Über die Asylreform der EU regen sich gerade alle auf. 6 Dinge, die du darüber wissen musst
Wie geht es mit der Asylreform der EU weiter? Und was kannst du tun, wenn du dagegen bist?
Am 9. Juni 2023 kam die Nachricht aus Luxemburg: Die EU-Innenminister:innen haben sich auf eine Reform des
Die Ankündigung gleicht einem Wunder. Denn seit Jahren verhandelten die EU-Staaten vergeblich über ein neues gemeinsames Asylsystem. Immer wieder blockierten einzelne Mitglieder die Reformvorschläge. Besonders östliche Mitgliedsländer wie Tschechien, Polen oder Ungarn weigerten sich, bei einer Verteilung von Geflüchteten auf alle EU-Länder mitzumachen. Diesmal erreichte das Migrationspaket eine ausreichende Mehrheit.
Die
Aber ist »irgendetwas« wirklich besser als bisher?
Von links wie vom liberalen Mitte-Lager hagelt es viel Kritik. Viele Journalist:innen zweifeln, ob die Reform in der Praxis überhaupt umsetzbar ist. Sie fürchten, dass Menschenrechte verletzt werden; noch mehr, als es ohnehin schon passiert. Die Szenarien sind längst bekannt: Man denke an Flüchtlingslager wie Moria in Griechenland, die
Von den unmenschlichen Zuständen in den Flüchtlingslagern und an den Außengrenzen der EU erzählt Gastautorin Franziska Grillmeier. Sie lebt seit 2018 auf der griechischen Insel Lesbos.
In diesem Text möchte ich zeigen, was sich für die Geflüchteten, die in der EU Schutz suchen, mit dieser Reform wirklich verändert – und was du tun kannst, wenn du dagegen bist.
Wie funktioniert das Asylsystem der EU im Moment?
Seit 2013 gilt in der EU das Dublin-III-Abkommen. Demnach ist jener Staat für die Prüfung und eventuelle Aufnahme von Asylsuchenden zuständig, auf dessen Boden sie zuerst ankommen.
Hat eine Person nach Prüfung kein Anrecht auf Asyl, so kann sie in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden. Zusätzlich hat die EU mit 18
Daneben können EU-Staaten Asylsuchende ohne Bleiberecht auf eigene Faust in ihre Herkunftsländer zurückschicken, sofern diese als »sicher« eingestuft wurden und die Person nach Prüfung kein Recht auf Schutz erhält. Die Einstufung als sicheres Herkunftsland ist bisher von Land zu Land verschieden und oftmals
Die Probleme:
- Dublin III wird nicht umgesetzt: In der Praxis lassen Staaten an den EU-Außengrenzen die Asylsuchenden in andere EU-Länder weiterreisen, da diese häufig nach Mittel- und Nordeuropa, zum Beispiel nach Deutschland, wollen.
- Dauer des Prozesses: Die Überprüfung von Asylanträgen ist ein langwieriger Prozess, der Monate, manchmal Jahre dauern kann. Abschiebungen werden kaum umgesetzt, sind ineffizient und teuer. Oft bleiben die Asylsuchenden in einem unsicheren »Wird bearbeitet«-Status.
- Ungleichheit in der EU: Die Verantwortung für Schutzsuchende ist ungleich verteilt, weil Einreiseländer wie Italien oder Griechenland damit größtenteils alleingelassen werden.
- Gewalt: Vor allem in Einreiseländern werden Menschenrechte (auch aufgrund der Überforderung) verletzt – sei es in den überfüllten Flüchtlingslagern oder im Freien, vor den Toren der EU, wo schutzlose Asylsuchende von der Grenzpolizei teilweise gewaltvoll zurückgedrängt werden.
All das macht klar, warum das europäische Asylsystem
Der Druck stieg erstmals 2015/2016, als die Worte »Flüchtlingskrise« und »Flüchtlingswelle« durch die Medien geisterten. Zwar hört man diese Begriffe heute weniger, Menschen kommen jedoch weiterhin in die EU, auf der Suche nach Schutz oder Arbeit.
