Diese 8 Bücher lesen wir im Herbst
Was gibt es Besseres, als sich an einem verregneten Tag mit einem Buch auf die Couch zu kuscheln? Mit unseren Empfehlungen geht dir der Lesestoff so schnell nicht aus.
In diesen Tagen beginnt die Frankfurter Buchmesse und in den Regalen der Buchhandlungen stapeln sich die Neuerscheinungen.
Gleichzeitig werden die Tage immer kürzer, kälter und nasser – Lesezeit! Doch welche Lektüre lohnt sich? Hier kommen unsere aktuellen Tipps, bei denen sich dieses Mal viel um das Reisen in die Vergangenheit, die Zukunft und die eigene Geschichte dreht.
»Im Takt der Natur«: Gedankenfutter und schöne Illustrationen für dunkle Herbstabende
von Désiree SchneiderIm Herbst bereitet sich die Natur auf die Winterruhe vor – mein Körper auch. Während die Tage kürzer werden und sich die Baumkronen verfärben, werde ich entspannter, mein Alltag entschleunigter und meine Gedanken schweifen: Müssen Tiere im Winterschlaf eigentlich aufs Klo? Warum erfrieren Frösche im Winterschlaf nicht? Wie lange können Tiere und Organismen überhaupt eingefroren überleben und nehmen sie
Diese spannenden Fragen (und noch viele weitere) beantwortet Helen Pilcher in ihrem Buch »Im Takt der Natur: Rhythmen und Zyklen des Lebens oder warum Koalas lange schlafen«. Die Britin arbeitete als Stammzellenforscherin, hat sich in den letzten 20 Jahren jedoch der Wissenschaftskommunikation verschrieben.
Im Buch beleuchtet die Autorin die Rolle von Zeit in der Natur. In 6 Kapiteln stellt sie verschiedene Zeitspannen vor: evolutionäre, ökologische, Lebens-, Wachstums-, Verhaltens- und biologische Zeit. Von der Entstehung der Erde vor Milliarden Jahren bis hin zu Millisekunden, die eine fleischfressende Pflanze zum Zuschnappen braucht – anhand von vielen Beispielen erklärt Helen Pilcher, wie Tiere und Organismen im Vergleich zum Menschen Zeit wahrnehmen und was das für ihre Lebenszyklen bedeutet. Pilchers Ziel ist es, Menschen für die Naturwissenschaften zu begeistern und wissenschaftliche Fakten und Erkenntnisse für alle zugänglich zu machen.
Ob sie das schafft?
Ich habe das Buch an nur wenigen Abenden durchgelesen, dabei viel gelacht, gestaunt und auch gelernt, ohne mich belehrt zu fühlen. Besonders gut gefallen hat mir die visuelle Aufbereitung der Themen: Fast jede Seite ist eine gut durchdachte und schön illustrierte Infografik, welche manchmal nur schwer greifbare Zeitspannen und komplexe Themen leicht verständlich aufarbeitet. Die perfekte Herbstlektüre für Abende, an denen meine Gedanken mit den Herbstblättern durch die Natur wehen.
Helen Pilcher: Im Takt der Natur: Rhythmen und Zyklen des Lebens oder warum Koalas lange schlafen. Aus dem Englischen übersetzt von Monika Niehaus, Coralie Wink und Martina Wiese.
»Hässlichkeit«: Welche Auswirkungen hat der Schönheitswahn?
von Maryline BoudotSie ist spät dran, läuft über die Straße, übersieht dabei ein Auto, das kurz darauf gegen ihren Körper prallt. Fremde Menschen eilen zur Hilfe, ein Rettungswagen trifft ein. Die Sanitäter:innen reißen ihr die blutverschmierte Kleidung vom Leib. Sie spürt die angewiderten Blicke – nicht wegen des vielen Blutes, sondern wegen ihres haarigen Bauchs.
Und das also ist ihr Albtraum, ihre Angst. Weil ihr ein solcher haariger Tod so viel mehr Angst macht als ein unbehaarter, sieht sie sich gezwungen, sich immerfort zu enthaaren.
Eine krumme Nase, schiefe Zähne oder eben Haare an der »falschen« Körperstelle empfinden wir als »hässlich«. Woher diese Bewertung kommt, untersucht die Künstlerin Moshtari Hilal in ihrem Buch »Hässlichkeit«.
