Massenproteste verändern die Welt nicht mehr. Was dann?
Gehen genug Menschen für Veränderung auf die Straße, lenken Machthaber:innen früher oder später ein – das zeigt auch die Wissenschaft. Doch seit Kurzem gibt es eine Trendwende.
Niemals hätten sie gedacht, dass er damit durchkommt. Zu viele Menschen waren es, die nach den
Auch die Oppositionskandidatin
Und die Menschen, die daran – und an die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels – glaubten, ließen sich nicht einfach abspeisen. Sie protestierten in Massen. Bis zu einer halben Million Menschen ging im ganzen Land friedlich auf die Straße und forderte den Rücktritt von Alexander Lukaschenko. Der Protest hielt über Wochen an, verlief quer durch alle Gesellschaftsschichten, produzierte Bilder der Hoffnung. Bilder, die Gänsehaut machten.
»Lukaschenko hat keine andere Wahl, als die Macht abzugeben, das versteht er selbst«, sagte die belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kalesnikawa
Hatte er doch, wie wir heute wissen. 3 Jahre später ist Lukaschenko immer noch im Amt. Auf die Massenproteste folgten Masseninhaftierungen, Folter, Gewalt. Oppositionsführerin Tichanowskaja lebt heute im Exil und wurde in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt. Währenddessen halten belarussische und russische Truppen gemeinsame Militärübungen ab und ein jüngst bekanntgewordenes Strategiepapier des Kremls weist darauf hin, dass Moskau plant, sich das Land langfristig
Ähnlich bewegend sind die Bilder, die uns seit September 2022 aus dem Iran erreichen. Nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini gingen auch dort Menschen aus vielen Schichten der Gesellschaft für ihre Freiheit auf die Straße,
Gewaltfreie Massenproteste wie in Iran und Belarus waren lange Zeit ein Erfolgsrezept zum Sturz von Autokratien und Diktaturen. Doch seit den späten 2010er-Jahren gibt es eine Trendwende. Woran liegt das? Wer oder was kann repressiven Regierungen jetzt noch gefährlich werden? Und wie können »wir« Menschen unterstützen, die in anderen Ländern trotz allem weiter mutig für Rechte und Freiheit kämpfen?
Die Erfolgsgeschichte gewaltfreien Widerstands
Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth hat politische Kampagnen seit 1900 untersucht, deren Ziel eine neue Regierung oder die Befreiung eines Territoriums war. Eines ihrer Ergebnisse im Jahr 2011: Jede dieser Bewegungen war erfolgreich, wenn sich mehr als 3,5% der Bevölkerung aktiv und dauerhaft daran beteiligten. Darüber hinaus machte Chenoweth noch eine überraschende Entdeckung. Friedliche Bewegungen sind erfolgreicher als jene, die versuchen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen und Regierungen gewaltsam zu stürzen.
Über den Erfolg gewaltfreier Kampagnen schreibt Peter Dörrie in diesem Artikel:
Doch seit dem Ende der 2010er-Jahre beobachtet Chenoweth eine Trendwende: »Gewaltfreie Kampagnen sind so erfolglos wie seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr«, schreibt sie in einem aktuellen Aufsatz. Und das, obwohl noch im Jahr 2019 so viele Menschen weltweit gegen ihre Regierungen protestierten
Warum Massenproteste nicht mehr wirken
Im September 2022 erschien ein
- Zunehmende Polarisierung: Ungleichheit, nationalistische Einstellungen und voneinander
- Neue Repressionsmethoden: »Wir leben im Zeitalter des digitalen Autoritarismus«, stellt Politologin Erica Chenoweth fest. Im Kampf gegen Protest- und Widerstandsbewegungen bedienen sich Autokrat:innen und Diktator:innen aus einem vielfältig ausgestatten Werkzeugkasten: In Russland sät die
- Soziale Medien: Während der Aufstände des
Insbesondere der letzte Punkt wird wissenschaftlich diskutiert, wenn es um das Erfolgspotenzial von Massenprotesten geht.
So hat sich etwa die türkische Soziologin Zeynep Tufekci mit der Rolle von sozialen Medien für Proteste beschäftigt. In einem
»Aktionen, die nicht viel Mühe erfordern, stellen keine glaubwürdige Bedrohung dar.« – Zeynep Tufekci, Soziologin
Ein Protest kann heute also auf den ersten Blick mächtig erscheinen, weil viele Menschen teilnehmen – er hat aber nicht notwendigerweise den politischen Unterbau oder Führungsstrukturen, die eine politische Opposition braucht, wenn sie Macht übernehmen oder über einen Machttransfer verhandeln will. Das wissen auch die Machthabenden repressiver Regime, die sich immer ausgefeilterer Methoden der Unterdrückung bedienen.
In ihrer Forschung zu Protestkampagnen hat Chenoweth zudem eine weitere Beobachtung gemacht, die dem Erfolg im Weg stehen könnte: Ursprünglich gewaltfreie Bewegungen tolerierten zunehmend gewaltvolle Taktiken an ihren Rändern, womit sie Sympathien in der breiteren Bevölkerung verspielten.
