Wir sollten romantische Liebe weniger wichtig nehmen, meint die Soziologin Andrea Newerla – und stattdessen auf andere Beziehungen bauen, wenn wir im Alter nicht allein sein wollen.
15. September 2023
– 14 Minuten
Roger Buer
Eine zufällige Begegnung. Der Kuss, der alles verändert, gefolgt vom Kribbeln im Bauch und den ganz großen Gefühlen. Nach einigen Hindernissen schließlich das Happy End: das gemeinsame Glück, am besten, bis dass der Tod sie scheidet.
Geschichten von der romantischen Liebe begegnen uns ständig, ob auf der Kinoleinwand, in Romanen oder im Radio. Das führt dazu, dass wir ihr mehr Aufmerksamkeit schenken, als sie vielleicht verdient, meint die Soziologin Andrea Newerla. Sie hat ein Buch über geschrieben, ein Plädoyer dafür, Nähe, Beziehungen und Liebe neu zu denken.
Nicht nur, um uns vom individuellen Druck zu befreien. Viel mehr auch mit Blick auf die Frage, wie wir uns in Zukunft umeinander kümmern wollen – in einer Gesellschaft, die immer älter wird, in der romantische Bindungen aber immer seltener bis zum Lebensende halten.
Die Person
Andrea Newerla ist promovierte Soziologin und forschte zuletzt als Senior Scientist an der Paris Lodron Universität Salzburg zu Intimitäten, Onlinedating und Beziehungsmustern jenseits heteronormativer Standards.
Bildquelle:
Roger Buer
Katharina Wiegmann:
Was ist das Romantikdiktat?
Andrea Newerla:
Ich habe dabei an das Diktat in der Schule gedacht: Jemand liest etwas vor, ich schreibe mit. In diesem Fall ist es eine Liebesgeschichte.
Wir wachsen mit Geschichten auf, die uns erzählen, wie die Liebe auszusehen hat. Von der glücksbringenden, alle Sehnsüchte erfüllenden romantischen Liebe »bis dass der Tod euch scheidet« wird uns von Märchen über Disney bis Hollywood erzählt. Sogar in Actionfilmen gibt es neben dem eigentlichen Plot oft noch eine romantische Erzählung, zum Beispiel bei James Bond.
Wie beeinflusst das unsere Beziehungen?
Andrea Newerla:
Um die romantische Liebe ist eine Norm entstanden, aus der wir nicht einfach ausbrechen können. Sie besagt, dass wir uns romantisch lieben und uns zu verpartnern haben.
Sich davon zu befreien, ist sehr schwierig.
Es werden kaum andere Geschichten erzählt, die beispielsweise in den Mittelpunkt des Lebens rücken. So werden wir ein Stück weit gezwungen, diese Geschichten von der romantischen Liebe immer wieder neu zu schreiben. Das ist das Romantikdiktat.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass diese Art des Zusammenlebens keine naturgegebene Sache ist – sondern dass es andere Möglichkeiten gibt, das Leben gemeinsam mit .
»Diktat« klingt sehr negativ. Dabei schauen die meisten von uns gerne romantische Filme, hören gerne Lieder, in denen es um große Gefühle geht. Sind all diese Geschichten nicht einfach ein Spiegel dessen, wonach sich Menschen sehnen?
Andrea Newerla:
Es ist ein bisschen wie die Frage nach der Henne und dem Ei: Was war zuerst da? Vielleicht ist die Sehnsucht nach der romantischen Liebe nur deshalb so groß, weil wir keine anderen Geschichten kennen.
Ich habe nichts gegen die romantische Liebe, nichts gegen das Gefühl und auch nichts gegen die Beziehungsform. Aber Menschen, die sich nicht innerhalb dieser Norm bewegen und sich etwas anderes wünschen, haben es schwer, gesellschaftlich akzeptiert zu werden.
Es wird unterstellt, als Single könne man nicht glücklich sein, man sei beziehungsunfähig. Man hört Sätze wie »Du musst dich nur mehr anstrengen!«.