Mit historischen Exkursionen beleuchtet Moshtari Hilal, woher der Glaube kommt, dass wir ein besseres Leben führen, wenn wir schön sind. Von der
»Hässlichkeit wäre oberflächlich, wenn es in Wahrheit nicht um Hass ginge, um den Wunsch, nicht gehasst zu werden, sich selbst nicht zu hassen.«
Diesem Bild wollen immer mehr Menschen auch in der Realität entsprechen. Dazu kommt, dass Schönheitsoperationen immer normaler werden und nicht mehr nur den Reichen und Berühmten vorbehalten sind. Hilal fragt: »Welche Auswirkungen hat es auf unser Selbstbild, erstmals in der Geschichte der Menschheit so viele schöne Gesichter zu sehen?«
Laut der Künstlerin dienen Botox, Laserbehandlungen und Co. heute nicht mehr nur einem besseren Aussehen, sondern zunehmend dem Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe.
Die Wahrheit ist, wir wollen nicht schöner sein, sondern vollkommen Mensch. Je näher wir einen Menschen an Schönheit vermuten, desto näher muss er an einer vollkommenen Erfahrung sein, die man uns vorenthält.
»Hässlichkeit« ist intim, hochpolitisch und berührend. Die Bilder und Zeichnungen der Künstlerin gewähren einen Einblick in ihre Kindheit und lassen uns den abwertenden Blick hinterfragen, mit dem wir uns und andere beurteilen.
Moshtari Hilal: Hässlichkeit. Hanser, 224 Seiten, 23 Euro.
»Systemsturz«: Nachhaltige Entwicklungsziele als Opium des Volkes?
von Benjamin FuchsDer japanische Philosoph Kohei Saito macht gerade mit einer ungewöhnlichen Idee Furore: Er entwirft einen
In Japan hat er damit einen Nerv getroffen: 500.000 Exemplare seines Buchs verkaufte der Mann, der an der Berliner Humboldt-Universität promovierte, dort bereits. Das Buch ist unerwartet leicht zu lesen, auch für Menschen, die sich noch nicht durch »Das Kapital« geackert haben.
Saito geizt nicht mit knackigen Statements. Die
Wie stellt sich Öko-Marxist Saito seinen neuen Kommunismus also stattdessen vor? Er möchte die Gemeingüter, die
Es reiche nicht, zum sozialstaatlichen Gedanken innerhalb des Kapitalismus zurückzukehren, weil dieser durch seinen Wachstumsdrang immer neue Geschäftsfelder erschließen und ausbeuten müsse. Saito schreibt, »[…] dass es letztlich um die Überwindung des Kapitalismus geht, indem der Bereich der Commons immer mehr ausgeweitet wird«.
Wer sich hier angesprochen fühlt, dem bietet Systemsturz eine starke Analyse der aktuellen Verhältnisse und eine Sammlung von konkreten Maßnahmen für eine nachhaltigere Gesellschaft, die weniger radikal sind, als man meinen könnte.
Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Übersetzt aus dem Japanischen von Gregor Wakounig. Dtv, 320 Seiten, 25 Euro.
»Tot oder lebendig«: Mit Leichtigkeit durch schwere Themen
von Felix AustenOstdeutschland, Migration, Holocaust. Sexuelle Identität, Jugoslawienkrieg, Judentum.
Egal welches gewichtige politische Thema euch in den Sinn kommt: Ihr könnt davon ausgehen, dass es in die rund 250 Seiten umspannende Geschichte »Tot oder lebendig« von Ariana Zustra eingewoben ist. Und die geht so: Die aus der ehemaligen DDR stammende Protagonistin des Romans bekommt den Hinweis, dass sie in ihrem früheren Leben ein in Dubrovnik in Kroatien lebender Jude gewesen sei. Dieser früheren Existenz geht sie auf die Spur und findet dabei Liebe, Heimat und Geschichte, von der sie in der Schule nie etwas gehört hat.
Die Prämisse klingt schwer, doch die Autorin lotet die düsteren Winkel des Menschseins und der Menschheit mit einem Witz und einer Lockerheit aus, dass man sich regelmäßig fragt: Darf ich über solche Themen echt lachen? Ja, denn hier geht es nicht effekthaschend, sondern komisch und smart zu. Es ist Ariana Zustras erster Roman, doch in vielen Jahren als Journalistin und Songwriterin hat sie gezeigt: Schreiben kann sie.
Neben den vielen menschlichen Dimensionen sind da aber auch Sternenstaub, Farne, Dinosaurier, Planeten und Elementarteilchen. Diese Zeugen für die Weite von Zeit und Raum lassen die Protagonistin immer wieder stocken und fragend zurück: Was bedeuten die Problemchen menschlicher Existenz schon in Anbetracht dieser astronomischen Skalen?
Ariana Zustra hat in der Vergangenheit als Autorin und Textberaterin für Perspective Daily gearbeitet; zudem verbindet mich eine lange Freundschaft mit ihr. Ich bin also befangen – und empfehle ihr Buch trotzdem mit bestem Wissen und Gewissen weiter. Denn wenn ein Mensch mit Talent, Herz und besonderer Biografie ein Buch schreibt, ergibt das eben ein besonderes Buch.
