politisch wie persönlich gelten. Warum sehen wir Konflikte dann so negativ?
Karl-Heinz Bittl:
Die meisten Menschen sehen Konflikte so negativ, weil viele ins Leere laufen oder gar gewalttätig werden. Aber das ist nicht das Merkmal eines Konfliktes. Die Frage ist nur, wie der Konflikt ausgetragen wird.
Also geben gescheiterte Konflikte dem Streiten einen schlechten Ruf. Um Konflikte so auszutragen, dass sie verbinden und nützlich sein können, hast du mit deinem Kollegen Hervé Ott das entwickelt – die französische Abkürzung für »Konflikte rechtzeitig wahrnehmen und konstruktiv bearbeiten«. Kannst du diesen Ansatz kurz erklären?
Karl-Heinz Bittl:
In unserer Arbeit haben wir festgestellt, dass ein Konflikt aus 6 verschiedenen Ebenen besteht: die personale Ebene, die Struktur, die Kultur, Rituale, Werte und Regeln. Erkennen wir, welche Ebenen aktiv sind, finden wir leichter einen Zugang zu dem Problem und verstehen, wie wir es angehen können.
Aber ist es nicht besonders schwierig, wenn ein Konflikt eine personale Ebene hat? Denn dann kommen viele Emotionen ins Spiel.
Karl-Heinz Bittl:
Ja, auf der personalen Ebene entsteht Streit oft spontan und wird hoch emotional ausgetragen. Aber was steht dahinter?
Dann wird eines unserer Bedürfnisse nicht gesehen. Wir agieren aus der Angst heraus, dass wir zum Beispiel nicht geliebt werden oder verletzt werden können.
Haben wir hingegen einen ständigen, wiederholenden Ärger bezogen auf eine Situation oder einen Menschen, so fehlen meist Regeln oder sie werden nicht beachtet. Hier muss die Möglichkeit eingeführt werden, den Verstoß der Regeln zu sanktionieren.
Hast du ein Beispiel?
Karl-Heinz Bittl:
Zum Beispiel wenn unsere Tochter kocht und die Küche trotz mehrmaliger Gespräche nicht aufräumt, dann muss die Konsequenz folgen, dass sie nicht mehr in der Küche kochen darf.
Und die anderen Ebenen, wie spielen die da rein?
Karl-Heinz Bittl:
Fühlen wir uns erschöpft, spielt meist die strukturelle Ebene eine Rolle. Solch einen Konflikt zu bearbeiten, bedeutet, Gleichgesinnte zu finden und dann gemeinsam die Strukturen dahinter zu verändern.
Konflikte, die mit Werten zu tun haben, stürzen uns beständig in Dilemmata. Typische Wertekonflikte kenne ich mit meinen Kindern, wenn sie in die Pubertät gekommen sind, oder bei Umstrukturierungen von Organisationen und Teams in Unternehmen.
Analyse ist das eine, aber wie kannst du mit dem Ansatz in deiner Arbeit als Konfliktberater einen Streit lösen?
Karl-Heinz Bittl:
Gestern war ich in einem Kinderhort. Die Erziehenden hatten einen gewaltigen Streit mit einer Kollegin, weil sie sich nicht an Vereinbarungen hielt. Zum Beispiel ließ sie die Kinder frei auf Youtube suchen, obwohl sich das Team geeinigt hatte, das zu verbieten.
Ich habe dann Karten auf den Tisch gelegt, auf denen Indikatoren der Konfliktebenen stehen – Gefühle, die auf die jeweilige Ebene schließen lassen. Die Teilnehmenden sollten sagen, welche dieser Gefühle am stärksten ihrem Zustand entsprechen. Alle wählten die Karte Ärger und die meisten noch die Karte mit der Erschöpfung. Aktiv waren also vor allem die Regelebene und die Strukturebene.