Dabei wird eher nicht darauf geachtet, ob eine Person andere wertvolle Beziehungen führt. Vielleicht führt sie keine romantische Liebesbeziehung, aber ist dafür in freundschaftszentrierte Kontexte eingebunden, sodass sie sich nicht allein fühlt und der Begriff des Singles sogar der falsche ist.
Außerdem spricht die Empirie gegen die Romantik als Sehnsuchtsort.
Inwiefern?
Andrea Newerla:
Zu den Zeiten unserer Großeltern haben starke Institutionen wie Kirche und Staat dafür gesorgt, dass romantische Liebesbeziehungen das ganze Leben lang gehalten haben. Es gab keine denkbaren Alternativen. Heute ist Selbstverwirklichung, gerade für Frauen, in unserer Gesellschaft zentraler. Die Frauenbewegungen haben einiges erreicht.
Und trotzdem fühlen sich viele Menschen falsch oder unfähig, wenn sie nicht in romantischen Liebesbeziehungen sind, weil mal wieder eine gescheitert ist oder weil sie merken, sie wollen das nicht mehr: von einer Beziehung in die nächste rutschen. Entscheiden sie sich für einen anderen Weg, werden sie als »anders«, als beziehungsunfähig markiert. Man rät ihnen, an sich zu arbeiten.
Das Buch
»Das Ende des Romantikdiktats. Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten« ist im Juni 2023 im Kösel-Verlag erschienen.
Woher kommen unsere Vorstellungen von der romantischen Liebe?
Andrea Newerla:
Die romantische Liebe als Idee ist sehr viel älter als die Norm, die sich heute gesellschaftlich durchgesetzt hat. Tragische Geschichten wie die von Romeo und Julia entsprachen aber über Jahrhunderte nicht der Realität der meisten Menschen in Europa.
Mit der Industrialisierung ging die Individualisierung einher – und mit dieser Idee des Menschseins setzte sich auch die romantische Liebe durch.
Geschichten wie die von die damals sehr populär war, machten den Menschen deutlich, dass das Individuum unabhängig entscheiden darf, wen es an seiner Seite möchte. Politische oder ökonomische Gründe rückten in den Hintergrund. Relevant war: Wie fühle ich mich, wenn ich mit einer Person zusammen bin?
Allmählich setzte sich die Norm durch, dass eine Ehe nicht mehr aufgrund von Zweckdienlichkeit eingegangen wird, sondern aufgrund eines geteilten Gefühls. Und das ist eine Erzählung, die sich bis heute gehalten hat: Romane wie aus den 2000ern erzählen im Prinzip genau die gleiche Geschichte wie Jane Austen vor 250 Jahren.
, die meisten Paare trennen sich nach kürzerer oder längerer Zeit, Warum ändern sich damit nicht auch unsere Vorstellung von Romantik, Beziehungen und Partnerschaft?
Andrea Newerla:
Weil die Geschichten sich nicht ändern!
Das Glücksversprechen eines passenden Deckels zu unserem Topf hält sich hartnäckig. Die Geschichten, die wir immer wieder hören, erzählen von der Zufriedenheit, wenn man es geschafft und endlich diesen einen Menschen gefunden hat. Meistens hören die Geschichten an dieser Stelle auf, sie erzählen nicht mehr viel über Alltagssituationen. Alles endet mit der Entstehung der romantischen Liebe.
Soziologinnen haben schon vor einiger Zeit die Diagnose gestellt, dass die romantische Liebe inzwischen einen quasi-religiösen Touch hat. Sie ersetzt einige religiöse Aspekte, die früher in unseren Leben präsent waren und ist das neue »Heilige«.
Gerade weil wir so viele Heilsversprechen mit der romantischen Liebe verbinden, birgt sie Potenzial für Enttäuschungen. Warum tappen wir trotzdem immer wieder in die Falle der großen Erwartungen und suchen das Glück ausgerechnet in dieser Art von Beziehungen?
Andrea Newerla:
Weil es kaum Geschichten gibt, die von der Glückseligkeit in freundschaftlichen Beziehungen erzählen. Meistens endet es doch damit: Du findest einen romantischen Partner, gründest eine Kleinfamilie und wirst damit glücklich.
Was macht es mit uns, wenn sich die Hoffnungen, die wir damit verbinden, nicht erfüllen?
