Wie wir über Geflüchtete sprechen, ist die wahre Krise
Flüchtlingskrise! Überlastung! Demokratie in Gefahr! Der Diskurs über Menschen auf der Flucht kippt gerade nach rechts. Zeit, dagegenzuhalten.
Wer am vergangenen Sonntag um 20 Uhr die Tagesschau eingeschaltet hat, ging vermutlich mit einem mulmigen Gefühl ins Bett.
Die
Im daran anschließenden Beitrag wähnt der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die »Stabilität der Demokratie« in Gefahr, wenn es keine Wende in der Migrationspolitik gäbe.
Und schließlich: »Ausschreitungen bei
Was war das? Eine Wahlkampfsendung für die AfD? Auf jeden Fall Öl für das Feuer all jener, die Deutschland und Europa mal wieder in der Krise sehen – oder sich politische Vorteile davon versprechen, dass Teile der Bevölkerung eine akute »Überlastung« fürchten.
Am »Lagerfeuer der Nation«, als das die Tagesschau mit ihren immer noch hohen Einschaltquoten bisweilen bezeichnet wird, bleiben an diesem Abend viele Fragen offen. Wichtige Einordnungen fehlen. Zwischen den alarmistischen Meldungen geht vor allem eines unter: Wir reden hier immer noch über Menschen. Und Menschen haben Rechte. Der Status »illegaler Migrant:innen« ändert nichts daran, dass es um individuelle Schicksale, Tragödien, aber auch Wünsche und Träume geht. Er ändert nichts daran, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Oder sein sollte.
Die Tagesschau vom vergangenen Sonntag steht exemplarisch für einen Diskurs, der schon längst nach rechts entgleist ist. Ein Diskurs, der bestimmte Gruppen pauschal entmenschlicht, sie zur Bedrohung stilisiert, ihre bloße Anwesenheit zur Krise erklärt. Dafür, dass wir diesen Diskurs wieder in die Spur bringen, sind allerdings nicht nur die Redakteur:innen bei den Öffentlich-Rechtlichen verantwortlich – sondern wir alle.
Unser Gehirn entscheidet in Sekundenschnelle, wer Mitgefühl verdient und wer nicht. In diesem Artikel erklären Han Langeslag und Maren Urner den Sinn und Unsinn unserer empathischen Automatismen:
Droht eine neue »Flüchtlingskrise«? Falsche Frage!
Mehr als 28.000 Menschen sind nach Schätzungen der
Anstatt militärisch aufgeladene Phrasen wie die vom »Kampf gegen illegale Migration« unkommentiert zu übernehmen, sollten sie fragen: Wer sind diese Menschen, gegen die sich die EU im Kampf wähnt? Was hat sie dazu gebracht, die gefährliche (und teure!) Reise über das Massengrab Mittelmeer auf sich zu nehmen, ihre Heimat und Familien hinter sich zu lassen? Warum ausgerechnet jetzt? Welche Wege stehen ihnen offen, welche bleiben verschlossen?
Mit Blick auf das vergangene Wochenende drängen sich noch andere Fragen auf: Warum umgarnt die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die extrem rechte Politikerin Meloni, deren Partei »Fratelli d’Italia« aus den Trümmern
Ist das die Zukunft der EU? Ein Zusammenschluss nationalistisch orientierter Regierungen, die lediglich das sinnlose Ziel eint, den Rest der Welt draußen halten zu wollen, koste es, was es wolle?
Sinnlos ist dieses Ziel deshalb, weil sich Migration niemals komplett unterbinden lässt – das zeigt die Geschichte. Zweitens lassen sich auch die Gründe für Flucht und Migration nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen. Im Gegenteil: In Zeiten der Klimakrise könnte das Thema in den kommenden Jahren
Für diese Feinheiten sollten Medien sensibilisiert sein. Und so kommen wir zu noch mehr Einordnungen, die in der Tagesschau vom vergangenen Sonntag – und an vielen anderen Stellen – fehlen.
»Spielräume entdecken, die inhuman klingen«
Dass zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden sei, darauf wiesen insbesondere konservative und rechte Politiker:innen in der Vergangenheit gern hin. Doch wenn es ihnen nützt, vermischen sie selbst die Kategorien.
In Bayern stehen in Kürze Landtagswahlen an. Markus Söder nutzte also die Gunst der Stunde und verkündete, die Kommunen seien mit der Unterbringung von Flüchtlingen vollkommen überfordert. Als Untermalung dieser These folgt in der Tagesschau das Beispiel einer Gemeinde in Nordrhein-Westfalen. Gezeigt wird eine 7-köpfige Familie aus Syrien, die sich 2 Zimmer teilen muss. Es gebe Probleme bei der Unterbringung, berichtet die Integrationsbeauftragte des Ortes, die Kapazitätsgrenze sei erreicht. Kitaplätze und Wohnungen seien ohnehin schon knapp.