Dann arbeitete ich mit ihnen an den Regeln. Wie verbindlich sind sie? Dabei stellte sich heraus, dass die Leitung des Kinderhortes es nicht wagt, bei Regelverstößen eine Sanktion auszusprechen. Nach weiterem Nachfragen wurde klar: Das liegt daran, dass sich die Leitung in ihrer Rolle unsicher ist, da sie nur kommissarisch angestellt ist.
Das Ergebnis war dann, dass wir klare Regeln für den aufgestellt haben und gleichzeitig auch Sanktionen definiert, falls diese nicht eingehalten werden. Wir haben daran gearbeitet, Verständnis für die Situation der Leiterin und der betroffenen Erzieherin zu finden. Und wir haben Verhandlungen mit den Verantwortlichen in die Wege geleitet, damit die unklare Besetzung der Leitungsstelle bald geklärt wird.
Verstehe: Karten auf den Tisch legen, Emotionen erklären, Ursachen des Streits finden, nachfragen und etwas verändern. Lässt sich das auch auf persönliche Krisen übertragen, um mit ihnen konstruktiver umzugehen?
Karl-Heinz Bittl:
Der erste Schritt ist immer, wahrzunehmen, was ich empfinde. Ich hatte zum Jahresende eine ziemliche Krise in Bezug auf meine Arbeit. Ich war müde, erschöpft und hatte massive Schlafstörungen. Ich habe mich dann hingesetzt und mir meine Situation mithilfe der ATCC-Methode angesehen. Dafür habe ich ein Bild gemalt: »Mich und die Welt«. Als ich damit fertig war, habe ich meiner Frau und Freunden mein Bild gezeigt und wir haben uns darüber ausgetauscht. Für mich hat sich in den Gesprächen meine Situation offenbart. Es war klar, dass sich die politische Situation für mich bedrohlich anfühlt. Was mich erschöpft hat, war meine eigene Rolle darin. Ich wirkte wie ein Gefangener. Ich hatte mir keine Erlaubnis gegeben, meine Wut in meine Arbeit zu integrieren. Dabei ist Wut gar nicht destruktiv! Sie ist eine wunderbare Kraft, um strukturell etwas zu verändern.
Tragen wir Konflikte und persönliche Krisen heute anders aus als früher?
Karl-Heinz Bittl:
Ja, es gibt eine größere Bereitschaft, Konflikte in Arbeitsbeziehungen und Teams auszutragen. In vielen Behörden oder Firmen gibt es dafür eigens Konfliktberatungen. Es sind also Strukturen da, die es ermöglichen, wichtige Themen auszuhandeln.
Im persönlichen Bereich habe ich hingegen den Eindruck, dass Konflikte heute ein Tabu darstellen. Da gab es eher einen Rückschritt.
Ach ja? Wir vermeiden also Konflikte mit Freund:innen und Familie heute mehr als früher?
Karl-Heinz Bittl:
Ich finde schon. Die vielen politischen Krisen, die wir gerade erleben, erscheinen uns zu viel. Das führt dazu, dass wir Konflikte auf persönlicher Ebene so weit wie möglich vermeiden wollen. Es wird eine Harmonie erzwungen, die eigentlich schädlich ist.
Ein weiterer Grund ist die Verunsicherung. Ratgeber und Optimierungs-Apps stellen heute hohe Ansprüche an den Einzelnen. Ängste werden nicht offen angesprochen, da man sich sonst als Versager fühlt. So versuchen viele Menschen, unrealistischen Ansprüchen gerecht zu werden. Das ist schädlich für die mentale Gesundheit, aber auch für Beziehungen.
Wenn du einem Menschen einen Rat geben könntest, der gerade in einer Krise steckt, sich von der Welt überfordert fühlt oder bei dem der Familiensegen schief hängt, wie sähe der aus?
Karl-Heinz Bittl:
Sich Zeit für den Konflikt nehmen! Konflikte sind wunderbare Entwicklungshelfer, auch wenn sie uns zunächst unangenehm erscheinen.
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.