Andrea Newerla:
Jede Menge Ratgeber erzählen uns: Wenn eine Beziehung scheitert, dann hat es halt nicht gepasst. Aber du musst weitersuchen, bis du die Person findest, mit der es endlich passen wird!
Diese ewige Suche lässt viele Menschen unglücklich zurück. Viele Menschen leiden darunter, dass sie noch immer nicht die eine Person gefunden haben, mit der sie ihr Leben teilen können. Ich würde mir wünschen, dass wir gesellschaftlich mehr darüber sprechen, dass es auch andere Beziehungen gibt, die glücklich und zufrieden machen können.
Du schreibst in deinem Buch, dass in uns eine Art Unbehagen entsteht, wenn wir uns nonkonform verhalten. Vielleicht spüren also viele Menschen durchaus, dass das Lebensglück nicht nur von einer Person abhängen kann, verdrängen diese Gedanken aber aufgrund des normativen Drucks, sich romantisch zu binden?
Andrea Newerla:
Ich erzähle im Buch die Geschichte von Philipp, den ich über eine Dating-App kennengelernt habe. Wir haben intensiven Kontakt, spüren eine besondere Art der Verbundenheit. Aber wir stellen auch fest: Im Moment wollen wir beide keine romantische Liebesbeziehung. Trotzdem bleiben wir in Verbindung.
Sobald man einen anderen Weg geht und nicht den alten Mustern folgt, wird man in gewisser Weise sanktioniert oder zumindest darauf aufmerksam gemacht: »Andrea, bist du dir sicher, dass du deine wahren Gefühle da nicht übergehst? Das kann nämlich sehr gefährlich werden!«
Das ist eine Frage, die man stellen kann. Aber warum kann ich nicht ein tiefes Gefühl mit einer Person teilen und trotzdem entscheiden, dass ich dem Menschen »nur« freundschaftlich verbunden bleibe?
»Manche finden das Entdecken von Neuland beängstigend«
Wie verändert Online-Dating die Suche nach Nähe und Liebe?
Andrea Newerla:
Sowohl Medien als auch Wissenschaft fokussieren sich viel auf die negativen Aspekte. Die sind nicht von der Hand zu weisen. Online-Dating bedeutet eine massive Beschleunigung und eine massive Erhöhung an Möglichkeiten. Das kann Menschen überfordern und unter Druck setzen.
Gleichzeitig, und das wird mir ein bisschen zu wenig beleuchtet, gibt es neue Räume und Möglichkeiten für Menschen, Anderes kennenzulernen. Das mag für manche Menschen erschreckend sein. Manche finden das Entdecken von Neuland beängstigend, andere können sich da gut ausleben.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Andrea Newerla:
Neue sexuelle Praktiken oder die eigene Sexualität als gestaltbaren Aspekt des Lebens zu begreifen – das lernen viele Leute im Kontext von Online-Dating. Viele Frauen, mit denen ich für meine Forschung gesprochen habe, sagen, dass sie durch die Selbstpräsentation und das Kommunizieren über Dating-Apps gelernt haben, mehr bei sich zu sein, sagen zu können, was sie nicht wollen – und was sie wollen.
Was zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, ist auch die Diversität an Möglichkeiten und Formen des Zusammenkommens, die Dating-Apps sichtbar machen können. Im Buch erzähle ich die Geschichte einer Frau, die auf einen Menschen trifft, der Beziehungsanarchist ist. Sie hat noch nie von diesem Begriff gehört, fängt an zu googeln und stellt fest: Das ist spannend! Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, dass sie eine Beziehung anders führen könnte als .
Bieten Dating-Apps einen Ausweg aus dem Romantikdiktat?
Andrea Newerla:
Zumindest machen sie für viele Menschen sichtbar, was jenseits des Mainstreams auch möglich ist. Die erste Kennenlern-App war Grinder, eine App für schwule Männer. Die Entstehung dieser Räume wurde oft von queeren Menschen vorangetrieben, weil sie in heteronormativen Kontexten Schwierigkeiten hatten, zueinanderzufinden.