Seit 2022 steigen die Zahlen wieder und erreichen ein
Was würde sich durch die Reform ändern?
Das letzte Migrationspaket wurde 2020 von der EU-Kommission vorgelegt. Damals noch von den Mitgliedsländern – insbesondere Polen und Ungarn – blockiert, einigten sich die EU-Innenminister:innen diesmal auf einen Kompromiss, der sich an den Entwurf anlehnt.
Da es noch kein finales Protokoll der EU-Ratssitzung gibt, sind die Details des aktuellen Reformpakets nicht bekannt. Man kann nur sagen, was in den Pressemitteilungen und -ankündigungen nach außen vorgestellt wurde:
- Gemeinsame Grenzverfahren: Asylanträge sollen in der Nähe der EU-Grenzen in einem beschleunigten Verfahren geprüft werden. Dieses Schnellverfahren soll maximal 12 Wochen dauern. Das gilt aber nur für Asylbewerber:innen aus Ländern, die eine Anerkennungsquote von unter 20% haben. Dazu gehören etwa die Türkei, Indien, Tunesien, Serbien oder Albanien.
In dieser Zeit werden sie in abgeschotteten Asylzentren an den Außengrenzen untergebracht. So sollen Menschen mit geringen Aufnahmechancen gar nicht erst in die EU gelangen (obwohl sich die Lager schon auf europäischem Boden befinden sollen).
Die Fluchtforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien erklärt, dass dieses Verfahren im Grunde kein richtiges Asylverfahren, sondern nur eine Vorprüfung sei. Auch könnten diese Menschen – sollte ihr Antrag abgelehnt werden – nicht in zweiter Instanz Berufung einlegen, wie sonst üblich. Rechtsstaatlich gesehen sei dieses Vorgehen daher heikel. Zwar behaupteten die Grünen, sie hätten die Klausel durchgebracht, dass diese Menschen Rechtsbeistand erhielten. Wie umsetzbar dies sei, bleibe laut Kohlenberger jedoch fraglich.
Es ist auch nicht klar, wer (finanziell) für diese Schnellverfahren und die Aufnahmezentren verantwortlich ist – die Einreiseländer oder die gesamte EU.
Alle anderen Asylbewerber:innen durchlaufen das bisherige reguläre Verfahren.
Problematisch dabei ist: Wenn wichtige Papiere fehlen, ist es gar nicht so leicht zu ermitteln, woher die ankommenden Menschen stammen und ob sie unter diese 20%-Quote fallen. Hier entsteht also im schlechtesten Fall eine unschöne Grauzone.
- Flexiblere Drittstaatenregelung: Abgelehnte Asylbewerber:innen sollen von den geschlossenen Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen direkt abgeschoben werden, zum Beispiel in Drittländer. Die Mitgliedstaaten einigten sich darauf, dass sie künftig Drittländer flexibler als »sicher« einstufen könnten, um Migrant:innen potenziell dorthin zurückschicken zu können. Zum Beispiel sollen auch Länder als »sicher« eingestuft werden können, wenn sie
Die größte Änderung hierbei: Um einen Geflüchteten in Drittstaaten zurückzuschicken, reicht es mit dieser Reform, dass er durch das Land gereist ist. Eine weitere Verbindung ist nicht nötig. Das heißt in der Praxis: Wer über einen sicheren Drittstaat in die EU eingereist ist, hat wahrscheinlich geringe Chancen, Asyl zu erhalten. Dass Asylsuchende durch ein solches Land – etwa die Türkei oder Marokko – gekommen sind, ist mit dieser Ausweitung sehr wahrscheinlich. - Flexible Solidarität: Jene Menschen, die Chancen auf Asyl haben, werden unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt. In dem jeweiligen Land wird ihr Asylantrag dann mit dem üblichen Verfahren geprüft. Diese Solidarität unter den Mitgliedern, die bisher freiwillig war und von Ländern wie Ungarn abgelehnt wurde, ist nun verpflichtend. Regierungen, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen (dazu gehören schon mal sicher Tschechien, Polen und Ungarn) müssen einen finanziellen Beitrag leisten: 20.000 Euro pro nicht aufgenommenem geflüchteten Menschen. So sollen EU-Einreiseländer entlastet werden. Wie genau die Aufteilung erfolgt, ob nach fixen Quoten oder anderen Regelungen, ist noch nicht klar.