Alles zusammen führe dazu, dass der Erfolg von Widerstandsbewegungen nicht mehr davon abhänge, wie viele Menschen protestierend gegen Regierungen auf die Straße gingen.
Aber wovon dann?
Wer oder was Regierungen heute stürzen kann
Neue Zeiten erfordern nicht immer neue Maßnahmen – manchmal kann eine Rückbesinnung erfolgversprechend sein. Auf Protestbewegungen übertragen heißt das: Organisiert euch! Im echten Leben, nicht nur über die Vernetzung in sozialen Medien. Je breiter die Vernetzung, desto besser. Die Legitimität einer Bewegung wächst mit der Menge an Bevölkerungsschichten, die sich ihr anschließen – ebenso ihre Macht. Macht, die sie in Verhandlungen mit dem »alten« Regime nutzbar machen kann.
Der wichtigste Erfolgsfaktor für eine Bewegung sei heute allerdings nicht mehr die Massenmobilisierung, sondern möglicherweise die Fähigkeit, mächtige Gruppen des Landes dazu zu bringen, mit der Regierung zu brechen, schreibt Erica Chenoweth über die Zukunft gewaltfreien Widerstands.
Darüber hinaus sieht sie noch einige andere Lektionen, die aktuelle Widerstandsbewegungen – unter anderem von historischen Vorgänger:innen – lernen können:
- Das Momentum Vorausplanen: Strategien und politische Ziele sollten am besten definiert werden, bevor Menschen massenhaft auf die Straße gehen – damit das Momentum danach nicht wirkungslos verpufft. Mitten in der Pandemie, als Massenproteste vielerorts unmöglich waren, sah die Protestforscherin darin sogar eine strategische Chance, die sie in einem Aufsatz darlegte:
- Gezielter Widerstand der Zivilbevölkerung: Die Auflehnung der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Invasion und Besatzung könnte neue Impulse für Widerstandsbewegungen auf der ganzen Welt geben. Denn neben der Armee, die mit Waffen kämpft, gibt es auch vielfache tägliche Akte des gewaltfreien Widerstands – zum Beispiel Straßenblockaden und Sabotageakte – sowie der Solidarität. In anderen Konflikten habe sich gezeigt, so Chenoweth, dass insbesondere dieser Widerstand der Zivilgesellschaft das Zeug dazu habe, Akte der Gewalt zu verhindern, zumindest dann, wenn die Menschen auf der anderen Seite zögerten, Befehle zur Brutalität zu befolgen.
Anhaltender gewaltfreier Widerstand kann außerdem noch etwas bewirken: Sympathie und Unterstützung im Ausland.
Wie »wir« Menschen helfen können, die für Freiheit und Rechte kämpfen
In Belarus und Iran haben die Massenproteste ihr Ziel nicht erreicht, die repressiven Regime halten sich an der Macht.
Und doch ergibt es einen Unterschied, ob Menschen auf die Straße gehen oder nicht. Wer einmal auf einer Demonstration war und gespürt hat, wie es sich anfühlt, wenn viele Menschen für eine gemeinsame Sache auf die Straße gehen, dem dürfte klar sein, welches Potenzial sie über den Tag hinaus haben: Sie stärken das politische Bewusstsein, sie motivieren, sie sind oft der Anfang von Vernetzungen, politischer Freund:innenschaft und Verbundenheit.
Und sie produzieren Bilder. Bilder, die es, ist der Protest groß genug, auf Bildschirme in der ganzen Welt schaffen. Doch diese Bilder der Hoffnung hinterlassen einen bitteren Beigeschmack, wenn – wie im Fall von Belarus oder Iran – Regime ungeachtet dessen weiter ihre Bevölkerung unterdrücken und tyrannisieren. Das breite globale Interesse ebbt meist mit der Menge an Menschen ab, die sich noch auf die Straße trauen.
Dabei heißt das nicht, dass dann schon alles vorbei ist: Welche Gruppen mit welchen Mitteln weiterhin für Menschenrechte kämpfen; wie politische Gefangene und Oppositionelle unterstützt werden können, auch aus dem Ausland – auch darüber kann berichtet werden, sowohl von Medien als auch von jeder und jedem Einzelnen in den sozialen Netzwerken. Damit eben nicht das passiert, was die Unterdrückenden so gern wollen: den Widerstand in Vergessenheit geraten zu lassen, um die Situation wieder unter voller Kontrolle zu haben.
Massenproteste liefern eindrucksvolle Bilder. Aber vielleicht verlieren wir den Glauben an kollektive Handlungsmacht, wenn wir kurzfristige Erfolge erwarten, die auf diese Bilder folgen – und uns enttäuscht abwenden, sollten diese ausbleiben. Proteste sind immer nur ein Schritt auf dem Weg zur Veränderung.
Titelbild: Tim Gouw | Unsplash - CC0 1.0