Über Dating-Apps kommen Menschen in Berührung mit Diversität und Vielfalt jenseits der Vorstellung einer lebenslangen Verbindung, die nur durch eine romantische Liebesbeziehung zu realisieren ist. Dating-Apps können neue Räume eröffnen, sich auszuprobieren, Neues kennenzulernen. Das müssen sie aber nicht. Sie reproduzieren auch viel Heteronormativität, viel Sexismus.
»Beim Sex dürfen sich Männer verletzlich zeigen«
Welche Rolle spielt Sex in unserer Vorstellung von Romantik und Intimität?
Andrea Newerla:
Unsere Vorstellung von Sexualität und Intimität hat mit patriarchalen Denkstrukturen zu tun.
Männer verlernen sehr früh, Nähe öffentlich zu erleben und zu zeigen. Intimität ist für sie reserviert für bestimmte Kontexte und Beziehungen: In der romantischen Liebe dürfen sie sich öffnen. Über den Sex, der dort praktiziert wird, dürfen sie sich wieder ganz und gar zeigen in ihrer Verletzlichkeit, ihrer Verwundbarkeit, vielleicht auch in ihrer Traurigkeit. Diese emotionalen Ebenen sind für Männer oft verborgen.
Deshalb wird mit Intimität im Patriarchat sofort Sexualität verbunden. Dabei ist es auch sehr intim, einer Freundin im Arm zu liegen, sich bei jemandem auszuheulen oder von sehr persönlichen emotionalen Dingen zu erzählen. Das kann auch Nähe herstellen. Sich umeinander sorgen kann Nähe herstellen. Intimität ist so vielfältig.
Und ich kann natürlich mit jemandem Sex haben, ohne dass das Nähe erzeugt. Natürlich bin ich der Person physisch nah in diesem Moment, aber emotional und psychisch kann ich mich davon völlig distanziert wahrnehmen.
Selbst in einer Liebesbeziehung muss es nicht immer sein, dass beim Sex die perfekte Intimität entsteht. Sex ist in vielen Beziehung auch irgendwann nicht mehr so relevant. Dann sind es andere Ebenen von Nähe und Verbundenheit, die zählen. Deswegen halte ich Sex oft für überbewertet.
Du berufst dich bei einer Analyse auf einen Essay des Soziologen . Ist das nicht ein veraltetes Männerbild, das darin zum Vorschein kommt?
Andrea Newerla:
Ich sehe eine Veränderung – Stichwort kritische Männlichkeit. Aber das dauert einfach. Patriarchale Strukturen und Denkweisen sind Jahrtausende alt, die kriegen wir nicht einfach abgelegt, nur weil wir das wollen; wie einen Mantel, der uns lästig geworden ist. Auch wenn Jungs heute mit einer größeren Vielfalt in der Vorstellung von Männlichkeit aufwachsen, geht es immer noch viel um Stärke.
»Es wird Menschen nicht einfach gemacht, andere Lebensmodelle zu realisieren«
Willst du die Romantik komplett begraben?
Andrea Newerla:
Auf keinen Fall. Romantische Liebe ist ein sehr schönes Gefühl, aus dem schöne Beziehungen erwachsen können.
Aber ich würde mir wünschen, dass wir alle mehr reflektieren, welche Rolle das Gefühl der romantischen Liebe in unserem Leben spielt. Ich plädiere dafür, unser Leben nicht auf dieses kleine Fundament zu bauen, sondern es auf einem größeren erwachsen zu lassen. Das sind für mich die Freundschaften, es können aber auch andere Beziehungsformen sein.
Wir sollten uns fragen: Muss die romantische Liebe immer all meine Bedürfnisse erfüllen oder kann ich mich auch auf andere Beziehungsformen einlassen? Vielleicht möchte mein romantischer Partner kein Kind, aber ich wünsche mir das. Das muss nicht unbedingt das Ende der Beziehung sein, obwohl es eine große Herausforderung wäre. Aber es ist prinzipiell möglich, eine Lösung zu finden, die andere Personen einschließt.
Über die Bedeutung von Freundschaft wird gerade viel geschrieben. Besteht nicht die Gefahr, dass wir nun auch noch Freundschaften mit all den Erwartungen aufladen, die wir bislang an romantische Beziehungen stellten?