Dieses gemeinsame Verfahren soll das bisherige Dublin-III-System ersetzen.
Wie schätzen Expert:innen die Reform ein?
Aus der Migrationsforschung kommen vorwiegend skeptische und alarmierende Stimmen.
So kritisiert etwa das
»Besser keine Reform als diese«
Überhaupt zweifeln die Expert:innen daran, dass die beschleunigten Verfahren und Rückführungen tatsächlich umgesetzt werden können. Sie beziehen sich dabei auf ähnliche Versuche, die bereits seit 2015 angedacht waren, aber immer wieder scheiterten. Zum einen, weil Menschen sich weigern, in ihre Heimatländer zurückzukehren, und weil Transportmöglichkeiten fehlen.
Zum anderen, weil die Länder die Geflüchteten nicht zurücknehmen.
Die Maßnahme, dass Geflüchtete schneller in Drittländer abgeschoben werden sollen, wurde zudem nicht mit den besagten Drittländern abgestimmt. Das zeigte sich zuletzt im Fall Tunesien, mit dem die EU ein Rückführungsabkommen unterzeichnen möchte. Als Reaktion auf den Entwurf gab Präsident Kais Saied
Auch sind viele Länder, mit denen die EU schon ein Rückführungsabkommen vereinbart hat, nicht unproblematisch: Sie sind oft für ihre geringen Menschenrechtsstandards bekannt. Geflüchtete dahin zurückzuschicken und die autoritären Regierungen dafür sogar mit europäischen Steuergeldern zu bezahlen, steht nicht im Einklang mit den Werten der EU. Es besteht außerdem die Gefahr, dass die autoritären Staaten die Migrant:innen als Druckmittel gegen die EU nutzen könnten, so wie es die
Ein weiterer Kritikpunkt der Expert:innen betrifft die Kapazität der Asylzentren an den EU-Außengrenzen. Diese sollen für rund 30.000 Personen ausgerichtet werden. Die Migrationsforscherin Birgit Glorius vom Netzwerk Fluchtforschung
[Das ist] eine erstaunlich geringe Zahl von Plätzen, wenn man die Ankunftszahlen bedenkt, die beispielsweise zwischen März und Mai 2023 an den mediterranen Seegrenzen bei rund 45.000 lagen. Denn die Plätze müssen ja zunächst für alle Ankommenden ausreichen, zumindest für einige Tage oder Wochen, bis die Registrierung und ›Triage‹ in ›gute‹ und ›schlechte‹ Bleibeperspektiven vollzogen ist [...]. Allein jene mit ›schlechter Bleibeperspektive‹ würden die Kapazitäten dann mindestens 12 Wochen belegen, währenddessen schätzungsweise weitere 90.000 Personen eintreffen würden. Möglicherweise rechnet man damit, dass durch den ›Abschreckungseffekt‹ mit der Zeit weniger Menschen ankommen. Ist das realistisch?
Stattdessen fürchten die Wissenschaftler:innen, dieses System könne zu »Staus« an den Außengrenzen führen und somit überall um Europa herum überfüllte, geschlossene Flüchtlingslager entstehen lassen, worin Menschen unter haftähnlichen Bedingungen dahinvegetierten. So wie es zuletzt im
Der Rat für Migration, der rund 200 Forschende zu Migrationsthemen umfasst, sieht in der Reform ebenfalls keine dauerhafte Lösung, sondern eher eine Verschärfung des Problems. Die Expert:innen schreiben in
Wie sähe eine bessere Politik aus Sicht der Migrationsforscher:innen aus?
Wollte die EU die Einwanderung effizient regulieren und dabei Menschenrechte sowie wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen, müsse sie laut Expert:innen:
- Mehr legale Möglichkeiten der Einreise für Arbeitsmigrant:innen schaffen. Dies würde auch das Problem des Fachkräftemangels und der Überalterung vieler westlicher Gesellschaften lösen. Zudem würden dadurch Asylsysteme entlastet, weil Arbeitssuchende auf die Migrationsschiene ausweichen könnten.
- Kommunen und Städte miteinbeziehen. Viele Gemeinden hätten Kapazitäten und Interesse, Geflüchtete wie Migrant:innen zu integrieren. Das wird im neuen Reformpaket jedoch nicht beachtet. Stattdessen konzentriert man sich auf Abschottung und Abschreckung auf EU-Ebene. Diesen Vorschlag machte etwa der Fluchtforscher David Kipp gegenüber
Wie eine effizientere und humanere Migrationspolitik aussehen könnte, darüber habe ich letztes Jahr mit Fluchtforscherin Judith Kohlenberger gesprochen:
Wie geht es jetzt weiter?
Obwohl sich die Innenminister:innen geeinigt haben, herrscht noch lange keine Einstimmigkeit. Polen und Ungarn zum Beispiel weigern sich weiter kategorisch, Geflüchtete aufzunehmen oder Ausgleichsgelder zu zahlen. Sie wollen deshalb auf dem EU-Gipfel am 29. und 30. Juni in Brüssel das Thema erneut ansprechen.
Damit das Migrationspaket zum Gesetz wird, muss das EU-Parlament dem Reformentwurf der EU-Minister:innen noch zustimmen. In dieser Form gilt eine Bewilligung als unwahrscheinlich. Warum?
Dass das Parlament den Reformentwurf mit absoluter Mehrheit ablehnt, ist aber auch unwahrscheinlich. Der Druck, eine Einigung zu finden, ist für alle Parteien hoch, denn im kommenden Jahr (Juni 2024) wird das Parlament neu gewählt – ein neues Kräfteverhältnis könnte bedeuten, dass die Verhandlungen über die EU-Migrationspolitik wieder ganz von vorn beginnen müssen.
Das Parlament wird also voraussichtlich Änderungsvorschläge einführen. Danach kommt es dann zu den sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen Kommission, Parlament und Ministerrat. Findet sich dort keine Einigung, scheitert das Gesetz.
Was kann ich tun, wenn ich diese Reform verhindern möchte?
Die größten Chancen, die strengen Abschottungspläne der EU aufzuweichen, gehen von den Fraktionen im Europäischen Parlament aus.
Darauf setzt auch die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und appelliert an die Abgeordneten, die Reform zu stoppen.
Daneben hat jede:r EU-Bürger:in das Recht,
Du kannst auch direkt mit dem EU-Parlament in Kontakt treten. Entweder über eine
Ein weiterer effizienter Weg, deinen Unmut über die verschärfte Flüchtlingspolitik auszudrücken, ist es, auf die Straße zu gehen, dich an Demos zu beteiligen. Denn so wird das Thema von Medien stärker aufgegriffen und politisch diskutiert. Einen Überblick über alle aktuellen Proteste zu diesem Thema findest du beim
Morgen, am 20. Juni, ist Weltgeflüchtetentag.
Mit Sicherheit wird es Aktionen und Kundgebungen in ganz Deutschland geben, um für mehr Schutz für Geflüchtete einzutreten. Um auf dem neuesten Stand zu bleiben, kannst du Organisationen, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen, auf den sozialen Medien folgen. Zum Beispiel die
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