Ariana Zustra: Tot oder lebendig. Frankfurter Verlagsanstalt, 224 Seiten, 22 Euro.
»Natürlich kann man hier nicht leben«: Von Liebe und Freundschaft in düsteren Zeiten
von Maria StichNilay ist außer sich. Die 16-Jährige lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder in Berlin. Als 2013 die
Sprung ins Jahr 1980. Hier beginnt die eigentliche Geschichte in Özge İnans Roman »Natürlich kann man hier nicht leben«. Sie spielt sich in Izmir ab, rund um die Zeit
Selim ist in einer Schülergruppe der Kommunistischen Partei aktiv, später schreibt er unter anderem für ein Untergrund-Magazin, verkauft heimlich die verbotenen Bücher von Marx. Hülya muss mitansehen, wie zuerst ihr Vater, später auch ihr kurdischer Schwager im Gefängnis landet. Das hält sie nicht davon ab, sich dem Kampf für die Rechte von Frauen anzuschließen. Angst vor staatlicher Gewalt begleitet beide ihre ganze Jugend und das junge Erwachsenenleben hindurch.
Schließlich lernen sie sich in einer linken Hochschulgruppe kennen, verlieben sich und stehen irgendwann vor der Frage, ob sie, wie so viele ihrer Freund:innen, das Land verlassen sollen. Während sich Selim vor allem um die Zukunft ihres gemeinsamen Kindes sorgt, will Hülya ihr Leben in der Türkei auf keinen Fall aufgeben: »Natürlich kann man hier nicht leben. Aber deshalb haut man doch nicht einfach ab.«
Özge İnans Debüt ist ein historischer Roman, der sich allerdings nicht damit aufhält, die politischen Geschehnisse und deren Hintergründe detailliert zu erklären. Im Vordergrund stehen stattdessen die Menschen, ihr Erleben und das, was politische Repression mit ihnen macht. Ebenso all die positiven Gefühle – Freundschaft, Liebe, Gemeinschaft –, die sich auch in noch so
Auch mit wenig oder keinem Vorwissen zum Militärputsch in den 80er-Jahren ist İnans Roman eine lohnende Lektüre, deren Tonfall unerwartet leicht daherkommt. Am Ende ist man nur ein wenig traurig, dass sich Nilays Geschichte auf ein paar Seiten im ganzen Buch beschränkt – aber wer weiß, vielleicht gibt es ja irgendwann eine Fortsetzung.
Özge İnan: Natürlich kann man hier nicht leben. Piper Verlag, 240 Seiten, 24 Euro.
»Knochensuppe«: Wenn ein Küchenhelfer zum Zeitreisenden wird
von Dirk WalbrühlEs ist das Jahr 2064 in der südkoreanischen Küstenstadt Busan. Der junge Waise Lee Uhwan wohnt in einem Armenviertel und verrichtet jeden Tag in der beengten Küche einer Gaststätte Hilfsarbeiten. Doch er soll seine Chance bekommen: Sein Chef schickt ihn auf eine Zeitreise ins Jahr 2024, um das verschollene Rezept für Knochensuppe zu besorgen – eine koreanische Spezialität –, inklusive dazugehöriger Beinscheiben. Denn echtes Rindfleisch gibt es nicht mehr.
Bereits nach wenigen Seiten wird klar: Der
So landet also auch Lee Uhwan in der Vergangenheit, wo er jedoch lieber nach seiner eigenen Geschichte und den leiblichen Eltern sucht – und Arbeit in einer Suppenküche findet. Er trifft auf einen Jungen, der den Namen seines Vaters trägt und dazu noch in einen mysteriösen Mordfall an seiner Schule verwickelt ist. Die Hinweise verdichten sich, dass der Einfluss der Reichen aus der Zukunft sogar bis hierher reicht. Wie das ganze ausgeht, wird in diesem Roman nicht geklärt, sondern erst im zweiten Teil, der im November 2023 erscheint.
Natürlich ist »Knochensuppe« trotzdem bereits jetzt lesenswert, denn das Buch vermittelt eine sehr koreanische Perspektive, in die sich Europäer:innen erst eindenken müssen. So erfahren wir vom Stellenwert von Tradition und Familie, von der allgegenwärtigen Last der Einsamkeit und wie schwer es in einer derart geprägten Gesellschaft ist, daran zu glauben, glücklich sein zu dürfen.
Kim Young-tak: Knochensuppe. Der Mörder aus der Zukunft. Übersetzt aus dem Koreanischen von Hyuk-sook Kom und Manfred Selzer. Golkonda Verlag, 384 Seiten, 20 Euro.
»Fang den Hasen«: Ein Roadtrip durch den Balkan, Traumata und die Geschichte einer Freundschaft
von Julia TappeinerIch liebe Romane, die Beziehungen zwischen Menschen intim porträtieren, das Innenleben der Figuren psychologisch ergründen. Und ich liebe Romane, die an Orten und zu Zeiten spielen, die man aus dem Geschichtsunterricht kennt. »Fang den Hasen« von
Der Debütroman der bosnischen Autorin erzählt von 2 besten Freundinnen, Sara und Lejla, die nach dem
Ein Roadtrip durch den Balkan beginnt, der Sara zwingt, ihre verdrängte Geschichte wieder aufzurollen.
Im Fokus liegt die Freundschaft der beiden jungen Frauen und deren Heranwachsen. Sara erinnert sich daran, wie sie und Lejla heimlich Hausaufgaben tauschten, das Küssen an der Statue eines serbischen Nationalhelden übten oder darüber rätselten, was das Nasse ist, das zwischen den Beinen rauskommt, wenn man vom jungen Mathelehrer träumt.
Ich habe letztes Jahr Bosnien besucht und mit Zeitzeug:innen des Krieges gesprochen. Hier ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen einer Serbin und einem Bosniaken, die versuchen, die Volksgruppen ihres Landes wieder miteinander zu versöhnen:
Die Autorin Lana Bastašić erzählt vom Trauma ihres Landes, der Geschichte Jugoslawiens, dem Heranwachsen junger Frauen und über die Unmöglichkeit, die eigene Geschichte abzuschütteln, selbst wenn man an einem neuen Ort von vorne beginnen will.
Das alles macht sie einfühlsam wie abweisend, liebevoll und verbittert. Sie nutzt dafür eine so lebendige Bildsprache, dass man sich beim Lesen so fühlt, als würde man mit Sara und Lejla im weißen Opel Astra nach Wien fahren. Eine Reise, die ich nur empfehlen kann.
Lana Bastašić: Fang den Hasen. Übersetzt von: Rebekka Zeinzinger. S. Fischer Verlag, 336 Seiten, 22 Euro.
»Zukunft«: Eine Bedienungsanleitung für nach vorne gerichtetes Denken
von Katharina WiegmannWährend ich diese Zeilen tippe, fällt es mir mal wieder schwer, konstruktiv auf die Nachrichtenlage zu blicken. Am vergangenen Wochenende hat die AfD bei den Landtagswahlen in Bayern fast 15% der Stimmen geholt, in Hessen landete sie mit mehr als 18% der Stimmen auf dem zweiten Platz. Terroristen der Hamas haben Israel angegriffen, der Krieg in der Ukraine dauert an … Die Liste ließe sich fortsetzen.
Bei alldem muss ich mich immer wieder an 2 Dinge erinnern: Jeden Tag passiert auch viel Gutes auf der Welt. Und: Der Mensch ist ein Wesen mit der einzigartigen Fähigkeit, die Zukunft zu gestalten. Die Frage, wie wir Zukunft erschaffen, steht im Mittelpunkt des neuen Buches von Florence Gaub.
Spannend ist der Hintergrund der Autorin: Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und berät internationale Institutionen wie die NATO oder die EU anhand von Zukunftsszenarien. Wie sie das macht, davon bekommt man in ihrem Buch einen guten Eindruck. Denn ganz unvorhersehbar ist das Ganze nicht. Wir haben jede Menge Daten und Informationen aus der Vergangenheit, wissen um Kausalitäten. Werfen wir Kreativität und Vorstellungskraft in den Mix, entstehen mögliche Zukünfte – grob gesagt.
»Die Zukunft ist keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen.« – Florence Gaub
Neben der versprochenen Bedienungsanleitung im Detail enthält das Buch viele interessante Fakten aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und Philosophie. So erfährt man, warum Menschen in China optimistischer in die Zukunft schauen als hierzulande oder dass 80% unseres Zukunftsdenkens nicht über einen Tag hinausgehen.
Das ist übrigens auch deshalb so, weil sich die ferne Zukunft im Moment eher negativ darstellt. Angesichts der vielen Katastrophenmeldungen verfallen Menschen in eine Art Starre, geben die Zukunft auf, sehen sie nicht mehr als Möglichkeitsraum, so Gaub. Wie wir ihn wieder öffnen können, ist nach der Lektüre des Buches ein Stück weit klarer.
Florence Gaub: Zukunft. Eine Bedienungsanleitung. Dtv, 224 Seiten, 23 Euro.
Redaktionelle Bearbeitung: Katharina Wiegmann
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