Andrea Newerla:
Wenn wir nur eine Freundschaft hätten, dann könnte das passieren. Das Schöne an Freundschaften ist aber: Im Idealfall haben wir viele davon und es gibt für sie keine gesellschaftlich festgelegten Skripte. Du kannst eine Freundschaft individuell gestalten, sie sind etwas freier als Liebesziehungen.
Es gibt aber auch Menschen, die sich für sehr verbindliche Freundschaftsbeziehungen entscheiden, die zum Beispiel den Haushalt oder auch ihr Einkommen teilen. Natürlich kann das Konflikte erzeugen. Ich sage nicht, dass das Leben konfliktfrei ist, wenn wir uns von romantischen Liebesbeziehungen verabschieden.
Aber romantische Liebesbeziehungen sind in Spannungen eingebettet, die schwer auflösbar sind. Wir wollen komplett mit einer anderen Person verschmelzen, gleichzeitig wird uns gesagt: Mach dein eigenes Ding, sei du selbst, geh deinen Weg!
Über Freundschaften haben wir gelernt, dass wir eher unseren eigenen Weg gehen können und das nicht zu so harten Verletzungen führt. Ein Umzug in eine andere Stadt bedeutet dann zum Beispiel nicht das Ende der Beziehung.
Was kommt nach dem Ende des Romantikdiktats?
Andrea Newerla:
Ich würde mir wünschen, dass wir die Selbstverständlichkeit infrage stellen, mit der wir unser Leben in der romantischen Liebe verorten.
Im Koalitionsvertrag steht das Konzept der Verantwortungsgemeinschaft. Dahinter steht die Frage, ob wir unsere Sorgebeziehungen nicht anders aufbauen und strukturieren können. Und es gibt ja schon heute Menschen, die beispielsweise allein, freundschaftszentriert oder polyamor leben. Diese Vielfalt sollte heutzutage möglich sein.
Das alles ist nicht immer per se die bessere Wahl, aber das Sprechen darüber nimmt den Druck, sich romantisch binden zu müssen. Das ist das, was ich mit Romantikdiktat meine: Es wird Menschen nicht einfach gemacht, andere Lebensmodelle zu realisieren.
Ich halte das für einen Weg, der sehr gefährlich werden kann. Wenn wir uns die Empirie anschauen, zeigt sie, wie brüchig die romantische Liebe und die traditionelle Kleinfamilie sind. Es gibt nicht mehr diese Stabilität wie noch vor 50 oder 60 Jahren.
Şeyda Kurt forderte in ihrem Buch »radikale Zärtlichkeit« abseits monogamer Paarbeziehungen, die Politologin Emilia Roig – und jetzt du das Ende des Romantikdiktats. Es wird also gerade viel über alternative Lebens- und Liebesmodelle geschrieben.
Wenn ich mich umschaue, sehe ich trotzdem überwiegend traditionelle Formen des Zusammenlebens à la verliebt, verlobt, verheiratet. Da stellt sich mir die Frage: Wollen die Menschen überhaupt Veränderung?
Andrea Newerla:
Möglicherweise nicht! Aber wir sollten uns nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich die Frage stellen: Wie werden wir unser Zusammenleben in Zukunft organisieren?
Wir können die Augen nicht vor der Empirie verschließen, die uns deutlich zeigt, dass romantische Beziehungen nicht mehr so lange halten. Es gibt Patchworkfamilien, immer mehr Singlehaushalte. Und wir haben jetzt schon ein Problem mit der Versorgung und der in dieser Gesellschaft. Wie wird das erst in 20, 30 Jahren sein?
Bevor ich mich dem Thema Intimität und Online-Dating zugewandt habe, habe ich zum Thema Pflege und Altern gearbeitet. Jetzt versuche ich, diese Themen zusammenzubringen, und sage: Wir müssen uns gesellschaftlich etwas einfallen lassen, damit nicht alles auf der Illusion einer romantischen Liebe fußt, die in Zukunft alles trägt. Das wird sie nicht. Das tut sie jetzt schon nicht.
Wir müssen den Realitäten ins Auge schauen und uns darüber Gedanken machen: Wer wird da sein, wenn ich im Alter bedürftig bin und jemanden brauche, der an meiner Seite ist?
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.