Die Anerkennungsquote von Asylanträgen syrischer Bürger:innen lag im Jahr 2022 bei
Söders Lösungsvorschlag für die Notlage der Kommunen: Es müsse eine klare Begrenzung für Migration geben.
Diese Debatte kann man führen, obwohl sich an anderer Stelle die drängende Frage stellt, wie Deutschland ein attraktiveres Einwanderungsland für dringend benötigte Fachkräfte sein könnte.
Die Debatte um eine Obergrenze für Geflüchtete kann man eigentlich nicht führen – denn nach Artikel 16a des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hat das
Doch die Debatte um das Recht auf Asyl ist längst in vollem Gange. So äußerte der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit dem ZDF, man müsse »Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen«. Und weiter: »Wir müssen zu einer Begrenzung kommen, auch wenn wir die besten Absichten haben.«
In Dänemark habe das funktioniert: Hier hätten »Abgrenzungsstrategien« einer sozialdemokratischen Regierung (was er wohl eigentlich meint, sind Abschottungsstrategien) dazu beigetragen, eine nationalpopulistische Partei unter 3% zu halten.
Aber was macht das für einen Unterschied, wenn die Politik am Ende dieselbe ist?
In der aktuellen Debatte um Flucht und Migration scheint es eine Art vorauseilenden Gehorsam angesichts steigender Umfragewerte der AfD zu geben. Medien wollen nicht mehr als »linksgrün versifft« gelten, Politiker:innen gemäßigter Parteien nicht den Vorwurf hören, sie würden die Augen vor der Realität verschließen.
Doch wie sieht sie aus, die Realität?
Warum der Vorwurf einer »Zuwanderung in die Sozialsysteme« nicht fair ist
Fakt ist: Derzeit kommen wieder mehr Menschen über die Mittelmeerroute nach Europa. Von Januar bis Juli 2023 stellten in Deutschland rund 190.000 Menschen einen Erst- oder Folgeantrag auf Asyl; die Zahl der Erstanträge stieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 78%. Zum Vergleich: Im Jahr 2016
Die Ukrainer:innen sind in dieser Statistik übrigens nicht erfasst. Mit dem Inkraftsetzen der sogenannten EU-Massenzustromrichtlinie erhielten sie unbürokratisch vorübergehende Aufenthaltstitel. Damit durften sie sich
Dass Deutschland ein Problem damit hat, Geflüchtete angemessen unterzubringen, Kommunen nicht wissen, was sie tun sollen, ist sicher richtig. Die Lösung kann aber nicht sein, das Recht auf Asyl einzuschränken. Die Lösung ist, sich der Situation zu stellen und für Unterkünfte zu sorgen. Dass das nicht so einfach ist, wie es sich schreibt, ist klar. Doch das Hin- und Herschieben von Verantwortlichkeiten auf den politischen Ebenen hat System. Ein bisschen ist es in der Migrations- wie in der Klimapolitik. Gern wird mit dem Finger auf andere gezeigt: Solange die sich nicht bewegen, bewege ich mich auch nicht!
Sind »die Flüchtlinge« schuld, wenn Deutschland die Krise kriegt? Diese Annahme hat Peter Dörrie schon 2017 dekonstruiert. Lies hier 5 Irrtümer über »die Flüchtlingskrise«, die im Grunde noch immer aktuell sind:
Was du tun kannst: Achte auf die Fakten und halte dagegen!
Im Journalismus geht es oft um Geschwindigkeit. Dabei bleibt die Einordnung manchmal auf der Strecke. Das wissen auch politische Akteure, die sich genau das zunutze machen. Umso wichtiger ist es, dass in Redaktionen Raum für Reflexion geschaffen wird: Welches Narrativ bedienen wir, wenn wir bestimmte Begriffe – wie den von der »Flüchtlingskrise« – andauernd wiederholen?
Welche Ideen normalisieren wir, indem wir ihnen unwidersprochen eine Plattform bieten? Wenn ständig vom »Kampf gegen illegale Migration« die Rede ist, ist es kein Wunder, wenn irgendwann auch Waffen zur Verteidigung der Grenzen zum Einsatz kommen. Waffen, die sich gegen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben oder wenigstens nach einem Leben in Sicherheit richten. Wenn in einem Interview wie dem mit Joachim Gauck gefragt wird, ob wir das Undenkbare vielleicht doch denken müssen, ist die Diskursverschiebung offensichtlich.
Die Verantwortung liegt aber nicht allein bei Medienschaffenden und »der Politik« (auch hinter dieser Floskel verbergen sich übrigens Menschen). In Gesprächen mit Freund:innen, Familie oder bei der Arbeit gilt: Es macht einen Unterschied, wie
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily